Millionen auf der Flucht

An Italian coastguard vessel prepares to dock in Lampedusa’s port.
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Die italienische Küstenwache beim Anlegen mit Flüchtlingen in Lampedusa

 

von Stefan Telöken

Heinrich Böll lebte nach seiner eigenen Einschätzung in einem „Jahrhundert der Flüchtlinge“. Das Millennium bedeutete hierbei leider keine Zeitenwende. 60 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention ist die Zahl der Menschen, die weltweit vor religiös, politisch oder ethnisch motivierter Verfolgung, vor massiven Menschenrechtsverletzungen und der allgemeinen Gewalt bewaffneter Konflikte fliehen müssen, so hoch wie seit 15 Jahren nicht mehr.

Die jüngste UNHCR-Statistik weist insgesamt 43,7 Millionen Menschen auf der Flucht aus. Sie gilt für das Jahr 2010 und kann deshalb jüngste Entwicklungen nicht berücksichtigen. Doch zur Jahresmitte 2011 ist bereits klar, dass mit den Konflikten in Libyen, Syrien und der Elfenbeinküste auch die Zahl der Flüchtlinge um viele hunderttausend Menschen weiter gestiegen ist. Besonders erschreckende Nachrichten kommen derzeit aus Somalia, wo inzwischen zwei Millionen Menschen, knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung, auf der Flucht sind. Viele der Menschen, die täglich versuchen, in Kenia oder Äthiopien Zuflucht zu suchen, sind unterernährt und erschöpft. Kinder sind besonders betroffen. Es droht mit den Worten des UN-Flüchtlingskommissars António Guterres „eine menschliche Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes“.

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Flüchtlinge in Süd Sudan (UNHCR / A. Coseac / November 2010)

Somalia ist auch ein Beispiel für die weitgehend unbekannte Tatsache, die sich seit Jahren in den UNHCR-Jahresstatistiken widerspiegelt: Die Zahl jener Menschen, die aufgrund von inneren Konflikten und Kriegen innerhalb ihres Heimatlandes faktisch zu Flüchtlingen geworden sind, übertrifft bei weitem jene Zahl der Menschen, die aus den gleichen Gründen Zuflucht außerhalb der Grenzen ihres Heimatlandes gefunden haben.

Derzeit geht UNHCR von 27,5 Millionen Binnenvertriebenen aus, der höchsten Zahl seit einem Jahrzehnt. Hinzu kommt: Vier von fünf Flüchtlingen weltweit leben in Entwicklungsländern. Dabei haben einige der ärmsten Länder der Welt eine besonders hohe Zahl von Flüchtlingen aufgenommen. „Ängste vor angeblichen Massenfluchtbewegungen in die Industrieländer sind massiv übertrieben“, so deshalb der UN-Flüchtlingskommissar.

Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen über einen immer längeren Zeitraum Flüchtlinge bleiben. Nach der jüngsten Statistik leben 7,2 Millionen Menschen unter UNHCR-Mandat länger als fünf Jahre im Exil, zum Teil bereits seit mehreren Jahrzehnten – so viele wie noch nie seit 2001.

Zentrale Problembereiche

Aus Sicht von UNHCR ergeben sich vor diesem Hintergrund eine Vielzahl von Herausforderungen. Drei große Problembereiche seien genannt:

Die erste Herausforderung betrifft nicht nur, aber vor allem die Unterstützung für Binnenvertriebene: Der „humanitäre“ Spielraum für die Arbeit von UNHCR ist deutlich geringer geworden. In den aktuellen Konflikten gibt es eine Vielzahl von Akteuren, viele von ihnen missachten systematisch die Menschenrechte, humanitäre Prinzipien und damit auch die Arbeit jener Organisationen, die sich für die Opfer von Konflikten einsetzen.

In den Konfliktgebieten heute tummeln sich neben regulären Armeen, ethnisch oder religiös orientierten Milizen, auch Aufständische und BanditInnen. Es gibt Regierungen, die humanitäre Organisationen in ihrem Land gar nicht erst zulassen oder sie des Landes verweisen. Hinzu kommt, dass viele humanitäre Einsätze in einem Umfeld angesiedelt sind, in dem keine klare Trennlinie zwischen zivilem und militärischem Einsatz vorhanden ist.  

Es gibt ‚Blauhelm-Peacekeeping’-Einsätze, wo es keinen Frieden gibt, so dass Blauhelme unweigerlich zur Kriegspartei werden. Militäreinsätze werden mitunter auch in der Selbsteinschätzung und Außendarstellung als humanitäre Arbeit betrachtet - mit der Folge, dass einige besonders zynisch und brutal auftretende Kombattantengruppen die hierdurch entstandene Verwirrung ausnützen und gezielt humanitäre HelferInnen angreifen. Damit ist die eigentliche Grundlage humanitärer Arbeit in Frage gestellt. 

Eine weitere, zentrale Herausforderung: Nicht nur die humanitäre Arbeit zugunsten von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, sondern auch die Institution des Asyls hat in den letzten Jahren weltweit gelitten. UNHCR spricht von einer Zunahme „dysfunktionaler Asylsysteme“. Mit anderen Worten: Vielen Systemen mangelt es, wenngleich vielleicht zumindest noch auf Papier vorhanden, in der Praxis an ausreichenden Verfahrens- und Schutzstandards, zudem werden aber auch Essentials des internationalen Flüchtlingsrechts in Frage gestellt.

Zunehmend wird Asylsuchenden der Zugang zum Asylverfahren überhaupt verweigert, selbst das Kernstück der Genfer Flüchtlingskonvention, das so genannte ‚Non-refoulement’-Gebot wird missachtet, also das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung von Flüchtlingen über die Grenzen von Gebieten, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer ethnischen, religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Meinung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder Staatsangehörigkeit bedroht sein würde. 

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Zuflucht aus Libyen in Ägypten (UNHCR / P. Moore)

Die Genfer Flüchtlingskonvention

Aber auch diejenigen Schutzsuchenden, die es in ein Asylverfahren schaffen, haben viele Hürden zu überwinden, ehe ihr Schutzgesuch anerkannt wird. Über 140 Staaten haben weltweit die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert. Das heißt jedoch leider nicht, dass sie sich immer entsprechend der hieraus resultierenden Verpflichtungen verhalten. Oftmals hört man in diesem Zusammenhang den Einwand, die Konvention mit ihrer Flüchtlingsdefinition greife nur für einen sehr kleinen Teil der Flüchtlinge weltweit.

Dass die Konvention Lücken hat, zum Beispiel nichts über die Ausgestaltung eines Asylverfahrens aussagt, kann nicht bestritten werden. Und gewiss hätte man es im Sinne des weltweiten, internationalen Flüchtlingsschutzes einfacher, wenn sich die Flüchtlingsdefinition ausdrücklich auch auf Gewaltopfer bezieht, also auf Menschen, die vor inneren Konflikten und Aufruhr außerhalb ihres Heimatlandes Schutz suchen. In Afrika und Lateinamerika wurde die Flüchtlingsdefinition entsprechend formal von den Staaten in eigenen regionalen Rechtsdokumenten erweitert.

Dennoch gilt, dass die Konvention - flexibel angewandt, so wie es deren Präambel verspricht -, auf die meisten gegenwärtigen Situationen von Flucht und Vertreibung durchaus Anwendung finden kann. Denn in den meisten Konflikten sind massive Menschenrechtsverletzungen zu beklagen, die durchaus die „negative Qualität“ von religiös, politisch, ethnisch motivierter Verfolgung erreichen. Dies gilt gewiss für all die Konflikte in dem großen „Krisenbogen“, der sich von Südwestasien über den Mittleren und Nahen Osten, neuerdings auch Nordafrika, bis hin zu dem Gebiet der Großen Seen in Zentralafrika erstreckt, und auf dessen Gebiet zwei Drittel aller Flüchtlinge weltweit und drei Viertel der rund 14,7 Millionen Binnenvertriebenen leben, die von UNHCR unterstützt werden. 

Will man dem Geist und Wortlaut der Konvention entsprechen, braucht es also eine liberale, generöse Interpretation, aber gewiss auch eine Auslegung, die über Staaten hinweg Konsistenz bei der Beantwortung der Frage aufweist, wer ein Flüchtling ist, wer schutzbedürftig ist.

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UNHCR Transit Camp für Flüchtlinge aus Tunesien (UNHCR / A. Duclos)

Drei mögliche Lösungswege für die Ansiedlung von Flüchtlingen

Eng verbunden mit der Frage des Asyls, also dem Kerngedanken des Flüchtlingsschutzes, ist auch die Frage, welche dauerhaften Lösungen es für die Probleme von Flüchtlingen gibt. International festgeschrieben, wie auch im Statut von UNHCR, sind die drei Alternativen freiwillige Rückkehr ins Heimatland, Integration im Erstasylland oder das so genannte ‚Resettlement’, also die Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Erstzufluchtsländern in Drittländer. 

Friewillige Rückkehr

Insgesamt ist die aktuelle Bestandsaufnahme in diesem Punkt nicht allzu erfreulich. Im letzten Jahr konnten nur knapp 200.000 Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückkehren. Dies ist die niedrigste Zahl seit 1990. Ein Hauptgrund für den Rückgang: Die zum Teil dramatisch verschlechterte bzw. wenig veränderte Sicherheitslage in Staaten wie Afghanistan, Süd-Sudan oder im Osten der Demokratischen Republik Kongo.

Integration im Erstasylstaat

Auch die lokale Integration in Erstasylstaaten gelingt derzeit nur in Ausnahmefällen. Dies aber ist eine düstere Nachricht für jene Flüchtlinge, die seit Jahren ohne Aussicht auf ein Ende des Flüchtlingsdaseins zumeist in Lagern oder eigenen Siedlungen untergebracht sind.

„Die Welt lässt diese Menschen im Stich und zwingt sie, die Instabilität in ihrer Heimat auszusitzen. Das Leben der Betroffenen endet für unbestimmte Zeit in einer Warteschleife“, so Guterres. Viele dieser Flüchtlinge können weder vor noch zurück, sie sitzen praktisch in einer Falle. Sie können nicht nach Hause gehen, weil sich ihre Herkunftsländer im Krieg befinden oder von schweren Menschenrechtsverletzungen erschüttert sind, zum Beispiel Afghanistan, Irak, Myanmar, Somalia oder der Sudan. Lokale Integration bleibt ihnen allgemein versperrt.

Resettlement

Und die dritte Alternative, das so genannte ‚Resettlement’, also die Neuansiedlung in einem Drittland, kommt nur für wenige Flüchtlinge in Erstzufluchtsländern überhaupt in Frage. Es ist deshalb das erklärte Ziel von UNHCR, die Kapazitäten im weltweiten ‚Resettlement’ zu erhöhen. Der Bedarf ist weitaus höher als die bislang zur Verfügung gestellten Plätze. Derzeit stehen UNHCR weltweit deutlich unter 80.000 Aufnahmeplätze zur Verfügung. Die Gesamtzahl jener Flüchtlinge, die in Erstzufluchtsländern auf einen Aufnahmeplatz in einem Drittland warten, ist jedoch fast zehnmal so hoch.

Der Anteil europäischer Staaten am weltweiten ‚Resettlement’ von Flüchtlingen in Zusammenarbeit mit UNHCR ist dabei gering. Lediglich 4.700 Flüchtlinge fanden auf diesem Wege im letzten Jahr dauerhafte Aufnahme in der EU. UNHCR ist der Auffassung, dass die 27 EU-Mitgliedstaaten in der Lage sein sollten, ein ‚Resettlement’-Programm in der Größenordnung der USA auf die Beine zu stellen. Im letzten Jahr wurden dort 54.000 Flüchtlinge aus einem Erstzufluchtsland aufgenommen.

Nach unserer Auffassung besteht hier bei den EU-Staaten also dringender Handlungsbedarf. Lediglich 6,5 Prozent der ohnehin geringen Gesamtzahl der weltweit zur Verfügung stehenden ‚Resettlement’-Plätze zur Verfügung zu stellen – das ist einfach zu wenig für die Europäische Union. So ist sie zum Beispiel aktuell und akut gefordert, dem dringenden UNHCR-Appell zur Aufnahme von rund 8.000 Flüchtlingen aus Sub-Sahara-Staaten zu folgen. Diese Menschen harrten vor dem Ausbruch der Kämpfe in Libyen als Flüchtlinge und Asylsuchende aus und sind nun in den Nachbarländern gestrandet. UNHCR benötigt dringend Angebote für Aufnahmeplätze, um diese Schutzbedürftigen aus ihrer Notlage zu befreien. Europa hat in den letzten Jahrzehnten gerade in der Weiterentwicklung des Flüchtlingsschutzes – im Guten wie im weniger Guten – eine wichtige, oftmals ausschlaggebende Rolle für Grundlagen und Standards des internationalen Flüchtlingsschutzes gespielt.  

Notwendigkeit der EU-Harmonisierung

Deshalb spielt das Thema EU-Asylharmonisierung auch eine wichtige Rolle in der Arbeit von UNHCR. Nach dem so genannten Stockholmer Programm soll bis Ende 2012 ein EU-weites Asylsystem stehen, so haben es die Mitgliedstaaten verabredet, zuletzt erneut die EU-Regierungs- und -Staatschefs bei ihrem Gipfel in Brüssel. In den letzten Jahren wurde ein Bündel von Richtlinien im Bereich des Asyl- und Flüchtlingsschutzes auf den Weg gebracht. Viele Bestimmungen, das war von Anfang an klar, sind jedoch dringend verbesserungswürdig, zumal im Sinne des Flüchtlingsschutzes. Das Vorschlagsrecht im Rücken, hat die EU-Kommission deshalb in den letzten drei Jahren ein Asylpaket geschnürt, dessen Inhalt dazu dienen soll, Missstände und Lücken sowohl bei den rechtlichen Vorgaben als auch bei deren Umsetzung in den Mitgliedstaaten zu beseitigen, zumindest deren Auswirkungen zu mildern.

Der Flüchtlingsschutz in der EU ist oft mit einem Lotteriespiel verglichen worden, bei dem Schutzbedürftige von Land zu Land völlig unterschiedliche Erfolgschancen haben. Statt Harmonisierung ist die Praxis immer weiter auseinandergedriftet. So schwankte die Schutzquote für SomalierInnen innerhalb der EU im letzten Jahr zwischen 33 und 93 Prozent. Frappante Unterschiede ergaben sich auch bei der Anerkennung der Schutzbedürftigkeit für irakische Asylsuchende –  sie variierte innerhalb der EU von 14 bis 79 Prozent, bei AfghanInnen sogar von 0 bis 91 Prozent. Ebenso sind himmelweite Unterschiede bei der sozialen Behandlung von Asylsuchenden festzustellen. Geordnete Aufnahmesysteme hier, ein Leben auf der Straße dort – in der EU lassen sich hierzu viele Beispiele finden.

Dieser Zustand ist unhaltbar und hat folgerichtig in diesem Jahr zu einem höchstrichterlichen Paukenschlag geführt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschied am 21. Januar, dass Belgien einen Asylbewerber aus Afghanistan nicht nach Griechenland zur Durchführung seines Asylverfahrens hätte rücküberstellen dürfen. Begründung: Aufgrund der dortigen Haft- und Lebensbedingungen für den Beschwerdeführer sei Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt worden, also das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Zudem sahen die Richter einen Verstoß gegen Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention, da der Betroffene keinen wirksamen Rechtsschutz gegen seine Rücküberstellung habe geltend machen können und in Griechenland kein effektives Asylverfahren gewährleistet sei.

Dieses Urteil verdeutlicht zweierlei: Der Flüchtlingsschutz im 21. Jahrhundert ist gerade auch hier in Europa mittlerweile mit dem individuellen Menschenrechtsschutz eine symbiotische Verknüpfung eingegangen. Dies wiederum bedeutet für die Harmonisierungsbestrebungen der EU-Staaten auf dem Gebiet der Asyl- und Flüchtlingspolitik: Nicht länger kann man ignorieren, wie der auf Papier erhobene Anspruch eines EU-weiten Asylsystems, das vorgeblich gleiche Chancen, Rechte und Pflichten für die betroffenen Schutzsuchenden bietet, mancherorts durch die bittere Realität konterkariert wird.

Mancherorts, auch hier in Deutschland, stoßen die Vorschläge der EU-Kommission, die sie jüngst noch einmal in modifizierter Form vorgelegt hat, auf verbreitete Skepsis. Zu viel auf einmal und vor allem zu kostenträchtig, so die gängigen Argumente. Doch gerade Länder wie Deutschland mit einem im EU-Vergleich soliden Asylsystem plus relativ hoher Schutzquote sollten ein Interesse daran haben, für eine europaweite Verbesserung des Flüchtlingsschutzes und damit Klarheit bei den Betroffenen zu sorgen. Dies zahlt sich letzten Endes für alle Seiten aus.

Letztes Jahr wurden in der EU insgesamt 236.000 Asylanträge gestellt, 11.000 weniger als im Jahr zuvor. Die Zahlen sind seit Jahren auf einem unvergleichlich niedrigeren Niveau als noch zu Beginn der 90er Jahre. Auch der arabische Frühling und der Aufbruch in Nordafrika hat nicht dazu geführt, dass die Asylbewerberzahlen in diesem Jahr dramatisch gestiegen sind. Die EU ist nicht überfordert, wenn sie ihren Anspruch endlich umsetzt, ein Asylkontinent zu sein, dessen Schutzsystem auf Qualität und Solidarität beruht.

Notwendige nächste Schritte

In einigen zentralen Punkten sind möglichst rasch Veränderungen nötig, um für den Flüchtlingsschutz Fortschritte zu erzielen. Aus UNHCR-Sicht gibt es hier vor allem Reformbedarf bei dem so genannten Dublin-II-Übereinkommen, das klärt, welches Land die Prüfung eines Asylantrages zu übernehmen hat. Der Fall Griechenland hat überdeutlich werden lassen, dass die Grundprämisse des Dublin-Systems in Wirklichkeit eine Schimäre ist. Notwendig bleibt es deshalb, den Rechtsschutz gegen eine Rücküberstellung innerhalb des Dublin-Systems zu verstärken.

Dringend erforderlich ist es auch, verbindliche EU-weite Vorschriften zu erlassen, die eine willkürliche und unbegrenzte Inhaftierung von Asylsuchenden verhindern. Es braucht Standards für eine gerichtliche Überprüfung der Haft sowie zumutbare Bedingungen der Unterbringung. Vor allem dürfen Kinder und andere besonders schutzbedürftige Gruppen nicht willkürlichem Arrest ausgesetzt sein.

Bei den Asylverfahren ist es EU-weit immer noch nicht gewährleistet, Schutzsuchenden die Möglichkeit zu geben, in einer persönlichen Anhörung Fluchtgründe vorzutragen. Zudem ist nicht sichergestellt, dass die Betroffenen im Falle einer Berufung gegen eine negative Entscheidung auch im Land bleiben dürfen. Wie notwendig eine solch aufschiebende Wirkung im Sinne des Flüchtlingsschutzes ist, beweist die Statistik. Einer von fünf Flüchtlingen erhält seinen Schutzstatus in der EU erst im Berufungsverfahren.

Schließlich ist für UNHCR die rechtliche Gleichstellung so genannter subsidiär Geschützter, also zum Beispiel Bürgerkriegsflüchtlinge mit Konventionsflüchtlingen, ein vorrangiges Anliegen, gerade auch hier für Deutschland. In ihrem Heimatland waren Angehörige beider Gruppen ähnlich schwerwiegenden und anhaltenden Bedrohungen ausgesetzt. Dass ihnen im Zufluchtsland unterschiedliche Rechte eingeräumt werden, erscheint vor diesem Hintergrund nicht stichhaltig und darüber hinaus ungerecht. Beim Zugang zum Arbeitsmarkt, bei Integrationsmaßnahmen und der Familienzusammenführung sollten sie die gleichen Rechtsansprüche geltend machen können.

Wer angesichts dieser Vorschläge in Deutschland die Grundfeste des nationalen Asylsystems gefährdet sieht, bedient einen Popanz. Statt im Hauptfeld zu bremsen, gehört ein Land wie Deutschland mit seinem fundierten Asylsystem und seiner engagierten Zivilgesellschaft an die Spitze des Pelotons, wenn es darum geht, den Berg hin zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem zu überwinden. Dieses System muss auf hohen Standards beruhen und Zufluchtssuchenden die Möglichkeit eröffnen, nicht nur ein Schutzgesuch zu stellen, sondern auch garantieren, dieses fair und effizient zu prüfen.

60 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention hat die Wertegemeinschaft der Europäischen Union die Möglichkeit, den Flüchtlingsschutz für die Zukunft weiterzuentwickeln. Die Festung Europa kann dabei nicht Vorbild sein. Um im Bild zu bleiben: Es ist Zeit, die Zugbrücken herunterzulassen.

 

Stefan Telöken ist Pressesprecher der UNHCR-Vertretung für Deutschland und Österreich.