Die Einbürgerungszahlen in Deutschland stagnieren trotz der steigenden Zahl hier lebender Ausländer*innen. Die Nachbarländer Dänemark und Österreich errichten immer unüberwindbarere Hürden auch für lange im Land lebende Zugewanderte. Der Wiener Politologe Rainer Bauböck erklärt im Interview internationale Trends im Staatsbürgerschaftsrecht angesichts weltweit zunehmender Migration und dem steigenden Einfluss von Rechtspopulist*innen.
Thomas Borchert: Das Staatsbürgerschaftsrecht macht im öffentlichen Diskurs eher selten Schlagzeilen. Woran liegt das?
Rainer Bauböck: Das war lange der Fall. Jetzt habe ich schon den Eindruck, das Thema wird zunehmend politisiert, aber eher von der rechten Seite. Ich sage noch etwas Riskantes: Auf der linken Seite sehe ich manchmal die Haltung, wir wollen mit dem Thema nichts zu tun haben, weil wir ja postnational sind. Es geht dann nicht darum, die Staatsbürgerschaft zu liberalisieren, sondern in gewisser Weise zu überwinden oder sie abzuschaffen. Denn die Linke will ja, dass die Menschen Rechte haben unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Das halte ich für einen fatalen Kurzschluss, weil diese postnationale Haltung nicht mehrheitsfähig ist und weil sie auch ignoriert, wie wichtig die Staatsbürgerschaft als Instrument für den Schutz von Rechten ist.
Die Liberalisierung des deutschen Einbürgerungsrechts durch Rotgrün 1999 gilt als erfolgreiches Modernisierungsprojekt: Jede Person, die hier zur Welt kommt, kann sofort Deutsche werden. Jetzt hat in umgekehrter Richtung die Große Koalition unter anderem den Entzug der Staatsbürgerschaft für IS-Kämpfer in Syrien und Irak ermöglicht und damit Verschärfungen durchgesetzt. In welche Richtung hat sich die deutsche Einbürgerungspolitik in den 20 Jahren dazwischen bewegt?
Es gab zwischen 1999 und 2019 durchaus ein paar kleinere Reformen. Der Kern der Reform 1999 war, dass eine Person automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft bei Geburt auf deutschem Territorium erhält, wenn ein Elternteil acht Jahre rechtmäßigen Aufenthalt gehabt hat. 2007 wurde die allgemeine Toleranz für doppelte Staatsbürgerschaften von EU-Bürger*innen eingeführt. Im Jahr 2014 gab es auch eine Reform des deutschen „ius soli“ durch Entschärfung der Optionspflicht. Das war aber kein großer Liberalisierungsschub. Jetzt kommt diese Idee, dass Staatsbürgerschaften stärker mit Sicherheitsthemen verknüpft werden und auch wieder entzogen werden können.
Wie sieht es damit international aus?
Deutschland ist nicht allein auf weiter Flur. Großbritannien ist am weitesten gegangen. Dort kann das Innenministerium Terrorverdächtigen die Staatsbürgerschaft entziehen, „wenn es dem öffentlichen Wohl förderlich ist“. Das schafft ein breites Ermessen der Exekutive, sogar in Fällen auszubürgern, wo die betroffene Person keine andere Staatsbürgerschaft besitzt.
In einigen Staaten sind Versuche gescheitert, einen Entzug der Staatsbürgerschaft für die sogenannten Foreign Fighters oder für Terrorismusverdächtige einzuführen. Das bekannteste Beispiel ist Frankreich unter Präsident François Hollande, wo die Nationalversammlung sich 2016 auf den Standpunkt gestellt hat: Staatsbürgerschaft ist ein Grundrecht, das vom Staat nicht entzogen werden kann.
Der Supreme Court in den USA hat in einer Reihe von Fällen des Entzugs der Staatsbürgerschaft in den 1960er Jahren festgestellt, dass die Bundesbehörden überhaupt nicht das Recht haben, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, weil ja die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, das heißt, von den Staatsbürger*innen insgesamt.
International gesehen ist die Tendenz zu einer Ausbürgerung aus Sicherheitsgründen in meinen Augen hochgradig problematisch, auch weil sie die Verantwortung anderen Staaten zuschiebt. Ausbürgerung kann in der Regel nur bei Doppel-Staatsbürger*innen erfolgen, weil die Staaten sich verpflichtet haben, Staatenlosigkeit zu vermeiden. Die kanadische Juristin Audrey Macklin beschreibt die Folgen so: Da gibt es dann zwei Staaten, die einen Menschen für gefährlich halten. Der Staat, der schneller ausbürgert, schiebt dem anderen Staat die Verantwortung zu.
Immer mehr Länder führen Sprach- und Wissenstests ein vor Einbürgerungen. Halten Sie das für sinnvoll und welche Erfahrungen gibt es?
Das stärkste Argument gegen Tests ist, dass sie selektiv sind auf Grund von problematischen Kriterien, weil die Fähigkeit, Tests zu bestehen ja mit Bildungsschicht und Klassenzugehörigkeit im weitesten Sinn zu tun hat. Wissenstests funktionieren ähnlich wie Einkommenstests. Sie schließen eine bestimmte Gruppe von Einwanderinnen und Einwanderern vom Zugang zur Gleichberechtigung durch Staatsbürgerschaft und damit auch zum Wahlrecht aus.
In der Vergangenheit gab es in den europäischen Demokratien auch so etwas wie ein Klassenwahlrecht, bei dem Bürgerinnen und Bürger, die keine Steuern gezahlt haben, oder auch in manchen Fällen, die keinen Schulabschluss hatten, nicht wahlberechtigt waren. Jetzt ist die Frage, führt man das indirekt wieder ein, wenn man beim Zugang zur Staatsbürgerschaft und damit auch zum Wahlrecht solche Tests verlangt?
Das Argument auf der Pro-Seite lautet, dass Tests ein Anreiz sind für Einwanderer, die Sprache zu lernen, sich das Wissen über die Verfassung anzueignen und sich auch zu den Grundwerten zu bekennen, oder sich zumindest damit auseinanderzusetzen, was die Verfassungswerte sind in diesem Land, dessen Bürgerinnen und Bürger sie werden wollen. Das Argument hat etwas für sich. Aber der Teufel liegt im Detail.
Die Frage ist, wie schwierig ist der Wissenstest, wirkt er eher exklusiv, weil die Hürde zu hoch ist? Oder wirkt er inklusiv, weil er auch für jene, die schwache Bildungsvoraussetzungen haben, noch zugänglich ist und einen Anreiz schafft? Wenn Letzteres der Fall ist, dann sehe ich eigentlich keine Einwände gegen Sprach- und Wissenstests.
Es gibt aber Länder, die die Tests eindeutig in der Absicht entwickeln, Einbürgerungszahlen zu reduzieren. Vor allem die Niederlande sind Trendsetter gewesen für Verschärfungen von Tests, die dann manchmal auch kuriose Blüten treiben. Viele Testfragen würden von den Einheimischen falsch beantwortet werden.
Ein maßgeblicher dänischer Rechtspopulist hat geschrieben: Wir brauchen zwei Einbürgerungs-Regelsätze: Einen für den zugewanderten Ziegenhirten aus Marokko und einen für den zugewanderten US-Ingenieur. Hat der Mann Grund zu Optimismus, dass daraus was wird?
Ich fürchte ja. Es gibt einen Trend, Staatsbürgerschaft für bestimmte Eliten ganz leicht zugänglich zu machen, vor allem für Investor*innen, prominente Künstler*innen oder Sportler*innen. Für diese werden Tests gestrichen, Doppel-Staatsbürgerschaft auch dort toleriert, wo sie sonst nicht erlaubt ist und manchmal sogar das Aufenthaltskriterium fallengelassen.
In Malta genügt es, wenn Investor*innen sich eine schäbige Wohnung billig mieten, ohne dort zu leben. In Deutschland sehe ich so etwas noch nicht am Horizont. Aber es gibt doch zunehmend die Einstellung, dass der Staat sich bei der Staatsbürgerschaft die Erwünschten aussuchen und die Unerwünschten fernhalten kann – durch Differenzierung der Zugangsregeln.
Da kann man auch auf die Idee kommen: Wer gebildet ist und ein Studium absolviert hat, die oder den brauchen wir nicht mit Tests schikanieren. Die Einbürgerungspolitik ist in Zusammenhang mit der Einwanderungspolitik zu sehen, die leichteren Zugang zur Aufenthaltsbewilligung verschafft für erwünschte Einwanderer. Von da ist es nicht weit zur Idee, die Einbürgerung für Universitätsabsolvent*innen, Spitzenverdiener*innen und besser Qualifizierte zu erleichtern. In negativer Weise geschieht eine solche Auslese heute schon durch Einkommenskriterien für die Einbürgerung.
Ist der gestiegene Einfluss von Rechtspopulisten bei diesem Thema sichtbar?
Ja, das würde ich vermuten. Der amerikanische Politikwissenschaftler Marc Howard hat schon 2012 festgestellt: Die Stärke der Rechtspopulisten im Parlament ist eine gute Erklärung dafür, wann und wo restriktive Reformen im Staatsbürgerschaftsrecht passieren. Es ist also interessanterweise nicht ihre Regierungsbeteiligung, sondern das Abschneiden bei den Wahlen. Was sich daraus schlussfolgern lässt, ist: Es sind auch die Zentrumsparteien, die aus Angst vor den Rechtspopulisten diese Reformagenda selbst übernehmen.