von Kamuran Sezer
Prolog: Sarrazin, mein Über-Ich und Ich
Als ich in während meiner Schulzeit von einem Türkisch-Lehrer an meiner deutschen Schule erfuhr, dass die türkischen Kinder den so genannten muttersprachlichen Ergänzungsunterricht in Türkisch deswegen besuchten, weil sie für ihre Rückkehr in die Türkei vorbereitet werden sollen, festigte sich in mir das Gefühl, dass ich in diesem Land entbehrlich bin. Diese Erkenntnis brannte in mir eine emotionale Narbe ein: Ich bin ein Gast – mehr nicht.
In meiner Jugend spielte ich daher ernsthaft mit dem Gedanken, in die Türkei „zurückzukehren“. Je mehr ich mich mit diesem Gedanken auseinandersetzte und auch die ersten ernsthaften Schritte einleitete, umso mehr erkannte ich allerdings, dass ich auch in der Türkei ein superstrates Glied der türkischen Gesellschaft wäre. Dort wäre ich – wie ich in meinen diversen Urlaubsaufenthalten erfahren habe – statt eines Ausländers in Deutschland eben ein „Deutschländer“ in der Türkei.
Eine wirkliche Alternative hatte ich also nicht, zumindest hatte ich dies bis dahin so empfunden: Ich gewöhnte mich an meine Narbe, die nicht einmal bei den Anschlägen in Mölln und Solingen brannte. Ich war selbstverständlich sehr betroffen, nahm sogar an den zahlreichen Protestkundgebungen und an diesen Lichterketten teil. Überrascht war ich trotzdem nicht. So ist es halt, wenn man geduldet wird.
Die Wende zu meiner persönlichen Wiedervereinigung mit Deutschland erlebte ich, als ich in einer großen deutschen Volkspartei mein politisches Engagement aufnahm. In der Natur der politischen Arbeit liegend wurde viel über gesellschaftspolitische Themen diskutiert. Es war jedoch ein stämmiger blonder Deutscher ohne Migrationshintergrund und mit besonderer Vorliebe für das deutsche Bier, in dessen Windschatten ich in aller Ruhe Zugang in mein neues Umfeld finden und beobachten konnte.
Wir führten - mal zu zweit und mal in einer größeren Runde – unzählige Gespräche und Diskussionen über Glauben, katholische Kirche, Homosexualität, gleichgeschlechtliche Beziehungen, alleinerziehende Mütter, Arbeitslose und Arbeitslosigkeit, Förderung des Unternehmertums, soziale Marktwirtschaft, Integration von Behinderten, Schulpolitik, Kapitalismus, Gewerkschaftsgeschichte und -arbeit, Jahre des deutschen Wirtschaftswunders. Ich war beeindruckt - nicht nur von der Vielfalt der politischen Themen, sondern auch von der Vielfalt der Menschen, um deren Belange sich die Politik zu kümmern hatte (und heute wahrscheinlich mehr denn je zu kümmern hat).
Als ich meinen stämmigen, blonden, deutschen Mentor auf diese Vielfalt ansprach, sagte er mir sinngemäß, dass die deutsche Gesellschaft eine pluralistische sei, zu der die Vielfalt des Lebens selbstverständlich gehöre. Der erste Schritt sei diese unterschiedlichen und individuellen Lebenskonzepte zu respektieren, bevor über sie geurteilt werden kann, um sodann eine Politik für diese zu schaffen. Jawohl, zu einem solchen Konzept einer Gesellschaft passe ich sehr gut.
Diese Erkenntnis krempelte mein Leben natürlich nicht auf Anhieb um. Sie wuchs organisch, so dass ich über Jahre mehr und mehr Deutschland als meine Heimat und mich als Deutschen akzeptierte. Auf dieser Strecke begleiteten mich Fußballtrainer, Lehrerinnen und Lehrer, Nachbarn, Freunde und ihre Eltern, die dieses neugewonnene Gefühl des Dazugehörens manifestierten. Im fließenden lebensläuflichen Übergang folgte sodann der Entschluss, Deutschland in mein Über-Ich zu integrieren, damit mein Ich nun endlich in die deutsche Gesellschaft integriert werden konnte. Die Narbe war geheilt, dachte ich.
Dann kam Thilo Sarrazin und sein unter den Etiketten „Sachbuch“ und „Analyse“ veröffentlichtes Buch „Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“. Es ist ohne Zweifel ein Mega-Seller, der das profitgeleitete Privileg genoss, prominent von Leit- und Massenmedien wie Spiegel und Bild-Zeitung auf einer Sänfte durch alle Vertriebskanäle in die Mitte der Gesellschaft getragen worden zu sein. Diese seltsame Allianz aus Leit- und Massenmedien sowie RepräsentantInnen aus der Mitte der Gesellschaft mit einem ehemaligen hohen Amtsinhaber in einer staatstragenden Institution wie der Deutsche Bundesbank bewirkte bei mir zunächst Erschütterung und Desorientierung, anschließend Enttäuschung und Resignation und schließlich Verärgerung und Wut. Die gefühlte und immerwährend propagierte Mehrheit im deutschen Volk, welche die Thesen des Thilo Sarrazins unterstützt, lassen meine Narbe weniger brennen, als der zuvor beschriebene Umstand.
Die Anschläge in Mölln und Solingen erfüllten mich auch weit weniger mit Sorge als die geistige Brandstiftung, die Thilo Sarrazin mit seinem Buch vollzogen hat. Der Gedanke, dass vereinzelte fehlgeleitete junge Männer aus rechtsextremen Kreisen, jenem tabuisierten und damit marginalisierten Milieu in dieser Gesellschaft, die Botschaft „Türken raus!“ vermitteln, in dem sie einen Brandanschlag auf Türkenhäuser verüben, wirkt weitaus geringer bedrohlich, als ein hoher und angesehener Repräsentant der politisch-administrative Elite dieses Landes, der von Kopftuchmädchen spricht und Ängste sowie Feindseligkeit gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten schürt, die Deutschland genauso erobern werden würden wie einst die Kosovaren Kosovo erobert haben.
Denn als Organisationssoziologe, der ich bin, weiß ich sehr gut, dass es einen Unterschied macht, ob man nur eine Idee oder auch die institutionellen und strukturellen Möglichkeiten hat, diese Idee umzusetzen. Es war daher folgerichtig, mit dem politischen Rückenwind der Bundeskanzlerin und des Bundespräsidenten Thilo Sarrazin vom Vorstand der Deutschen Bundesbank als einer staatstragenden und ehrwürdigen Institution auszuschließen.
Nun stehe ich hier, ein deutsch gewordener Narr mit türkischem Namen, von dem brav erwartet wird, dass ich einen sachlichen, Analyse betonten Beitrag zur Anerkennung von ausländischen Abschlüssen im Hinblick auf den Fachkräftemangel und im Kontext der Zuwanderungsdebatte schreibe. Ich komme dem nach, weil ich für mich Folgendes verstanden habe: Heimat ist kein Gott gegebenes Geschenk, das man qua Geburt erhält, sondern ein menscherschaffener Wert, zu dem jeder – ob in dieser geboren oder eingewandert - seinen Weg finden muss. In diesem Sinne ist Deutschland nicht meine Heimat. Es ist zu meiner Heimat geworden. Und ich habe es zu meiner Heimat gemacht. Und diese, meine Heimat ist eine pluralistische, in der Alleinerziehende, Schwule und Lesben, Menschen mit Behinderung, KapitalistInnen, GewerkschaftlerInnen, Erwerbstätige und Arbeitslose sowie Sarrazin und ich einen Platz haben.
Prequel: Welche Einwanderungsgesellschaft wollen wir sein?
Mit dem Aufkommen der New Economy Ende der 1990er Jahre wurde ein neues Wirtschaftszeitalter eingeleitet, in dem das Internet als Basistechnologie die Produktionsweise, die Warenlogistik, den Informationsfluss und die Kommunikation mit hohem Tempo nachhaltig und radikal verändert hat. In dieser Zeit wurden Unternehmen wie Ebay, Yahoo, Amazon, Paypal und einige Jahre später Google und Facebook gegründet, die sich – trotz der zwischenzeitlich geplatzten Internetblase - in wenigen Jahren sowohl als systemrelevante Akteure etablierten als auch in ihren betriebswirtschaftlichen Leistungen (teilweise) Unternehmen der Old Economy beeindruckend überflügelten. Das Rückgrat dieses neuen Zeitalters waren IT-Fachleute: Die New Economy erforderte Menschen mit hochspezialisierten Kompetenzen und technischer Intelligenz. (vgl. Welsch 2001)
Um diese neue Entwicklung nicht zu verpassen, war der deutsche Standort auf diese besonderen Kompetenzträger auch aus dem Ausland im hohen Maße angewiesen. Die New Economy übte daher auf die deutsche Wirtschaft und Politik zugleich einen Veränderungsdruck aus, der in der deutschen Einwanderungspolitik einen Paradigmenwechsel einleitete: Entgegen der bisherigen Erfahrung war in der deutschen Politik Einwanderung nun nicht mehr mit billigen Arbeitskräften verbunden, die unqualifizierte Tätigkeit ausüben sollten, wie dies in den 1950er und 1960er Jahre infolge der Anwerbung von Gastarbeitern geschah.
Die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder leitete die Greencard-Initiative ein, die einerseits den deutschen Standort für die hochqualifizierten KompetenzträgerInnen aus dem Ausland öffnen und andererseits deutschen Unternehmen die Rekrutierung dieser Menschen erleichtern sollte. (vgl. Nohl, Schittenhelm, Schmidtke, Weiß 2010) Jedoch erwies sich diese Maßnahme als nur mäßig erfolgreich (vgl. Westerhoff 2007). Zum einen platzte die Internetblase, was zu einem beträchtlichen Verlust der in die Unternehmen der New Economy investierten Risikokapitalien einherging, und zum anderen war die Greencard-Initiative im Vergleich zu den Angeboten der klassischen Einwanderungsländer wie USA oder Kanada unzureichend und mit mehr Restriktionen verbunden, die sie vergleichsweise unattraktiver machte.(1) Nichtsdestotrotz erwies sich die Greencard-Initiative als ein nützliches Instrument insbesondere für kleine und mittelständische IT-Firmen, die 75% der Arbeitsgenehmigungen beantragten. Großkonzerne hingegen beantragten nur 25%, besaßen jedoch gleichzeitig ihre eigenen, institutionellen Kanäle innerhalb betrieblicher Strukturen, über die sie den „Humankapitaltransfer“ steuern konnten. Die Greencard-Initiative konnte so in gewissem Maße Wettbewerbsvorteile von Großunternehmen gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen kompensieren. (vgl. Kolb 2005)
Barrieren in der Integrations- und Migrationspolitik
Die Diskussionen und die Reform (besser: Erneuerung) der deutschen Einwanderungspolitik mit besonderem Blick auf die Anwerbung von ausländischen Hochqualifizierten verliefen und verlaufen auch heute noch nicht unproblematisch. Für die Gestaltungsarbeit auf diesem gesellschaftspolitischen Handlungsfeld stehen der Politik und ihren korporatistischen Akteuren einige Barrieren gegenüber, deren Überwindung eine wichtige Voraussetzung darstellt:
Xenophobie in der einheimischen Bevölkerung
Eine zentrale Barriere, welche die nachfolgenden prägt, ist die weit verbreitete Xenophobie in der deutschen Bevölkerung und ihre daraus erwachsene Skepsis gegenüber Einwanderung. Die einheimische Bevölkerung nimmt MigrantInnen als soziale und ökonomische Belastung für die Gesamtgesellschaft wahr. (vgl. Decker/Weißmann/Kiess/Brähler 2010; Heitmeyer 2010)
Indifferente Haltung der Politik
Der Erfolg von PolitikerInnen wird an den Stimmenanteilen gemessen, die sie bei Wahlen erzielen. Vor diesem Hintergrund der Operationslogik der Politik ist es nur verständlich, dass sie für die demoskopischen Präferenzen des Volks nicht nur empfänglich ist, sondern durch diese auch manipuliert wird. Das Resultat dessen ist allerdings eine indifferente Haltung der politischen AkteurInnen im Hinblick auf die Integrations- und Migrationspolitik, die eine aktive und pragmatische Gestaltungsarbeit erschwert. So hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn der aufkeimenden Sarrazin-Debatte eine klare Position gegen Thilo Sarrazin und seine im Buch vertretenen Thesen eingenommen. Jedoch verkündete sie nach einer kurzen Zeit, dass „Multikulti [...] gescheitert“ sei (vgl. Evans 2010). Dies überraschte sehr, zumal in ihrer Amtszeit die Stelle einer Integrationsbeauftragten im Bundeskanzleramt eingerichtet wurde sowie der Integrationsgipfel, die Islamkonferenz, der nationale Integrationsplan und die Diversity-Kampagne „Vielfalt als Chance“ und vieles mehr initiiert worden sind. (vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration Flüchtlinge und Integration 2010)
Auch der Vorsitzende der Schwesterpartei CSU, Horst Seehofer, der in der deutschen Integrationspolitik bis zur Sarrazin-Debatte kaum aufgefallen war, brachte sich in die öffentliche Diskussion ein, in dem er behauptete, dass Deutschland kein Zuwanderungsland sei, und postulierte hieraus einen Zuwanderungsstopp. Diese Position manifestierte er als Leitantrag „7-Punkte-Programm zur Zuwanderungs- und Integrationspolitik“ auf dem Münchner Parteitag im Oktober 2010. (vgl. Freiherr von Brandenstein 2010; MiGAZIN 2010a)
Begriffliche Unklarheit und Negativität
Es herrscht eine begriffliche Unklarheit, welche Rolle Deutschland im Kontext der globalen Migrationsdynamiken einnimmt. Es existiert zwar inzwischen ein breiterer Konsens darüber, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, jedoch wird diese migrationspolitische Attribuierung mit Begriffen wie Zuwanderungsland oder Integrationsland überschrieben. Die Politik selbst begünstigt die Negativbesetzung von migrations- und integrationspolitischen Themen. Asylmissbrauch, Ausländerkriminalität, Belastung der Sozialkassen durch arbeitslose Ausländer, Unterschriftenkampagnen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft usw. werden von der Politik aufgegriffen und ins Zentrum von Wahlkämpfen gerückt, um daraus politisches Kapital zu schlagen.
Kampagnen wie „Das Boot ist voll“ und „Kinder statt Inder“, die Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft gelten als einschlägige Präzedenzfälle, die in den letzten 20 Jahren für Wahlkampfzwecke erfolgreich benutzt wurden. Hierzu kann auch die Leitkulturdebatte Anfang des vergangenen Jahrzehnts unter dem Eindruck der Anschläge vom 11.September 2001 gezählt werden.
Schwache Migrantenselbstorganisationen
Im Diskurs zur Herstellung eines Konsens zur Integrations- und Migrationspolitik bedarf es Migrantenselbstorganisationen, die personell und strukturell mit den nötigen Ressourcen ausgestattet sind, um eine aktive und pragmatische Gestaltungsarbeit vollbringen zu können. Sowohl im Integrationsgipfel als auch in der Islamkonferenz sind verschiedene Selbstorganisationen von Migranten-Communities vertreten. Die meisten jedoch weisen ein niedriges Professionalisierungsniveau und auch unzureichende strukturelle Handlungsfähigkeit aus, um eine kontinuierliche Gestaltungsarbeit betreiben zu können. Darüber hinaus zeichnet die Landschaft der Migrantenselbstorganisationen ethnische, weltanschaulische und religiöse Diversifizität und teilweise gar Zersplitterung aus, die eine Konsensfindung und Gestaltungsarbeit in einem korporatistischen System wie dem deutschen nicht nur erschweren sondern auch verkomplizieren. Der Boykott des deutschen Integrationsgipfels, der von der Türkischen Gemeinde in Deutschland angeführt wurde, ist ein Präzedenzfall, wie auch der Ausschluss des Islamrats aus der Islamkonferenz durch den Bundesinnenminister.
Kurzum: Die politischen Handlungsfelder der Integration und Migration sind insgesamt sehr labil und unterliegen dysfunktional wirkenden Operationslogiken, die eine auf Kontinuität und Verstetigung angelegte Konsensfindung und Gestaltungsarbeit negativ dynamisieren. Der Migrationsforscher Klaus J. Bade schreibt in seinem Gastbeitrag „Sarrazin schafft Deutschland ab“ für MiGAZIN, ein Online-Fachmagazin für Integration und Migration, in diesem Zusammenhang an die Adresse der Politik:
Andererseits sollte Politik endlich begreifen, daß ihr Souverän, also der Bürger, es entschieden satt hat, in Sachen Integration und Migration mit mäandernden Bestandsaufnahmen, wechselseitigen politischen Schuldzuweisungen, appellativen Ankündigungen und trostvollen Versprechungen bedient zu werden und stattdessen konzeptorientierte Richtungsentscheidungen mit klaren Zielvorgaben in politischer Führungsverantwortung erwartet. Geschieht dies nicht, dann könnte die inzwischen schon geschichtsnotorische Unterschätzung der Eigendynamik von Integration ‚als gesellschaftspolitisches Problem ersten Ranges‘ am Ende ‚für die politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie dieser Republik schwerwiegende Legitimationsprobleme aufwerfen‘. Davor habe ich, pardon, mit diesen Worten schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert gewarnt (K.J. Bade, Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland?, Berlin 1983, S. 116, 119). Die Warnung scheint zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden. Besserwisser pflegen nur beliebt zu sein, wenn sie des Irrtums überführt werden können. Das ist hier, leider, nicht der Fall. Und die Rache heißt heute Sarrazin. (Bade 2010)
Die gesellschaftliche Mitte ist desorientiert und durch Krisen erschüttert
Unabhängig davon, ob eine demoskopische Mehrheit im deutschen Volk die Thesen von Thilo Sarrazin teilt oder nicht, die quantitativ und qualitativ bemerkenswerten Diskussionen im öffentlichen Raum weisen darauf hin, dass sein Buch eine brisante politische Haltung in der Gesellschaft offensichtlich machte. Diese ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Folgen des demografischen Wandels inzwischen für alle konkret erfahrbar geworden sind: In den Stadtteil, in dem man einst aufgewachsen ist, sind möglicherweise in den letzten Jahrzehnten immer mehr „AusländerInnen“ gezogen. Immer mehr „Dönerläden“ haben die Metzger- und die Tante-Emma-Läden verdrängt. Immer mehr Moscheen, die früher in den Hinterhöfen irgendwelcher Gewerbegebiete kaum sichtbar waren, prägen das Bild des Stadtteils, in dem man lebt. In der Schulklasse des eigenen Kindes sind auch SchülerInnen mit „fremdländischen Namen“. Bei der Polizei und in der Verwaltung trifft man auf „nicht-deutsch-aussehende“ BeamtInnen und Angestellte. Dies sind sichtbare, erlebbare und fassbare Veränderungen, die Verunsicherungen auslösen können. (Sezer 2009)
Es bleibt jedoch nicht bei Verunsicherungen allein. So stellten die Studie „Die Krise der Mitte“ im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und das Langzeitforschungsprojekt „Deutsche Zustände“ von Wilhelm Heitmeyer fest, dass bei Angehörigen der gesellschaftlichen Mitte antidemokratische und –emanzipatorische Einstellungen zugenommen haben. Orientierungslosigkeit und aggressiv aufgeladene Bedrohungswahrnehmungen, die sich u.a. in Islam- und Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus sowie rechtspopulistischen Einstellungen ausdrücken, sind in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. (vgl. Decker/Weißmann/Kiess/Brähler 2010, Heitmeyer 2010)
Auf solch einer Basis werden nun die gesellschaftspolitischen Handlungsalternativen für die Integrations- und Migrationspolitik entworfen. Und die Bestimmung dieser Handlungsalternativen hängt von der Frage ab: Welche (Einwanderungs-)Gesellschaft wollen wir in Zukunft sein? Die Beantwortung dieser Frage ist eine notwendige Voraussetzung, bevor überhaupt über operative Gesichtspunkte einer Einwanderungs- und Integrationspolitik einschließlich der Formen und Verfahren zur Anerkennung von ausländischen Abschlüssen und der Integration von qualifizierten Einwandernden nachgedacht und diskutiert werden kann.
Konkurrierende Konzepte einer Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft
Gegenwärtig können in der deutschen Parteienlandschaft vier konkurrierende Konzepte einer Einwanderungsgesellschaft identifiziert werden:
Kein Ein- bzw. Zuwanderungsland (Status Quo): Mit dem 7-Punkte-Programm zur Integration, das als Leitantrag auf dem Parteitag der CSU in München im Oktober 2010 angenommen wurde, wird programmatisch abgelehnt, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist. Ferner sieht es vor, die bereits in Deutschland lebenden Migranten aktiv zur Integration aufzufordern, eine mögliche Integrationsverweigerung stark zu sanktionieren. Komplementär dazu postuliert die CSU zur Begegnung des Fachkräftemangels, politische Anstrengungen zu unternehmen, um die einheimischen Erwerbstätigen und Arbeitssuchenden (mit und ohne Migrationshintergrund) für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. (vgl. MiGAZIN 2010a)
Leitkultur (Assimilation): Unter Zuwanderungsland fasst die CDU ihr Verständnis von einer Einwanderungsgesellschaft. Dabei ist die CDU in der Definition des Begriffs Zuwanderung in Abgrenzung zur Einwanderung sehr undeutlich bzw. lässt es offen, so dass nicht eindeutig nachvollziehbar ist, welche programmatischen und politisch (-administrativen) Implikationen für die Integrations- und Migrationspolitik sich daraus ergeben. Vermutlich ist damit gemeint, dass Migranten zu einer historisch, kulturell und gesellschaftlich gefestigten und in ihren Wertvorstellungen sowie religiösem Selbstverständnis geschlossenen einheimischen „Stammbevölkerung“ zuwandern, wenn sie nach Deutschland ein- bzw.- zuwandern. Zuwanderung impliziert vermutlich zudem, dass die Einwanderer sich an diese einheimische Stammbevölkerung orientieren sollen. In diesen Zusammenhang gehört auch der Begriff Leitkultur, an der sich die Einwandernden in ihrer Integration orientieren müssen. (vgl. Christlich-Demokratische Union 2007)
Multikulturalismus (multiple Inklusion/salad bowl): Dieser Ansatz wird insbesondere von Bündnis90/Die Grüne vertreten. Dieses Gesellschaftskonzept umfasst die gegenseitige Anerkennung und den Schutz ethnischer, sprachlicher, religiöser und kultureller Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft und setzt gegenseitigen Respekt und Toleranz voraus. Damit wird kulturelle Vielfalt jenseits von gegenseitigen Assimilationsforderungen als erwünscht erachtet. Dabei setzen Bündnis90/Die Grüne beim Multikulturalismus-Konzept politische Zielvorgaben für das Zusammenleben voraus, die aus der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der europäischen Verfassungstradition und dem Grundgesetz abgeleitet werden. (vgl. Bündnis90/Die Grünen 2002)
Republikanisches Integrationsleitbild (melting pot): Einige Funktionsträger und Bundestagsabgeordnete der FDP haben im Dezember 2010 „6-Thesen für ein republikanisches Integrationsleitbild“ veröffentlicht. In diesen postulieren sie ein Gesellschaftskonzept, das an den Ansatz des Melting Pot erinnert, wonach eine kooperative Kulturvielfalt präferiert wird, die unter einem gemeinsamen Leitbild zusammengefasst wird. Das Grundgesetz und der Grundrechtekatalog bilden dabei den normativen Rahmen für das Leitbild. (Komplementär dazu wird die Formel des christlich-jüdischen Abendlands als Leitbild explizit abgelehnt.) (vgl. MiGAZIN 2010b)
Minimaler Konsens zwischen diesen konkurrierenden Konzepten einer Einwanderungsgesellschaft bildet das Grundgesetz als normativer Orientierungsrahmen, dessen Beachtung, Respekt und Anerkennung von den (künftigen) Einwanderern – je nach politischer Färbung - vorausgesetzt bzw. aktiv gefordert wird. Aus diesem ergeben sich aber an die Adresse der (künftigen) Einwandernden unterschiedliche Integrationspostulate, die im Hinblick auf die Anwerbung und Integration der zukünftigen Migranten unterschiedliche Attraktivitätsgrade ergeben. Oder als Frage formuliert: Welches Konzept der Einwanderungsgesellschaft ist wie stark attraktiv, um die kreative Klasse der Hochqualifizierten zur Einwanderung nach Deutschland zu bewegen? Für die Ansiedlung von Hochqualifizierten existieren drei Schlüsselfaktoren: Talente, Technologien und Toleranz (vgl. Pechlaner/Bachinger 2010).
Die Kreativen fühlen sich angezogen von Orten, in denen bereits Hochqualifizierte (Talente) wohnen und in denen ein tolerantes Umfeld gegeben ist. Zudem müssen dort technologisches Wissen sowie (regionale) Arbeitsmärkte vorhanden sein, um Wachstum zu ermöglichen. Hochqualifizierte sind jedoch weltweit mobil und wählen ihren Lebensmittelpunkt dort, wo die kulturellen Rahmenbedingungen entsprechend ihren Erwartungen ausgestaltet sind. Dabei öffnen sich Chancen für Arbeitgeber: Für solche, die aktiv kulturelle Einrichtungen oder Veranstaltungen unterstützen, öffnen sich zusätzliche Wege zur Mitarbeitermotivation, zum Imagegewinn, zur Förderung der Standortattraktivität und damit der Attraktivität für Kunden, Zulieferer und zukünftige Mitarbeiter, aber auch zur Ausübung einer gesellschaftlichen Verantwortung. (ders.: 5f.)
Vor diesem Hintergrund stellt sich die rhetorische Frage, ob eine auf eine postulierte Leitkultur gegründete Einwanderungsgesellschaft, die eine fordernde Haltung gegenüber der kreative Klasse einnimmt und damit Assimilationsdruck ausübt, in der Anwerbung und Ansiedlung von ausländischen Hochqualifizierten erfolgreich sein kann. Denn abstrahiert man ein Buch wie das von Thilo Sarrazin, so bleibt von dessen Inhalt ein zugespitztes Pamphlet gegen (muslimische) Integrationsverweigerer, gebärfreudige Importbräute und Bildungsversager aus der Unterschicht übrig, denen man – dem Autor folgend – mit Restriktionen, Zwang und Sanktionen begegnen muss. Die Sarrazin-Debatte und das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien, die sich in vielen europäischen Ländern etabliert haben und in Deutschland neu formieren, üben nun auf die alteingesessenen Parteien einen Legitimationsdurch aus. Dies verkompliziert die Verstetigung einer zukunftsträchtigen Richtungspolitik auf dem Gebiet der Integrations- und Migrationspolitik. Daher bleibt es höchst fraglich, ob ein solches Deutschland mit einer merkantilistisch anmutenden Einwanderungspolitik attraktiv und damit erfolgsversprechend ist, um die kreative Klasse von Hochqualifizierten aus dem Ausland zur Einwanderung und Ansiedlung in Deutschland zu überzeugen.
Der demografische Wandel
Dass Deutschland hochqualifizierte Kreative aus dem Ausland dringend benötigt und somit ihre Einwanderung im elementarsten Interesse Deutschlands ist, erkennt selbst Thilo Sarrazin erkennt an. Er fordert aber, dass die Einwanderung von Menschen aus gleichen oder ähnlichen Kulturkreisen präferiert werden soll. Eine Einstellung, die vom CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer unterstrichen wurde. (vgl. FAZ 2010) Dies wird jedoch nicht (und wenn überhaupt sehr eingeschränkt) funktionieren:
Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass die deutsche Bevölkerung altert und schrumpft. (vgl. Münz 2001) Europa insgesamt wird im Vergleich zu den anderen Weltregionen sogar am stärksten altern und schrumpfen: Betrug der prozentuale Anteil der EuropäerInnen an der Weltbevölkerung 1950 21,6%, so wird nach Modellrechnungen dieser Anteil auf 7,6% im Jahr 2050 schrumpfen. Hingegen wird das ungebrochene Bevölkerungswachstum in Afrika dazu führen, dass der prozentuale Anteil der afrikanischen Bevölkerung, der 1950 9,0% an der Weltbevölkerung ausmachte, im Jahr 2050 auf 21,8% ansteigen wird. (vgl. United Nations/Department of Economic and Social Affair 2008; Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 2007)
Der demografische Wandel wird zudem durch die Abwanderung aus Deutschland angeschoben, von wo Abwanderungsbewegungen vornehmlich nach Polen, in die Türkei, Rumänien, USA, Schweiz, Italien, Österreich, Ungarn, Frankreich und Großbritannien verzeichnet werden (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2010). Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration nimmt an, dass deutsche Hochqualifizierte insbesondere in die Schweiz, USA, Großbritannien, Österreich, Kanada, Norwegen und Australien abgewandert sind. Insgesamt stellt der Sachverständigenrat fest, dass Deutschland mit einer über mehrere Jahre andauernde migratorische Verlustrechnung konfrontiert ist, und fordert rasches Handeln in der Einwanderungspolitik, um nicht nur den quantitativen Verlust durch die Abwanderung hochqualifizierter Deutscher, sondern auch den qualitativen Verlust an Know-How, Erfahrungen, und Qualifikationen zu kompensieren, um die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standorts weiterhin zu gewährleisten (vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration).
Das futureorg Institut hat des Weiteren in einer groß angelegten Sozialstudie über die türkischen Akademiker und Studierenden in Deutschland (TASD-Studie) festgestellt, dass mehr als ein Drittel der in Deutschland aufgewachsenen deutsch-türkischen Hochqualifizierten eine hohe Bereitschaft aufweisen, in die Türkei abzuwandern. (vgl. Sezer/Daglar 2009; Sievers/Griese/Schulte 2010) Inzwischen mehren sich Berichterstattungen in Medien, dass über die deutsch-türkischen Hochqualifizierten hinaus auch deutsch-vietnamesische Hochqualifizierte eine erhöhte Abwanderungsbereitschaft aufweisen (vgl. Mai 2010).
Brain Waste: Verschleudertes Potenzial von ausländischen Hochqualifizierten
Die Diskussionen zur Einwanderung von Fach- und Hochqualifizierten und die Bestrebungen zur Anerkennung ihrer Abschlüsse sind also von herausragender Bedeutung. Das von der VolkswagenStiftung geförderte internationale Forschungsprojekt „Kulturelles Kapital in der Migration“ führt zudem eindrucksvoll vor, wie sich das derzeit auf diesem Gebiet herrschende handlungspolitische Vakuum in der Einwanderungs- und Integrationsrealität ausdrückt. Die Biografien der bereits nach Deutschland eingewanderten Hochqualifizierten aus dem Ausland zeigen auf, dass die Einwanderung in der Regel neben den formal-juristisch-administrativen Bahnen verläuft. Sie erfolgt über ein Studium in Deutschland, Asyl oder Heirat.
Die ForscherInnen haben in ihren Untersuchungen insgesamt sieben typische lebensläufliche Konstellationen bei ausländischen Hochqualifizierten, die bereits in Deutschland leben, vorgefunden, innerhalb derer sie ihr Wissen und Können in den deutschen Arbeitsmarkt – im unterschiedlichen Maße – einbringen können (vgl.: Nohl/Weiß 2009):
- Heirat: Besonders Personen mit renommierten internationalen Abschlüssen (vornehmlich: naturwissenschaftlichen und ökonomischen Abschlüssen), deren Karrieren transnational angelegt sind, präferieren einen Verbleib in Deutschland, wenn sie hier eine Familie gegründet haben. Die Ehe mit einem/einer deutschen PartnerIn gewährleistet die Fortsetzung der aufgenommenen Beschäftigung.
- Spezialwissen: Ausländische Hochqualifizierte finden eine Beschäftigung und verbleiben in Deutschland, weil sie über herkunftsbezogenes Spezialwissen (z.B. juristisches Wissen über das Herkunftsland) verfügen. Durch Ausnahmeregelungen im Ausländerrecht ist es ihnen möglich, eine Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitsrecht zu erhalten, auch ohne eine/n deutsche/n PartnerIn zu heiraten.
- SpätaussiedlerInnen: Typisch für diese biografische Konstellation ist der Erwerb eines Aufenthaltstitels oder der deutschen Staatsbürgerschaft, unabhängig davon, ob und wie diese Personen ihr akademisches Wissen auf dem deutschen Arbeitsmarkt einbringen können. Die akademischen Qualifikationen dieser Personengruppen wurden jedoch durch Nicht-Anerkennung ihrer Abschlüsse abgewertet, so dass sie niedrig qualifizierten Beschäftigungen nachgehen.
- Professionsrechtliche Regelungen: Ausländische ÄrztInnen, JuristInnen, ArchitektInnen, PsychologInnen usw. sind mit zusätzlichen rechtlichen Hürden konfrontiert. Dies betrifft die Angehörigen so genannter Drittstaaten, die unter Einschränkungen eine Erlaubnis für abhängige Beschäftigungsverhältnisse erhalten. Eine in Brasilien ausgebildete Ärztin darf keine eigene Praxis eröffnen und erst nach Erfüllung professionsgebundener Voraussetzungen lediglich in einer Praxis oder in einem Krankenhaus angestellt werden.
- Ausländische Studierende: Ausländische Studierende, die an einer deutschen Hochschule eingeschrieben sind, müssen die Finanzierung ihres Lebensunterhalts über die Dauer ihres Aufenthalts gewährleisten können. Studierende außerhalb der EU dürfen zudem maximal 90 Tage im Jahr einer Nebenbeschäftigung nachgehen. Fast zwei Drittel der Studierenden verdienen dazu und ein Fünftel lebt ausschließlich vom eigenen Verdienst, so dass sie in die informelle Ökonomie ausweichen, um den Lebensunterhalt zu finanzieren.
- Irreguläre Migration: Wer als TouristIn nach Deutschland kommt oder seinen Aufenthaltstitel verliert, darf keiner Beschäftigung nachgehen. Es existieren aber Fälle, in denen ausländische Hochqualifizierte auf dem informellen Arbeitsmarkt eine Beschäftigung finden, jedoch in der Regel ihr akademisches Wissen und Können nicht verwerten können.
- Flüchtlinge, Asylberechtigte oder -suchende: Dieser Personenkreis ist besonders stark von rechtlichen Restriktionen im Hinblick auf die Arbeitsmarktinklusion betroffen. Um ihren Aufenthalt nicht zu gefährden, ziehen sie es vor, keiner Beschäftigung in der informellen Ökonomie nachzugehen. Von einer legalen Beschäftigung sind sie aber faktisch ausgeschlossen. Ihre arbeitsbiografische Perspektive bleibt dauerhaft unklar.
Während die VertreterInnen der ersten vier biografischen Konstellationen über die Möglichkeit verfügen, einer Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt (legal) nachzugehen, liegt im Falle der letzten drei biografischen Konstellationen faktisch Arbeitsmarktexklusion vor. Dabei verfügen lediglich Personen mit transnationalen Karriereverläufen über die Möglichkeit, ihr im Ausland erworbenes akademisches Wissen und Können umfassend anzuwenden. In den anderen Fällen existiert diese Möglichkeit nur unter (starken) ausländer- und professionsrechtlichen Einschränkungen. Vor diesem Hintergrund überrascht sodann auch das Ergebnis der Sonderauswertung des Mikrozensus von 2005 durch das Forscherteam nicht, dass 20,6% der Hochqualifizierten, die ihren Abschluss im Ausland erlangt haben, in einfachen Berufen tätig sind. Dieser Anteil beträgt bei Hochqualifizierten mit Migrationshintergrund, die ihren Abschluss in Deutschland erworben haben, 3,09%. (vgl. Nohl/Schittenhelm/Schmidtke/Weiß 2009)
Das komplizierte Verfahren zur Anerkennung von ausländischen Abschlüssen eingewanderter Hochqualifizierter (und jener, die in der Zukunft einwandern werden) schiebt die prekären Perspektiven in den Erwerbsbiografien noch zusätzlich an. Das Anerkennungsverfahren ist durch unterschiedliche Regelungen der Bundesländer föderal überdehnt und wird nach MigrantInnengruppen (EU-AusländerInnen, SpätaussiedlerInnen, DrittstaatlerInnen) unterschiedlich angewendet, was das Verfahren verkompliziert und den Verfahrensaufwand erhöht. (vgl. Engelmann/Müller 2007) Von einer Verfahrensgerechtigkeit ist man noch weit entfernt:
Von Chancengleichheit kann bei der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen keine Rede sein. Anerkennungsmöglichkeiten hängen weniger von der vorhandenen Qualifikation als vielmehr vom Bundesland und der Zugehörigkeit zu einer Migrantengruppe ab. Defizitäre rechtliche Regelungen führen dazu, dass zwei Personen, die über identische Abschlüsse verfügen, unterschiedlich zu behandeln sind. Zwei Absolventen einer russischen Techniker-Fachschule wenden sich an die zuständige Anerkennungsstelle, ein Spätaussiedler und ein jüdischer Zuwanderer. Ersterer kann eine Anerkennung beantragen, für letzteren gibt es nicht einmal die Möglichkeit eines Verfahrens. Damit gilt er als Ungelernter und ein Anknüpfen an seinen erlernten Beruf wird nahezu unmöglich. (Müller 2008)
Abschottung oder Attraktivität?
Die Folgen des demografischen Wandels (Alterung, Schrumpfung, Fachkräftemangel, Multikulturalisierung usw.) werfen ihre Schatten voraus. Und der deutsche Standort ist – dringend – gefordert, eine konsequente Richtungsentscheidung in der Integrations- und Migrationspolitik zu treffen. Dafür muss geklärt werden, welche Einwandernden Deutschland benötigt – und vor allem welche Einwanderungsgesellschaft es in der Zukunft sein möchte.
Endnote
(1) Die Diskussion zur Gestaltung einer modernen Einwanderungspolitik wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch sowohl auf der Ebene der Europäischen Union als auch in ihren Mitgliedsländern geführt. Verschiedene EU-Länder haben inzwischen unterschiedliche nationale Programme zur Anwerbung und Integration von ausländischen Hochqualifizierten, insbesondere ÄrztInnen, IngenieurInnen, WissenschaftlerInnen und IT-SpezialistInnen) initiiert. In diesem Zuge konkurriert Deutschland mit Ländern wie Großbritannien, Schweden oder den Niederlanden. Solche Konkurrenz birgt allerdings das Risiko, das einige Länder den Wettbewerb um Talente verlieren. Deutschland befindet sich vor diesem Hintergrund in einer besonders schlechten Ausgangssituation, da es von den demografischen Trends stärker betroffen ist als andere EU-Länder. Im Zuge der Verwirklichung des Binnenmarkts propagiert und strebt die EU-Kommission verschiedene Programme zu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik an. Kürzlich wurde die „Bluecard“ eingeführt, die ausländischen Hochqualifizierten den Zugang in den gesamten EU-Arbeitsmarkt gewährleisten soll, um die negativen Effekte des Wettbewerbs abzumildern.
Literatur
- Bade, Klaus J. (2010): Sarrazin schafft Deutschland ab, in: MiGAZIN (29.11.2010).
- Bündnis 90/Die Grünen (2002):Die Zukunft ist grün. Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen, beschlossen im März 2002.
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2010): Migrationsbericht 2008.
- Christlich-Demokratische Union (2007): Das Grundsatzprogramm: Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland, beschlossen im Dezember 2007.
- Decker, Oliver/Weißmann, Marliese/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2010): Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010 (Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung) Online unter: .
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- Englmann, Bettina/Müller, Martina (2007): Brain Waste. Die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen in Deutschland.
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Februar 2011
Kamuran Sezer ist Institutsleiter vom futureorg Institut für angewandte Zukunfts- und Organisationsforschung und Lehrbeauftragter an der Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg.