von Radhika Natarajan
Um das Ende vorwegzunehmen: Die 23jährige Sri-Lankerin Rati (Name geändert) lebt seit acht Jahren in Deutschland. Sie lässt sich zurzeit als pharmazeutisch-technische Assistentin ausbilden, ist Mitglied des Roten Kreuzes und belegt bald die Prüfung zum Sanitätsdienst. Ihr Traum: Medizin zu studieren, um Menschen zu helfen. Sie befindet sich auf dem Weg einer zwar langen, aber möglichen Studienlaufbahn. Aufstieg? Jein!
Wer ist Rati?
Wie sehen ihr biographisches Gepäck aus der kriegerschütterten Insel Sri Lanka und ihr bisheriger Werdegang auf dem sicheren Festland Deutschland aus? Bombenanschlägen, Entführungs- und Vergewaltigungsgefahr, Diskriminierung und Marginalisierung in Sri Lanka ist sie entflohen; Bewegungsfreiheit, Sicherheit als Frau, staatliche Unterstützung hat sie in Deutschland erfahren. Menschenwürdiges Überleben: ja, aber Aufstieg? Mit der Flüchtlingsfrau Rati habe ich offene biografisch-narrative Interviews geführt, die ich hier gebündelt vorstelle.
Geboren in eine wohlhabende Familie der tamilischen Minderheit mit Land- und Gutsbesitz gehört Rati der politisch einflussreichen Hindu-Kastengruppe der Vellalar an. Die ersten fünf Jahre lebte sie in Jaffna, im Norden Sri Lankas, bis sie um Haaresbreite einem Luftangriff der sri-lankischen Armee entkam. Um dem waltenden Bürgerkrieg zu entgehen, entschloss sich die Familie, nach Colombo zu fliehen. Zeitgleich musste Ratis Vater der Übernahme ihres Hauses durch die Armee und der Plünderung ihrer Textilgeschäfte händeringend zusehen. Eine mögliche Rettung für seine Familie sah er im Asyl gewährenden Europa. Er ergriff die Flucht nach Deutschland, in der Hoffnung, dass seine Familie bald nachkommen könnte. Dies sollte allerdings ein ganzes Jahrzehnt dauern.
Angekommen in Colombo vergaß das Kindergartenkind seine Sorgen, die der Teenagerin Rati erst später in Deutschland hochkommen würden. Die Mutter sorgte dafür, dass sie geschont von den politischen Umwälzungen mit künstlerischen Angeboten aufwuchs. In der mehrsprachigen Hauptstadt besuchte Rati bis zur neunten Klasse eine internationale Schule. In diesem kosmopolitischen Milieu lernte sie Angehörige verschiedener Religionen sowie Nationen kennen. Neben ihrer Erstsprache Tamil sprach sie fließend die schulische Verkehrssprache Englisch und lernte mit FreundInnen die dortige Mehrheitssprache Singhalesisch.
Ihren Vater kannte sie nur durch Fotos, Briefe und gelegentliche Telefonate. Bis die benötigten Papiere zur Familienzusammenführung vorlagen, vergingen noch zehn Jahre. Die nach religiösen Riten geschlossene Ehe ihrer Eltern wurde für ungültig erklärt, sodass sich diese nach wiederholtem Scheitern der Anerkennung zur Ausreise wieder vermählen mussten. Zur standesamtlichen Eheschließung reisten beide Elternteile sogar in ein drittes Land, nämlich nach Thailand. Endlich gelang es der mittlerweile fünfzehnjährigen Rati, mit ihrer Familie nach Deutschland auszureisen. Mit Schmetterlingen im Bauch traf sie einen fast fremden Mann, ihren Vater. Im Laufe der ersten Monate und nach gemeinsamer Auffrischung verblasster Erinnerungsfetzen fanden aber Vater und Tochter schnell wieder zueinander.
Russisch nebenbei
Das Zurechtfinden auf der institutionellen Ebene nämlich in der Schule war für Rati jedoch eine andere Geschichte. Zunächst erfolgte die Aufteilung mit ihrem um zwei Jahre jüngeren Bruder in eine Förderklasse. Anstelle einer altersentsprechenden Klasse in der Regelschule mit begleitendem Sprachunterricht führte die Trennung in Förder- und Normalklassen zu einer Abkapselung von deutschsprachigen Jugendlichen. Dieser fehlende außerschulische Gedankenaustausch auf Deutsch hätte wohl die ungesteuerte Sprachaneignung befestigt. Einen Vergleich mit Verwandten, die dagegen in englischsprachige Länder ausgewandert sind, kann Rati nicht unterlassen. Achselzuckend merkt sie an, dass ihre Kusinen von Anfang an gemeinsamen Unterricht mit Einheimischen erteilt bekamen und darüber hinaus über einen längeren Zeitraum im Förderunterricht unterstützt wurden.
Rati jedenfalls lernte in den zwei Jahren in der Förderklasse etliche MigrantInnen kennen, besonders aus Russland und aus der Türkei. Das mühsam erarbeitete Pensum an Arbeitsblättern im gesteuerten Unterricht fand zwar nicht einen adäquaten Niederschlag in ihrem Alltag. Aber beim erweiterten Realschulabschluss schnitt sie mit einer sehr guten Note ab. In der Zwischenzeit hat sie sich wegen ihres Freundeskreises sogar Russisch angeeignet, sodass sie von einer leichten Verwirrung zwischen zwei gleichzeitig erlebten Fremdsprachen Deutsch und Russisch spricht!
In der Integrierten Gesamtschule hatte Rati keinerlei Beratung und Ansprechmöglichkeit mehr. Vielmehr verunsicherte sie die Ankunft in einer ausschließlich „deutschen“ Welt. Sie musste die elfte Klasse wiederholen, was wohl ein erster Schlag für sie war. In ihrem Eifer wählte sie trotz entgegengesetzter Neigung Deutsch als Leistungskurs, was ihr einen zweiten Schlag erteilte. Dass sie in Deutsch eine Vier bekam, kommt ihr trotzdem als eine kleine Errungenschaft vor. Aber ihre Ratlosigkeit kannte in diesem Moment keine Grenzen und zwang sie, die Schule in der zwölften Klasse abzubrechen. Gleichzeitig fing sie an, als de facto Exilantin sich mit ihrem Ursprungsland Sri Lanka zu befassen und stellte Recherchen über den Konflikt und dessen möglichen Gründe im Internet an. Unbeabsichtigt kamen Ratis teils vergessenen traumatischen Erlebnisse hoch, sie erkrankte und blieb ein Jahr zu Hause.
In diesem Zeitraum kursierten verschiedene Gedanken in ihrem Kopf. Mit der Zeit und mit dem Überbleibsel ihrer vorigen Selbstsicherheit verschaffte sie sich Mut und Klarheit. Sie wurde politisch engagiert, informierte sich über Amnesty International und Menschenrechte. Sie nahm an politischen Demonstrationen gegen den Völkermord in ihrem Land teil. Der verheerende Tsunami von 2004 traf den Norden Sri Lankas besonders hart, der jedoch wegen fortwährenden Unruhen mit fast leeren Händen ausging und kaum internationale Rehabilitation und Hilfe bekam. Das veranlasste sie zur Mitgliedschaft beim Roten Kreuz, um dieser Art Hilflosigkeit entgegenzuwirken.
Annerkennung ohne kulturelle Fixierung
Warum beantwortet man dennoch die Frage nach Ratis Aufstieg mit einem Jein? Ihren Lebenslauf kann man auch so sehen: Der blutige Bürgerkrieg zwischen den Singhalesen und den Tamilen hat Ratis Familie auseinander gerissen. Zu ihrem Geburtsort Jaffna konnte sie nie wieder zurückkehren. Obwohl sie in Colombo eine Internally Displaced Person war, bot ihr die Tatsache, dass sie einer sogenannten höheren Kastengruppe mit ökonomischem und kulturellem Kapital angehörte, einen gewissen Schutz.
In der ersten Zeit in Deutschland fehlten ihr die feste Verankerung der neu angeeigneten Sprache Deutsch und ein damit verbundenes Selbstvertrauen. Die schulische Aufteilung – als Sprachförderung ohne Überforderung gerechtfertigt - schont wohl die Einheimischen, unterwirft jedoch Neuankömmlinge einer Absonderung und stellt sie zurück. Ratis vermeintliche Unzulänglichkeit in der Schule hängt unmittelbar mit dem Verlust ihres privilegierten Status als Mitglied einer hegemonischen Kastengruppe zusammen. Hohen Erwartungen im Sinne von guter Leistung und dem Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung konnte Rati in der neuen Umgebung nicht gerecht werden. Eine daraus zu ziehende Lehre wäre ein Kurswechsel in der migrationspädagogischen Bildungspolitik. Inklusiver Unterricht, Unterstützung und Beratung sicher beim Spracherwerb, aber auch bei der Traumataverarbeitung könnten als Anhaltspunkte dienen: eine Pädagogik der Anerkennung allerdings ohne kulturelle Fixierung.
Zu einer diasporaspezifischen Verzerrung führt außerdem ein ausschließlich medial vermitteltes Ansichtsspektrum über das Herkunftsland. Die mediale Wirklichkeit und Vernetzung erzeugen dabei manchmal eine unmittelbare Nähe und lassen einen betroffen mit Schuldgefühlen der Entflohenen zurück. Es schießt aber an der lived reality in Sri Lanka vorbei, weil die entstehenden Bilder durch eigene Alltagserfahrungen vor Ort weder ergänzt noch berichtigt werden können.
Rati hat die Flucht ergriffen, aber die Initiative auch. Ihr Vermögen, ihr politisches Engagement und ihr naturwissenschaftliches Anliegen zum möglichen Beruf und Bestandteil ihres Lebens zu wandeln, spricht dafür, dass ihr mitgebrachtes und hier erlebtes biographisches Gepäck nicht nur belastend, sondern auch bestärkend und befreiend auf sie wirken. Ratis Biografie lässt sich entnehmen, welche Entfaltungsmöglichkeiten und Stolpersteine die hiesige Mehrheitsgesellschaft in sich birgt. Über ihren Schatten kann Rati nicht springen. Erst in der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, so schwer sie auch sein mag, kann Rati ihre Gegenwart in Deutschland und ihre Zukunft in jedem beliebigen Raum ausgeglichen bewältigen und für sich selbst zufriedenstellend gestalten. Ratis bisherigen Werdegang würde ich so zusammenfassen: Aufstieg: Nicht unbedingt; Chance: Aber sicher! Wird die Mehrheitsgesellschaft ihre Chance wahrnehmen und endlich die Initiative ergreifen?
Dezember 2009
Radhika Natarajan promoviert interdisziplinär zum Thema „Deutscherwerb bei erwachsenen Flüchtlingsfrauen aus Sri Lanka“ an der Uni Hannover. Ein Jahrzehnt war sie Lehrkraft und Ausbilderin für Deutsch als Fremdsprache am Goethe-Institut, Mumbai, Indien.