Eine Schutznische für Geflüchtete

Kerzen auf einer Bank in der Paulskirche in München
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Paulskirche in München

Das Kirchenasyl will Menschen schützen, denen eine Abschiebung in eine lebensbedrohliche oder menschenunwürdige Situation droht. Ein Blick auf Hessen und Bayern.

Petros Habte ist fünf Jahre alt, als sein Vater in Eritrea ermordet wird. Seine Mutter flieht mit seinen Geschwistern nach Europa. Habte bleibt zurück. Er ist krank und wächst bei seiner Großmutter auf. Sie wird seine Bezugsperson, bis er mit 16 Jahren zum Militärdienst eingezogen werden soll. Offiziell ist dieser in Eritrea auf knapp zwei Jahre begrenzt, aber für die meisten dauert er ein Leben lang. Deshalb helfen Verwandte aus Europa Habte bei der Flucht.

Sein Weg führt ihn zunächst in den Sudan, wo er sich ein falsches Visum für Ungarn besorgt. Damit fliegt er in die Niederlande, kommt dort in Abschiebehaft und wird direkt nach Ungarn abgeschoben. Es ist keine leichte Zeit für den Jugendlichen. Nach acht Monaten muss er das Flüchtlingslager verlassen, schlägt sich auf der Straße durch und wird von einer Gruppe Rechter zusammengeschlagen. Deshalb beschließt Habte 2013 weiter zu fliehen – nach Deutschland. Inzwischen ist er 18 Jahre alt.

Nach mehreren Stationen landet Habte in Frankfurt und wohnt dort zunächst in einem Containerbau für Obdachlose. Ein Mann bringt ihn zum Wohnungsamt für Geflüchtete. Doch er darf als sogenannter Dublin-Fall eigentlich nicht in Deutschland bleiben. Er müsste zurückkehren in das Land, in dem er die EU zum ersten Mal betreten hat, das für ihn zuständig ist. Also Ungarn. Ein Land, das seit längerem für eine menschenunwürdige Behandlung von Geflüchteten in der Kritik steht. Aber Habte hat Glück.

Die Kirchengemeinde „Am Bügel“ in Frankfurt am Main nimmt ihn für sechs Monate im Kirchenasyl auf. Seine Abschiebung nach Ungarn wird verhindert, weil die sogenannte Rücküberstellung in der Regel genau in diesem Zeitraum erfolgen müsste. Erst dann können Schutzsuchende einen Aufnahmeantrag in Deutschland stellen. Habtes Freiheit endet also für die nächsten Monate am Gartenzaun der Gemeinde. Sein Kontakt nach außen ist die Gemeinde und der Helferkreis, der sich um ihn gebildet hat. „Es gab viele Menschen, die mich damals besucht haben, um mit mir zu sprechen und zu erklären, wie Menschen in Deutschland leben“, sagt der heute 21-Jährige.

"Wer hier bleibt und wer geht, grenzt oft an Willkür"

Wer in einer Suchmaschine "Kirchenasyl in Hessen" eingibt, findet die Geschichten vieler Einzelschicksale wie dem von Petros Habte. „Die Abschiebung von Kalkidan und Fantayenesh war längst beschlossene Sache. In einer Frankfurter Pfarrei finden zwei äthiopische Flüchtlinge trotzdem Unterschlupf“, heißt es in einem Welt-Artikel aus dem Juni 2015. Zur gleichen Zeit berichtet die Nassauische Neue Presse über den zweiten Fall von Kirchenasyl im Dekanat Selters: „Nach Höhr-Grenzhausen bietet auch die Evangelische Kirchengemeinde Wirges einem syrischen Flüchtling Schutz.“ Die evangelische Gemeinde in Nied habe bereits im Februar einem Somalier Kirchenasyl gegeben, heißt es in der Frankfurter Neuen Presse: „Sie wollen damit zeigen, dass die europäischen Asylgesetze überarbeitet werden müssen. Denn die Entscheidung, wer hier bleibt und wer geht, grenzt oft an Willkür.“

„Das Kirchenasyl ist eine Möglichkeit, um Dublin-Abschiebungen zu verhindern", sagt Hildegund Niebch von der Diakonie Hessen und ergänzt, "jedes Kirchenasyl ist eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung und wird von den Verantwortlichen in den Kirchengemeinden sorgfältig abgewogen. Sobald ein Geflüchteter aufgenommen wird, meldet die verantwortliche Kirchengemeinde dies den Behörden. Zwar gilt es nicht als rechtlicher Schutz, doch holt die Polizei nur selten Menschen aus einer Kirche heraus.“

20 Kirchenasyle sind laut Niebch aktuell über die beiden Landeskirchen Hessen Nassau und Kurhessen Waldeck für Hessen gemeldet: „Seit 2014 sind es durchschnittlich zwischen 15 bis 20 Fälle. Vorher waren es kaum welche. Zugespitzt hat sich das durch die deutliche Zunahme der Bedrohung durch die Dublin-Verordnung, die zur Folge hat, dass Geflüchtete innerhalb Europas dorthin zurückgeschickt werden, wo sie zum ersten Mal registriert wurden. Häufig sind das Länder wie Ungarn, Bulgarien oder Italien.“

So spiegelt das Kirchenasyl auch die Entwicklungen des Asylrechts der letzten Jahre wider. Ein Blick zurück in das Jahr 2013, als allein im Oktober hunderte Menschen bei Schiffsunglücken vor der italienischen Insel Lampedusa starben: Entsetzen, Trauer und Solidarität mit den Bootsflüchtlingen. Nach seinem Besuch auf der Insel rief der Papst seine Gemeinden dazu auf, das Flüchtlingsthema nicht nur als ein politisches, sondern auch ein theologisches zu begreifen. In Frankfurt am Main kam eine Gruppe von Geflüchteten aus Afrika an, die über Lampedusa nach Italien eingereist waren. Sie wurden gegen geltendes Recht aus Italien nach Deutschland geschickt. Wochenlang schliefen sie im Freien, bis ein Mitglied in seiner Kirchengemeinde vorsprach. Die reagierte sofort und überlies den Gestrandeten eine leerstehende Kirche im Frankfurter Bahnhofsviertel.

Wie weit darf die Kirche gehen?

„Wir für 22“ nannte sich der Unterstützerkreis, in dem sich ehrenamtliche Helfer um die Versorgung kümmerten und Freundschaften mit den Geflüchteten schlossen. „Flüchtlinge innerhalb Europas sind durch Dublin an ihr Erstaufnahmeland gebunden. Durch die Wirtschaftskrise, die gerade Länder im Süden Europas besonders hart getroffen hat, wurde jedoch vielen, die dort einen Schutzstatus haben, die Existenzgrundlage entzogen“, sagt Ulrich Schaffert, Pfarrer und stellvertretender Vorsitzender des Hessischen Flüchtlingsrates. Dies, sowie Rassismuserfahrungen in manchen dieser Länder, hätten dazu geführt, dass Menschen weiter geflüchtet sind. „Dublin konnte nicht funktionieren, da die Standards innerhalb Europas zu unterschiedlich waren“, kritisiert Schaffert.

Kirchenbänke

Wie weit darf die Kirche gehen? In Bayern eskalierte die Situation im Februar 2014, als erstmals seit 18 Jahren das Kirchenasyl missachtet wurde und es zu einer Räumung in einer Augsburger Pfarrei kam, die einer 38-jährigen Frau aus Tschetschenien und ihren vier Kindern Zuflucht gewährt hatte. „Das war ein großer Skandal und wir hatten keine andere Wahl, als die Presse über das damals an unserer Pfarrei laufende Kirchenasyl zu informieren, weil wir Sicherheit über die Öffentlichkeit gewinnen wollten“, berichtet Jesuit Dieter Müller und Mitarbeiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienst der Süddeutschen Zeitung.

Eine von Müllers Hauptaufgaben ist es, Kirchenasyle zu vermitteln und Gemeinden zu beraten. Meist sei es ein Unterstützerkreis der Geflüchteten, der sich auf der Suche nach einem Kirchenasyl an ihn wende. Wenn dann alle Informationen über Herkunftsland, Zielland und Fristen vorlägen, könnten Gemeinden oder Klöster angefragt werden. Grundsätzlich gelte die Regel: Kein Kirchenasyl ohne Anwalt – mit dem Ziel, ein faires Verfahren zu ermöglichen. „Die Meldung des Kirchenasyls und die weitere Kommunikation mit den Behörden sowie in einzelnen Fällen auch mit dem zuständigen Verwaltungsgericht ist in professionellen Händen besser aufgehoben als in denen einer Pfarrgemeinde. Finanziert werden die Anwälte bei Bedarf von uns“, so Müller.

Und sie müssten bei der Auswahl von Geflüchteten, egal welcher Religion sie angehören, die Fälle mit einer hohen Anerkennungschance auswählen. Menschen aus so genannten sicheren Herkunftsländern zählten beispielsweise nicht dazu. „Wenn das Asylverfahren in Deutschland absehbar mit einer Ablehnung endet, macht es wenig Sinn, die Betroffenen vorher ins Kirchenasyl zu nehmen. Ein Eritreer etwa hat gute Chancen, in Deutschland als Flüchtling anerkannt zu werden; ein Senegalese nur äußerst geringe. Bei eine begrenzten Zahl von Kirchenasylplätzen würden wir also dem Eritreer den Vorzug geben“, sagt Müller. So würden die Signale aus der Politik, was beispielsweise vermeintlich sichere Herkunftsstaaten angehe, auch Einfluss auf die Entscheidungen für die Aufnahme in ein Kirchenasyl nehmen.

„Das Kirchenasyl funktioniert, weil es ein Nischendasein hat“

„Bleiberecht für alle“, forderten deshalb zweihundert Menschen bei einer Demonstration im Frühjahr 2014 in Frankfurt am Main. Auch die Flüchtlinge aus der Gutleut-Kirche im Bahnhofsviertel waren unter den Demonstranten. Unterstützer/innen wie der „noborder Frankfurt“-Gruppe ist es wichtig, dass die Geflüchteten eine eigenen Stimme bekommen. In der Vergangenheit haben sie immer wieder mit den Kirchen zusammengearbeitet. „Das Kirchenasyl funktioniert, weil es ein Nischendasein hat“, sagt Paul Neumann*. „Bisher haben wir nur positive Erfahrungen gemacht, weil dort zwischen den Menschen auch viele persönliche Bindungen entstanden sind.“

In Zusammenarbeit mit der Geflüchteteninitiative „Refugees for Change" und verschiedenen Aktionsbündnissen gegen Abschiebung, der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" und den Pfarrer/innen Sabine Fröhlich und Ulrich Schaffert hatte die Gruppe 2014 in einem offenen Brief eine Umkehr in der europäischen Flüchtlingspolitik gefordert und die hessischen Kirchengemeinden dazu aufgerufen, sich stärker mit den Möglichkeiten des Kirchenasyls zu befassen, um mehr Schutzräume zu schaffen, da sich auch ein halbes Jahr nach dem Unglück von Lampedusa wenig verändert habe.

„Immer noch sterben Hunderte von Menschen an den Außengrenzen der Europäischen Union. Die umstrittenen Dublin-Verordnungen machen darüber hinaus diejenigen, denen die gefährliche Flucht gelingt, zu rechtlosen Spielbällen zwischen den europäischen Staaten. Auch in Hessen ist ein Großteil der Asylsuchenden von dieser Regelung betroffenen“, hieß es in dem offenen Brief.

Ein halbes Jahr später, im Januar 2015, folgte Kritik an den Kirchen und den Unterstützerkreisen. Innenminister Thomas de Maizière monierte eine zu hohe Zahl an Kirchenasylen – zu diesem Zeitpunkt waren es etwas mehr als 350 in Deutschland – und verurteilte sie als rechtswidrig. „Als Verfassungsminister lehne ich das Kirchenasyl prinzipiell und fundamental ab", zitierte ihn der Spiegel. De Maizière warnte vor einem Missbrauch und zog einen Vergleich mit der Scharia, indem er erklärte, dass auch Muslime nicht argumentieren dürften, dass für sie die Scharia über deutschen Gesetzen stehe. Der Streit wurde über einen Kompromiss zwischen den Kirchen und dem Bundesamt für Migration gelöst, die sich darauf einigten, dass die Kirchenvertreter die Möglichkeit bekommen sollten, ihre Fälle von Kirchenasyl noch einmal gesondert vom BAMF überprüfen zu lassen.

Neue Herausforderungen für die Kirchen

„Die Situation hat sich inzwischen entspannt. Wir konnten bei den meisten unserer Fälle deutlich machen, dass es sich um Härtefälle handelt, und das BAMF hat nach der Zweitprüfung eine Fehlbeurteilung eingeräumt und den Menschen Asyl gewährt“, sagt Niebch. Das habe die Kirchen in ihrer Argumentation bestätigt und vor allem die Ausweitung der Überstellung auf 18 Monate anstatt sechs Monate abgewendet, mit der de Maiziére den Kirchen gedroht hatte.

„Das Verfahren wird jetzt weiter geführt und in manchen Fällen hat das BAMF auch schon vorher eingelenkt und dann konnte die Person schon vorher aus dem Kirchenasyl entlassen werden“, so Niebch weiter. In ihrer „Handreichung zu aktuellen Fragen des Kirchenasyls“ schreibt die Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, dass das Kirchenasyl nur die letzte Möglichkeit zur Verhinderung drohender Menschenrechtsverletzungen sein könne. „In der Summe der vielen Einzelfälle, die wir vorliegen haben, lässt sich jedoch symbolisch etwas ausdrücken, was sich letztlich gegen die Dublin-Verordnung und gegen die extrem unterschiedlichen Asylstandards innerhalb der Europäischen Union richtet“, sagt Müller.

Liederbuch

Und Pfarrer Schaffert stellt fest, dass die Aufmerksamkeit für den Protest der Gemeinde um die Lampedusa-Flüchtlinge vor drei Jahren heute nicht mehr möglich wäre. Aktuell sind die Kirchen mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Mit der wachsenden Zahl der Geflüchteten haben Gemeinden und Klöster vermehrt ihre freien Räume den Behörden als Unterkunft zur Verfügung gestellt. „Damit kommen sie als Kirchenasyl nicht mehr in Frage. Unter einem Dach kann schlecht eine reguläre Unterbringung und gleichzeitig eine Unterbringung im rechtlichen Graubereich organisiert werden“, sagt Müller.

Ein komplexe Gemengelage, die für die Unterstützer von Project Shelter aus Frankfurt deutlich macht: „dass viele Schicksale von Geflüchteten gerade hinten runter fallen, weil zwischen Syrern und innereuropäischer Migration nicht unterschieden wird und es eine Ungleichbehandlung zwischen Neuankömmlingen und denen gibt, die in einem anderen europäischen Land erstregistriert wurden – zum Beispiel die Geflüchteten aus der Gutleutkirche“, sagt Lukas Bernhardt**.

Und genau dieser Gruppe gelte ihre Unterstützung. „Wir versuchen ein Bindeglied zu den Institutionen zu sein und die Bedürfnisse zwischen dem Wunsch nach Schlafplätzen und politischem Anspruch zu bündeln. Im Gegensatz zu 2014 ist da jetzt ein großer Mischmasch in der Debatte um Geflüchtete entstanden, der es schwierig mache, Forderungen zu formulieren, zumal die Stimmung auch aufgeheizt ist wie nie“, sagt Bernhardt. Auch Neumann von noborder stellt fest, dass die aktuelle Arbeit schwieriger geworden sei.

„Die Intensität und massive Zunahme der Anschläge auf Unterkünfte und Geflüchtete hat eine neue, erschreckende Qualität. Wenn mir das jemand vor zwei Jahren erzählt hätte, hätte ich das nicht geglaubt.“

 

* Wird auf Wunsch anonymisiert, weil niemand aus der Gruppe besonders hervortreten will.
** Möchte seinen Klarnamen nicht nennen.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Zivilgesellschaftliches Engagement“ aus der Reihe „Welcome to Germany“.