Der religionspolitische Kompromiss in Nordrhein-Westfalen

"Ich will klar und deutlich sagen: Ich will das nicht", die CDU werde sich "massiv für Islamkunde-Unterricht ein[setzen], nicht aber für den bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht", so der Fraktionsvorsitzende der hessischen CDU Christean Wagner bei einer Veranstaltung zur Bildungspolitik im Jahr 2011 (1).  Diese Aussage des hessischen CDU-Politikers, für einen vom Staat verantworteten Islamunterricht und gegen einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht, wie ihn etwa christliche Schüler_innen genießen, steht einerseits in deutlichem Widerspruch zum Grundgetz, andererseits drückt es wohl die Sorgen aus, die auch der Berliner Schulsenator Klaus Böger vor bereits zehn Jahren erstaunlich offen formulierte:

„Ich glaube, dass die Frage Islam/Islamunterricht zugleich, das spürt man als Politiker, große Ängste und Besorgnisse in unserer Bevölkerung aktiviert. Das spürt man insbesondere, wenn man zu Diskussionen in Stadtquartieren in Berlin unterwegs ist. Da gibt es – ich sage das zugespitzt – die Sorge, dass sich über den Islam, über Menschen islamischen Glaubens in Deutschland, die dann auch noch in die Schule kommen, die Art und Weise unserer Kultur, die ja durch und durch abendländisch geprägt ist, gewissermaßen schleichend verändert […].“ (2) 

Der Islam wird hier als etwas Fremdes empfunden, als etwas dass die deutsche Kultur schleichend verändert. Es verwundert deshalb nicht, wenn Politiker_innen viele Jahre lang versucht haben, die Anträge von muslimischen Organisationen auf Einführung des Islamischen Religionsunterrichts (IRU), zu blockieren (Azzaoui, 2011)

Ein Meilenstein
Vor diesem Hintergrund ist es wohl nicht übertrieben, wenn man die am 21. Dezember 2011 im Landtag von Nordrhein-Westfalen verabschiedete Schulgesetzänderung, mit den Stimmen der Fraktionen SPD, CDU und Bündnis90/Die Grünen als einen Meilenstein zu bezeichnen (Landtag NRW, 2012a), der nach zwanzig Jahren der Diskussion endlich den Weg zur Einführung des Islamischen Religionsunterrichts frei macht. Das Gesetz basiert auf einem politischen Kompromiss, der im Februar 2011 zwischen der Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) und dem Koordinationsrat der Muslime (KRM) geschlossen wurde (3).  Der Kompromiss kann auf folgende Formel gebracht werden: das Land Nordrhein-Westfalen arbeitet mit dem KRM bzw. seinen Mitgliedsverbänden beim IRU, wie mit einer Religionsgemeinschaft zusammen, obwohl diese noch nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt wurden (4).  Bei dem in Nordrhein-Westfalen geplanten Religionsunterricht, der voraussichtlich ab dem Schuljahr 2012/13 eingeführt werden soll, werden - anders als mit den christlichen Kirchen üblich – die religiösen Inhalte des Unterrichts nicht mit dem KRM, direkt abgestimmt, sondern von einem achtköpfigen Beirat vorgegeben.

Der Beirat besteht aus vier theologisch, religionspädagogisch oder islamwissenschaftlich qualifizierten Vertreter_innen der „organisierten Muslime, die von den islamischen Organisationen in Nordrhein-Westfalen oder von deren Zusammenschluss bestimmt werden" (Landtag NRW, 2012a). Mit Blick auf diese Organisationen heißt es in der Gesetzesbegründung:

„Eine mit dem Beiratsmodell angestrebte möglichst umfassende Einbeziehung der Muslime kann allerdings derzeit in Nordrhein-Westfalen nur über den Zusammenschluss der islamischen Verbände, den Koordinationsrat der Muslime (KRM), erreicht werden. Bei den in ihm zusammengeschlossenen Verbänden (IRD, ZMD, DITIB und VIKZ) handelt es sich um die größten Vereinigungen des organisierten Islams in Nordrhein-Westfalen. Sie sehen sich selbst als Religionsgemeinschaften an.“ (Landtag NRW, 2011b: 6)

Zwar erkennt die Landesregierung damit das Selbstverständnis der muslimischen Verbände als Religionsgemeinschaften nicht vollständig an, anerkannt wird jedoch, dass die organisierten Muslim_innen am umfassendsten über den KRM einbezogen werden können und die Basis der muslimischen Religionsgemeinschaft(en) die Moscheen sind.

Die weiteren vier entsprechend qualifizierten Vertreter_innen des Beirats werden vom Ministerium in „Einvernehmen“ mit dem KRM benannt. Die Aufgabe des Beirats ist es dafür Sorge zu tragen, dass die im Unterricht vermittelten Inhalte mit dem Selbstverständnis der Muslim_innen übereinstimmen und somit verhindern, dass der Staat sein Islam-Verständnis für den Unterricht durchsetzt. Zudem wird der Beirat – wie die Vocatio und Missio Canonica im christlichen Kontext – für die Erteilung von Lehrerlaubnissen zuständig sein.

Der KRM übernimmt damit faktisch die Aufgaben einer Religionsgemeinschaft, auch wenn dies formaljuristisch durch den Umweg über den Beirat erfolgt. Dies kann als ein klares Bekenntnis der nordrhein-westfälischen Landesregierung zur Zusammenarbeit mit den im KRM zusammengeschlossenen Moscheeverbänden gewertet werden. Damit verbunden ist eine Teil-Anerkennung für den organisierten Islam in Nordrhein-Westfalen (Dernbach, 2011).

Der religionspolitische Kompromiss baut auf einer in der Deutschen Islamkonferenz erarbeiteten Übergangslösung auf. Im Rahmen einer sog. „Positivliste“ ist man nicht nur der Frage nachgegangen, unter welchen Voraussetzungen der Religionsunterricht eingeführt werden muss – im Sinne eines gerichtlich durchsetzbaren Anspruchs – sondern auch, unter welchen Voraussetzungen er eingeführt werden kann, indem rechtliche Spielräume ausgeleuchtet und genutzt werden (Deutsche Islam Konferenz 2009: 53-54).

Im Prinzip besagt die Übergangslösung, dass man bei der Einführung von islamischem Religionsunterricht mit Organisationen zusammen arbeiten kann, die in dem betreffenden Bundesland breit – über Moscheen – vertreten sind, ohne damit automatisch diese Organisationen als Religionsgemeinschaften anzuerkennen, da „die Qualifikation (…) als Religionsgemeinschaft noch nicht endgültig feststeht“ und gleichzeitig wird die Erwartung formuliert, dass nach einer bestimmten Zeit, die Organisation(en) „alle Merkmale einer Religionsgemeinschaft unzweifelhaft“ erfüllen sollten. (Deutsche Islamkonferenz 2009: 63). (5) 

In Anlehnung an diese Übergangslösung wurde die jetzt in NRW verabschiedete Schulgesetzänderung bis Mitte 2019 befristet. Bis dahin sollen im Rahmen eines institutionalisierten Dialogs zwischen dem KRM und der Staatskanzlei in NRW Gespräche geführt werden, um das Ziel einer vollen Gleichstellung muslimischer Gemeinschaften zu erreichen. Dabei sollten nach Angaben von Beobachter_innen bis spätestens Ende 2017 die zentralen Hürden, wie die Beobachtung bestimmter Organisationen durch den Verfassungsschutz und die Frage nach dem  Einfluss ausländischer Regierungen auf muslimische Organisationen in Deutschland, aus dem Weg geräumt werden. (Azzaoui, 2011: 265-271) (Schiffauer, 2010) (Rosenow, 2010). Wenn dies erreicht worden ist, dann könnte dies im Bericht der Landesregierung, den das Parlament bis Mitte 2018 erwartet, berücksichtigt und die Übergangslösung somit hinfällig werden.

Bedenken muslimischer Verbände
Nachdem die im KRM organisierten muslimischen Verbände in der Deutschen Islamkonferenz noch die Übergangslösung abgelehnt hatten, hat man sich im Februar 2011, nach mehreren Gesprächen mit Schulministerin Sylvia Löhrmann, dazu durchgerungen diesen Weg mit zu beschreiten. Die KRM-Mitglieder hätten sich eine direkte Anerkennung als Religionsgemeinschaft(en) gewünscht und sehen zudem die Gefahr, dass mit dieser Sonderregelung im Schulgesetz ein „Zwei-Klassen-Religionsverfassungsrecht“ etabliert wird und somit ihr derzeitiger Status als einfache eingetragene Vereine zementiert wird (Koordinationsrat 2011).

Die Einwände seitens der muslimischen Verbände haben Gewicht, doch mit Blick auf die negative gesellschaftliche Stimmung gegenüber dem Islam – insbesondere gegenüber dem organisierten Islam – war derzeit politisch wohl nicht mehr durchzusetzen. Hinzu kommt, dass es sehr starke religionskritische Stimmen in der nordrhein-westfälischen SPD-Landtagsfraktion gibt, die sich grundsätzlich schwer damit tun, Religionsunterricht für muslimische Kinder überhaupt einzurichten, und stattdessen einen religionskundlichen Unterricht in staatlicher Verantwortung bevorzugt haben (Islamkunde). Mit der CDU-Fraktion als Oppositionspartei konnten die Grünen bei diesem Thema besser zusammen arbeiten, als mit ihrem Koalitionspartner, der SPD.

Die Gefahr einer Zementierung eines Sonder-Religionsverfassungsrechts für Muslim_innen ist meiner Meinung nach nicht gegeben, da der KRM nicht zwingend an die Kooperation mit dem Schulministerium gebunden ist. Man kann, falls sich die Übergangslösung in die falsche Richtung entwickelt, durchaus die Kooperation aufkündigen und auf der Grundlage von Artikel 7.3 Grundgesetz, das dem einfachen Gesetz übergeordnet ist, seine Rechte vor Gericht einklagen.

Legitimation des KRM
Trotz der Bedenken auf muslimischer Seite, ist die Schulgesetzänderung eine erste politische Anerkennung für den KRM, seinen Mitgliedsorganisationen und den in ihnen organisierten Moscheen. Damit wird vor allem auch die Grundlage für eine Arbeitsbeziehung zwischen der Landesregierung und dem KRM gelegt, die zum Abbau von Misstrauen zwischen Politik, Ministerialbürokratie und muslimischen Verbandsvertreter_innen beitragen kann.

Die Bedeutung und Legitimitation des KRM erschließt sich, wenn man sich der Frage nähert, was im muslimischen Kontext unter Religionsgemeinschaft zu verstehen ist. Nach deutschem Verständnis dieses Begriffs, kommen die Moscheen auf lokaler Ebene diesem am nächsten: In ihnen versammeln sich die Gemeindemitglieder und dort haben sie die Möglichkeit, ihren Glauben zu praktizieren. Dazu gehören tägliche Gemeinschaftsgebete, Freitagsgebete, Festgebete an Feiertagen, besondere Gottesdienste im Fastenmonat Ramadan, Religionsunterricht, Jugendarbeit, Eheschließungen, Seelsorge, Dialog- und Informationsveranstaltungen, Wohltätigkeitsprojekte und Unterstützung bei Bestattungen. (6)

Die Moscheen als Herzstück kollektiver muslimischer Religionsausübung
In Deutschland findet sich keine andere Form der religiösen Selbstorganisation von Muslim_innen, welche sowohl in der Qualität als auch in der Quantität mit den Moscheen vergleichbar wäre. Bis zu 70 Prozent der 3,8 bis 4,3 Millionen Muslim_innen in Deutschland besuchen religiöse Veranstaltungen und die Mitgliedschaft in muslimisch-religiösen Vereinigungen liegt bei etwa 20 Prozent (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2009: 248). (7)

Die Moscheen sind das Herzstück der kollektiven muslimischen Religionsausübung in Deutschland. Der KRM repräsentiert etwa 80 Prozent der 2.500 Moscheen in Deutschland und etwa einen gleich großen Anteil an den Moscheen in Nordrhein-Westfalen (Chbib, 2011: 104-107). Da in NRW alle vier Mitgliedsverbände des Koordinationsrat der Muslime ihren Hauptsitz haben und es in NRW auch keine anderen Verbände mit einer nennenswerten Zahl von Moscheen gibt, war es folgerichtig, dass die Schulministerin Sylvia Löhrmann den KRM in NRW zum Ansprechpartner der Landesregierung gemacht hat.

Versuche der Delegitimation des organisierten Islam
Versuche, wie sie etwa bei der Deutschen Islamkonferenz deutlich zu beobachten waren, den organisierten Islam in Deutschland zu delegitimieren, indem man säkulare, laizistische und verbandskritische Muslime einbezieht und gegen vermeintlich konservative Muslime aus den Moscheen und Verbänden zu organisieren, sind unangemessen (Azzaoui, 2011). Es ist grundgesetzwidrig zu versuchen einen „Staatsislam“ zu etablieren: „Dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat (…) bleibt nichts anderes übrig als mit den islamischen Verbänden zusammenzuarbeiten, die die Gesellschaft hervorbringt. Sich einem ihm besonders genehmen Partner schaffen darf er nicht.“ (Heinig 2010)

Wen man sich von den angeblich Konservativen in den Verbänden nicht vertreten fühlt, sollte man sich selbst organisieren und kann auch dann nur auf Gehör bei den Landesregierungen bestehen, wenn man ein religiöses Gemeindeleben entwickelt und eine substantielle Größe erreicht hat. Es ist nicht die Aufgabe des Staates den innermuslimischen Pluralismus zu organisieren, indem man etwa liberalen Kleinstgruppen Sonderrechte einräumt (Azzaoui, 2012: 56-57).

Post-Islamkonferenz-Ära
Mit dem nordrhein-westfälischen Gesetz zum Islamischen Religionsunterricht wird eine „Post-Islamkonferenz-Ära“ eingeläutet. Der in Moscheeverbänden organisierte Islam erhält das Heft des Handelns zurück. Andere Bundesländer werden hinter dieses Modell nicht zurückgehen können, etwa indem sie nach dem Vorbild der Deutschen Islamkonferenz auf der Länderebene Gremien installieren, welche gegen den Willen, der in den Moscheen organisierten Muslim_innen die religiösen Inhalte bestimmen. Der KRM hat jetzt die Möglichkeit, quasi wie eine Religionsgemeinschaft die Entwicklung des Religionsunterrichts mitzubestimmen. Dies ist eine Anerkennung und gleichzeitig eine Verpflichtung. Der KRM somit bekommt die Chance, zu beweisen, dass er als kompetenter und verlässlicher Partner dieser Aufgabe gerecht werden kann. Gelingt ihm dies, ebnet er damit sich und seinen Mitgliedsverbänden den Weg zu einer vollen Anerkennung als Religionsgemeinschaft(en). Sollte der KRM hingegen nicht konstruktiv an der Entwicklung des Religionsunterrichts in Nordrhein-Westfalen mitarbeiten, wird dies zu einem großen Vertrauensverlust in der Politik und an der muslimischen Basis führen. Zudem würden damit Kritiker_innen des organisierten Islams und die Befürworter_innen einer strikteren Trennung zwischen Staat und Religion einen deutlichen Aufwind bekommen.

Fehlende innermuslimische Debatten
Die Debatte über die Anerkennung als Religionsgemeinschaft(en) sowie Fragen über die Entwicklung muslimischer Strukturen in Deutschland, sind bisher weitgehend Diskussionen in den Spitzengremien der Verbände und durch wenig Transparenz gekennzeichnet. Gespräche finden in – von Männern dominierten – geschlossenen Gremiensitzungen und auf halböffentlichen Klausurtagungen statt. Dies ist nicht befriedigend, da die religionspolitischen Diskussionen und Entscheidungen richtungsweisend sind für die Strukturen muslimischer Gemeinschaften und deshalb einer öffentlichen Debatte bedürfen. Es geht dabei um grundsätzliche Fragen, die einer vertieften Diskussion bedürfen. So ist beispielsweise zu überlegen, ob es überhaupt nötig und sinnvoll ist über die Anerkennung als Religionsgemeinschaft hinaus auch den Körperschaftsstatus zu beantragen.

Der Islam kennt ursprünglich keine Einzelmitgliedschaft und hierarchische Strukturen. Moscheen können von jedem besucht werden. Mit der Vereinsstruktur haben sich die Muslim_innen in Deutschland nun in Richtung körperschaftlicher Form – z.B. durch die Vereinsmitgliedschaft – entwickelt. Sollte die Einführung des Islamischen Religionsunterrichts erfolgreich verlaufen und es zeitnah auch zu einer formalen Anerkennung von islamischen Religionsgemeinschaften kommen, stellt sich die Frage, ob muslimische Religionsgemeinschaften auch die zweite Stufe der Anerkennung – den Status Körperschaft des öffentlichen Rechts – anstreben sollten. Bisher sind nur eine kleine Minderheit der Moscheebesucher_innen auch Vereinsmitglieder, die meisten verstehen sich als Gemeindemitglieder ohne formale Zugehörigkeit. Mit dem Körperschaftsstatus würden sich die Moscheen und ihre Verbände noch stärker in Richtung einer körperschaftlichen Organisationsform entwickeln, indem man z.B. versuchen würde, auch die Gemeindemitglieder stärker formal an die Organisationen zu binden. Es ist davon auszugehen, dass dadurch auch die hierarchischen Strukturen zunehmen werden. Ob das jedoch wirklich sinnvoll wäre ist fraglich und bedarf der Diskussion.

Die Körperschaftsstruktur könnte zum Verlust bisheriger Handlungsfreiräume führen
Nicht zuletzt durch die Debatte, die von der Freiburger Rede des Papstes und seinen Aufruf zur „Entweltlichung“ der Kirche angestoßen wurde, sollte man innermuslimisch hinterfragen, ob Muslim_innen alle Möglichkeiten des Religionsverfassungsrechts ausschöpfen sollten oder ob möglicherweise der Verzicht auf bestimmte Privilegien durchaus hilfreich sein könnte, um die eigene Dynamik zu wahren.

Daniel Bogner hat im Zusammenhang mit der Papst-Rede mit Blick auf die katholische Kirche auf wichtige Aspekte hingewiesen, die auch für die innermuslimische Debatte von Bedeutung sein können (Bogner, 2011). So könne nach Bogner, der Körperschaftsstatus etwa dazu führen, dass die gewachsenen Strukturen unter eine amtliche „Käseglocke“ kommen und die „notwendige Frischluftzufuhr“ verhindert wird. Die Weiterentwicklung von zeitgemäßen Strukturen könnte damit erschwert werden. Ein anderer Aspekt verweist darauf, dass durch die staatlich anerkannte Körperschaftsstruktur „(…) die eigene Handlungsfreiheit eingeschränkt wird – etwa weil man aus einem Gestus der Dankbarkeit heraus an neuralgischen Punkten nicht mehr gänzlich unabhängig zu reden wagt.“ (Bogner, 2011).

Gesellschaftskritik und die Überwindung des Status quo ist ein zentrales Element, auch des Islam und darf nicht für finanzielle Anreize und Statusgewinn geopfert werden. Ein dritter Aspekt bezieht sich auf die Kirchensteuer bzw. eine zukünftige „Moscheesteuer“, wie sie manch muslimische_r Vertreter_in wohl jetzt schon vorschwebt. Wäre es nicht angemessener, die muslimischen Institutionen würden ihr bisheriges freiwilliges Spendensystem weiterentwickeln? So könnte man am Puls der Zeit bleiben und auf neue Bedürfnisse angemessen und zeitnah reagieren „anstatt die Mitnahmeeffekte eines Systems zu nutzen, das die Kirchen im institutionellen Windschatten der staatlichen Steuereinzugspraxis positioniert hat.“ (Bogner, 2011). Muslimische Gemeinschaften haben in den kommenden Jahren die Gelegenheit diese Debatte zu führen, aus Erfahrungen der christlichen Kirchen zu lernen und ihre Strukturen in Deutschland reflektiert weiter zu entwickeln.

Fazit
Die Diskussion um eine religionspolitische Anerkennung von muslimischen Religionsgemeinschaften sollte sich in Zukunft auf die etwa 2500 Moscheegemeinden in Deutschland konzentrieren. Dazu wird es nötig sein, sich von dem Repräsentations-Konzept, das sich an vier Millionen Muslim_innen orientiert und vom Bundesministerium des Innern durch die Deutsche Islamkonferenz etabliert wurde, zu verabschieden. Der religionspolitische Kompromiss zur Einführung von islamischem Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen ist eine gute Grundlage, um Misstrauen zwischen Politik und muslimischen Verbänden abzubauen und ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg hin zu einer vollen Anerkennung der Moscheeverbände in Deutschland. Es bedarf meiner Ansicht nach, einer innermuslimischen Debatte über die angemessene Weiterentwicklung der muslimischen Strukturen im Rahmen des religionsverfassungsrechtlichen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Die Weiterentwicklung sollte das Ziel verfolgen, dass die islamische Religionsausübung in Deutschland sich gemeinwohlorientiert entfalten kann und der Islam an die nachkommenden Generationen angemessen weiter gegeben wird.

Fußnoten
(1)  CDU bläst Koalitionskrach ab, 16.09.2011.
(2) Beitrag von Klaus Böger auf einer Podiumsdiskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) (2000): Integrative Konzepte, Berlin, S. 4  zitiert in: Schiffauer, Werner (2003): Die Debatten um den islamischen Religionsunterricht. Zur Rolle von Religion in der deutschen politischen Kultur. In: Lehmann 2003: S. 115-134, hier S. 128.
(3) Der KRM besteht aus folgenden vier Mitgliedsorganisationen: Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD), Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) und dem multiethnischen Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD).
(4) Der religionspolitische Kompromiss geht auf einen Vorschlag in der Deutschen Islam Konferenz (DIK) aus dem Jahr 2008 zurück. Nachdem muslimische Verbände diesen Vorschlag in der DIK und in Folge lange Zeit abgelehnt hatten, gab es erstmals im Jahr 2009 bei einem Treffen von „Grün trifft Grün“ einer Dialogreihe der Heinrich-Böll-Stiftung die Zusage eines muslimischen Verbandsvertreters (Bekir Alboga, DIITIB), dass man sich durchaus auf solch einen Kompromiss einlassen könnte. Erst nach Antritt der rot-grünen Landesregierung und mit dem Engagement von Sylvia Löhrmann als Schulministerin konnten die muslimischen Verbände schließlich überzeugt werden und der Prozess hat Fahrt gewonnen.
(5) Jurist_innen mögen den Begriff der „Anerkennung“ nicht, da es keinen formaljuristischen Akt der Anerkennung gibt und sich Gruppen, die sich als Religionsgemeinschaften verstehen sich auch jederzeit so bezeichnen können. Die Anerkennung als Religionsgemeinschaft bedeutet in diesem Text, dass dem Antrag einer muslimischen Organisation auf einen Religionsunterricht nach Art. 7.3 GG statt gegeben wird.
(6) Nach der gängigen Definition von Gerhard Anschütz ist eine Religionsgemeinschaft „[...] ein die Angehörigen eines und desselben Glaubensbekenntnisses für ein Gebiet zusammenfassender Verband zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben.“ (Anschütz 1960: 620).
(7) Wenn man von dem Mittelwert von 4 Millionen Muslim_innen ausgeht, kommt man auf etwa 2,8 Millionen Muslim_innen, die religiöse Veranstaltungen besuchen, und etwa 800 000 Vereinsmitglieder. Davon sind jedoch nur etwa 80% Sunniten und Schiiten, um die es in diesem Beitrag in erster Linie geht. Deshalb wurden jeweils 20 Prozent abgezogen. Damit sind in den oben genannten Zahlen Aleviten, Ahmadis und weitere kleine Gruppen nicht berücksichtigt.´

 

Literatur

  • Anschütz, G., (1960 [zuerst 1933]): Die Verfassung des Deutschen Reichs, Kommentar, Neudruck der 14. Auflage, Darmstadt, zitiert nach: Hesse, K. (1994): Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 521-559.
  • Azzaoui, Mounir (2011): Muslimische Gemeinschaften in Deutschland zwischen Religionspolitik und Religionsverfassungsrecht – Schieflagen und Perspektiven, in: Schubert, Klaus; Meyer, Hendrik (Hrsg.): Zum Verhältnis von Politik und Islam: Zwischen symbolischer Inszenierung und materieller Neuerung, Wiesbaden, S. 247-276.
  • Azzaoui, Mounir (2012): Fünf Jahre Deutsche Islam Konferenz – Staatliche Einmischung und Generalschelte gegen muslimische Verbände kein Thema?. In: EPD-Dokumentation, 1. November 2011, Nr. 44, Die Deutsche Islam Konferenz – Forum für Integration? Auf der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft. Beiträge zu einer Tagung in der Evangelischen Akademie im Rheinland (Bonn) am 15./16. Juli 2011. S. 54-58.
  • Bogner, D. (2011): Weltdistanz und Weltengagement. Für ein Überdenken des gegenwärtigen staatskirchenrechtlichen Arrangements und einen „dritten Weg“, in: Salzkörner 17. Jg. Nr. 5, 31. Oktober 2011, Zentralkomitee der deutschen Katholiken, 2-4.
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.) (2009): Muslimisches Leben in Deutsch-land – im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz, Nürnberg.
  • Chbib, R. (2011): Einheitliche Repräsentation und muslimische Binnenvielfalt. Eine datengestützte Analyse der Institutionalisierung des Islam in Deutschland. in: Schubert, K.; Meyer, H. (Hrsg.) (2011): Zum Verhältnis von Politik und Islam, a.a.O., 87-112.
  • Dernbach, A. (2011): Klares Bekenntnis – Islamischer Religionsunterricht in NRW eingeführt, Tagesspiegel vom 24.12.2011, (25.12.2011).
  • Heinig, H.-M. (2010): Ein Staatsislam wäre grundgesetzwidrig, Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.03.2010. (4.04.2010).
  • Koordinationsrat der Muslime (2011): Stellungnahme des Koordinationsrats der Muslime (KRM) zum „Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lernfach (6. Schulrechtsänderungsgesetz)“ in NRW, 15.09.2011, Köln.
  • Landtag NRW (2012a): Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach (7. Schulrechtsänderungsgesetz) vom 22. Dezember 2011.
  • Landtag NRW (2012b): Entschließungsantrag der Fraktionen CDU, SPD und Bündnis 90 / Die Grünen. Islamischer Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen: Jetzt den Anfang machen! Drucksache 15/3582.
  • Landtag NRW (2011): Gesetzentwurf der Fraktionen SPD; CDU und Bündnis 90/Die Grünen, Gesetz zur Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach, Drucksache 15/2209, 21.06.2011, Düsseldorf.
  • Rosenow, Kerstin (2010): Von der Konsolidierung zur Erneuerung – Eine organisationssoziologische Analyse der Türkisch Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. In: Pries, Ludger, Sezgin Zeynep (Hrsg.): Jenseits von Identität oder Integration“: Grenzen überspannende Migrantenorganisationen, Wiesbaden, S. 169-200.
  • Schiffauer, W. (2010): Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, Berlin.

 

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Mounir Azzaoui ist Politikwissenschaftler und arbeitet freiberuflich als Politikberater mit dem Schwerpunkt Religionspolitik. Von 2001-2006 war er Pressesprecher für den Zentralrat der Muslime in Deutschland.