"Nur Essen austeilen alleine reicht nicht" - Turgay Ulu und Bino Byansi Byakuleka im Gespräch

Foto von Bino Byansi Byakuleka, einer der interviewten Aktivisten.
Teaser Bild Untertitel
Bino Byansi Byakuleka

Die „Willkommensinitiativen“ müssen sich mit den politischen Hintergründen von Flucht und Migration befassen und die Zusammenarbeit mit den selbstorganisierten Refugee-Bewegungen suchen, sagen Bino Byansi Byakuleka und Turgay Ulu im Interview mit Jan Ole Arps.

Turgay Ulu, 42, ist Journalist, Schriftsteller und Kommunist. Wegen seiner politischen Arbeit saß er 15 Jahre in der Türkei im Gefängnis, wo er auch gefoltert wurde. Nach seiner Freilassung im Jahr 2011 floh er über Griechenland nach Deutschland. Im Herbst 2012 war Turgay Ulu Mitorganisator des Marschs der Flüchtlinge von Würzburg nach Berlin, anschließend lebte er im Protestcamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz und engagiert sich seither in den Berliner Refugee Protesten.

Bino Byansi Byakuleka, 36, wurde in Kabale, Uganda geboren. Der Textilkünstler hat Industrial Art and Design in Kampala studiert. Wegen seines Einsatzes für die Rechte von Homosexuellen wurde er in Uganda verfolgt, 2010 beantragte er Asyl in Deutschland. Er lebte fast zwei Jahre im Flüchtlingslager in Breitenburg bei Passau. 2012 stieg er in die Refugee Proteste ein und zog ebenfalls in das Protestcamp auf dem Oranienplatz. Heute lebt er in Berlin-Neukölln, 2015 erschien sein Buch „Mein Name ist Bino Byansi Byakuleka“.

Beginnen wir mit dem vergangenen Sommer. Hunderttausende Menschen sind über die Türkei nach Griechenland und weiter durch Serbien, Ungarn oder die Länder des Balkans nach Norden gezogen. Die europäischen Grenzen sind zeitweise zusammengebrochen. An den Bahnhöfen haben Menschen den Geflüchteten applaudiert, Wasser und Kleidung gespendet. "Refugees Welcome" war plötzlich konsensfähig, „Flüchtling“ wurde Wort des Jahres. Wie habt ihr diesen Sommer der „Willkommenskultur“ erlebt?

Turgay Ulu: Angesichts der vielen Menschen, die aus Syrien in die EU geflohen sind, haben Merkel und andere Politiker zunächst viele schöne Dinge gesagt. Viele Menschen haben Wasser und Brot verteilt. Aber das ging nur die ersten Wochen so. In Wahrheit ist es schlimmer geworden.

Was ist schlimmer geworden?

Turgay Ulu: Ich koche mit einer Gruppe in dem Lager auf dem Tempelhofer Feld. Die Leute dort bekommen pro Monat 109 Euro. Essen können sie nicht selbst kochen. Es gibt keine richtige Toilette, keine Dusche. Vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Berlin schlafen jede Nacht 80 oder 100 Menschen auf der Straße, auch jetzt im Winter. Die rassistischen Angriffe auf Geflüchtete und Unterkünfte haben zugenommen. Vor ein paar Jahren war die Solidarität größer. Bei unseren Demonstrationen 2012 oder 2013 sind Hunderte, oft Tausende Menschen mitgelaufen. Jetzt gibt es eine neue Atmosphäre, nicht nur in Deutschland. Politik und Medien haben die Flüchtlinge mit Terrorismus und Islamismus in Verbindung gebracht. Es gibt immer neue rassistische und kolonialistische Gesetze.

Bino Byansi Byakuleka: Es gibt keine „Willkommenskultur“. Das ist Deutschland-Propaganda. 2012 haben wir unseren Protest gegen das Lagersystem gestartet. Von offizieller Seite ist nicht eine Person auf uns zugekommen und hat gefragt: Warum protestiert ihr hier? Können wir vielleicht eine Lösung finden? Nichts dergleichen. Von was für einer „Willkommenskultur“ sprechen wir also? Die Leute, die sich an den Bahnhöfen versammelt haben, interessieren sich nicht für unseren Kampf und unseren Probleme. Je mehr Flüchtlinge kommen, umso mehr Initiativen können Fördermittel beantragen. Aber sie machen vor allem Propaganda.

Propaganda?

Bino Byansi Byakuleka: Als die Willkommenswelle startete, erklärte zum Beispiel die Humboldt Universität in Berlin: Wir öffnen unsere Hörsäle für Flüchtlinge. Refugees sind frei, unsere Kurse zu besuchen. Später hieß es dann: Ihr könnt euch für die Kurse registrieren, aber keine Scheine machen, ihr kriegt keine Leistungsnachweise. Eine große Ankündigung, nichts dahinter, reine Propaganda. Warum interessieren sich die Leute nicht für die Gründe von Flucht? Warum demonstrieren sie zum Beispiel nie gegen die Waffenproduktion? Deutschland produziert massenhaft Waffen. Habt ihr hier Krieg? Niemand fragt, wo diese Waffen eigentlich landen. Und was ist mit unserer Wirtschaft? In meinem Heimatland Uganda kann ein Kleinbauer seine Produkte nicht im Supermarkt verkaufen. Wegen „Qualitätsstandards“. Meinst du, die Leute in Uganda haben sich das ausgedacht? Wir können mit den sogenannten entwickelten Ländern und ihren Märkten nicht konkurrieren. Unsere Eltern haben kein Geld, um unsere Ausbildung zu finanzieren. Heute zwingen Mitgliedstaaten der EU unsere Länder, Freihandelsvereinbarungen zu unterzeichnen. Wer profitiert davon? Sicher nicht die Menschen in Uganda oder Pakistan. Diese Abkommen sind im Interesse der Europäer. Die europäischen Kolonialmächte haben unseren Kontinent ausgeplündert. Dann haben sie ihn aufgeteilt und seinen Problemen überlassen. Das Morden und Töten in vielen Ländern ist eine Folge des europäischen Imperialismus und seiner Fortsetzung im Zuge der Globalisierung. Das sind die Zusammenhänge, die sich die sogenannten Helfer/innen vor Augen führen müssten.

Denkt ihr nicht, dass viele Leute, die sich in Willkommensinitiativen engagieren, sich menschlicher verhalten wollen als Politik und Pegida?

Turgay Ulu: Humanitäres Engagement ist wichtig. Aber es ist keine Lösung. Danach kommt die Abschiebung. Es muss etwas gegen Krieg unternommen werden, gegen Waffenexporte, gegen die Verschärfungen der Asylgesetze. Nur Essen austeilen alleine reicht nicht.

Turgay Ulu

Was denkt ihr, sind die Motive der „Helfer“?

Bino Byansi Byakuleka: Es geht um Jobs. Und billige Arbeitskraft. Denn wir bringen nicht nur Jobs für die Helfer, sondern auch billige Arbeitskraft für die deutsche Wirtschaft. Warum sollten sie sich für unsere politischen Anliegen interessieren? Sie sind zufrieden damit, uns zu „helfen“. Sie wollen uns nicht als menschliche Wesen sehen, die die gleichen Rechte haben. Für mich ist die „Willkommenskultur“ eine Kultur der Diskriminierung. Ehrlich gesagt, manipulieren die Helfer die Flüchtlinge sogar, indem sie ihnen das Gefühl vermitteln, hier wäre alles okay, während Innenminister Thomas de Maizière erklärt, man müsse die Gesetze verschärfen und die „schlechten Flüchtlinge“ schnell wieder loswerden.

Turgay Ulu: Es sind nicht alle Initiativen und Unterstützer gleich. Manche wollen wirklich helfen, aber sie haben keine Perspektive. Ein anderer Teil besteht aus NGOs, die Geld vom Staat bekommen. Sie machen nur humanitäre Unterstützung und überschreiten nie die Grenze des Erlaubten.

Bino Byansi Byakuleka: Ich wäre froh, wenn diese Initiativen sich bei den Verantwortlichen für unsere Anliegen einsetzen. Sie haben das Privileg, zum Beispiel in den Bundestag zu gehen. Warum gehen sie nicht dorthin und sagen: „Draußen vor dem Lageso leiden die Leute, sie sind bei dieser Kälte in Lebensgefahr. Ihr findet keinen Platz für sie? Bringen wir sie in den Bundestag, hier gibt es Platz!“

Warum denkt ihr, tun sie das nicht?

Bino Byansi Byakuleka: Es gibt hier eine Kultur, die Probleme zu ignorieren. Die Menschen wollen sich selbst nicht als Teil des Problems sehen, als Teil der Ursache, weshalb Menschen hierher kommen. Deshalb leisten die Deutschen lieber humanitäre Hilfe. Das Leben innerhalb dieses Systems macht es einem einfacher, humanitäre Hilfe zu leisten, als sich der politischen Dimension des Problems zu stellen. Denn die Ursachen in den Blick zu nehmen, hieße, sich mit dem eigenen Leben in der Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Was wäre eine politische Forderung, über die ihr gern sprechen würdet?

Bino Byansi Byakuleka: Die heutige Situation ist eine Folge des Kolonialismus. Damit sollten sich die Politiker beschäftigen. Das Leichteste wäre es doch, die Grenzen zu öffnen, so dass Leute kommen und gehen können, wie sie wollen – so wie ihr nach Belieben nach Afrika reisen könnt. Bleibt ihr denn dort? Nein, ihr geht wieder zurück. Es wäre andersrum genauso. Die Leute würden sich hier umsehen, vielleicht studieren, vielleicht versuchen, etwas Geld für ein Start-Up zusammenzukriegen. Dann gehen sie zurück. Die allermeisten wollen gar nicht bleiben. Die deutsche Bürokratie hält uns hier fest. Je mehr man die Bewegungsfreiheit einschränkt, desto eher werden die Leute versuchen, hier zu bleiben. Warum lässt Deutschland Flüchtlinge nicht einfach durchs Land reisen? Dann könnten sie, wenn sie in Passau keinen Job finden, weiter nach München, Berlin oder Kaiserslautern gehen. Oder nach Dänemark, Schweden, wohin auch immer.

Bewegungsfreiheit war schon eine der Kernforderungen der Refugee Proteste der letzten Jahre. Werden die aktuellen Entwicklungen eine neue Protestbewegung anstoßen?

Turgay Ulu: Es gibt keine Alternative dazu, dass Flüchtlinge selbst Widerstand organisieren. Auch die „Willkommensinitiativen“ müssen das wissen: Wenn es um Flüchtlinge geht, müssen Flüchtlinge selbst sprechen, Aktionen planen, sich organisieren. Es kann nicht nur eine Kampagne sein, die von Unterstützern organisiert wird. Kleidung, Wasser, Brot, das ist alles okay – aber wie lange? Die Leute, Flüchtlinge und Unterstützer, müssen für eine Änderung der Gesetze mobilisieren. Dass das möglich ist, hat die Refugee Bewegung gezeigt. Wir haben Verbesserungen bei der Residenzpflicht, bei den Essenspaketen erkämpft.

Die Refugee Proteste sind in der letzten Zeit kaum zu hören gewesen.

Turgay Ulu: Ja, wir sind gerade nicht sehr stark. Aber es gibt uns noch. Als wir damals den Marsch organisiert haben, haben wir jedes Lager besucht, an jede Tür geklopft. Sprache ist ein Problem, die Leute sind traumatisiert vom Krieg und von der Flucht, sie haben teilweise Angst, auf die Straße zu gehen. Aber sie müssen weitermachen. In Deutschland gibt es eine Million Flüchtlinge. Wir müssen für alle eine politische Lösung finden.

Wie könnten die Initiativen, die helfen wollen, sich sinnvoll einbringen?

Bino Byansi Byakuleka: All die Leute mit Doktortiteln, die Juristen, Ärzte, Lehrer und so weiter können ihre Position nutzen, um die Refugee Kämpfe zu unterstützen und Politiker unter Druck zu setzen.

Turgay Ulu: Wir müssen jetzt wieder an vielen Türen klingeln, aber nicht nur an denen von Flüchtlingen. Wir haben uns auch mit Initiativen gegen Zwangsräumungen und mit Studierendengruppen getroffen. Wir müssen mit anderen gesellschaftlichen Organisationen wieder eine große Bewegung organisieren.

Eine große Aufgabe.

Turgay Ulu: Jetzt herrscht eine neue politische Stimmung in der EU. Bei vielen Wahlen in europäischen Ländern haben rechte Parteien gewonnen. Auch in Deutschland ist mit Pegida eine rassistische Massenbewegung entstanden. Sie machen Demonstrationen mit 25.000 Leuten. Das Argument ist immer die „Flüchtlingskrise“. Aber die Flüchtlinge sind nicht die Krise. Warum fliehen so viele Leute in die EU, obwohl sie das Risiko kennen, auf der Flucht zu sterben? Sie gehen das Risiko ein, weil bei ihnen Krieg herrscht. Hinzu kommt die ökonomische Krise in der EU. Weil die europäische Politik eine linke Lösung blockiert, kriegen die rassistischen Strömungen Auftrieb. So ist es immer in Krisen: Entweder es gibt eine linke Alternative oder Rassismus.

Wie nehmt ihr die Berichterstattung in den Medien wahr? Es gab ja eine Menge Artikel, die zum Beispiel die Situation vor dem Lageso skandalisiert haben, sogar in der B.Z. oder der Bild-Zeitung. Es gab arabische Ausgaben verschiedener Zeitungen et cetera. Was denkt ihr darüber?

Bino Byansi Byakuleka: Ich denke, die Fakten konnten dieses Jahr einfach nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden. Aber diese Berichte sind die Ausnahme. Sieh dir die Berichterstattung über die Silvestervorfälle in Köln an.

Turgay Ulu: Auch viele Flüchtlingsfrauen – fast alle – haben sexistische Übergriffe erlebt, von der Polizei, von EU-Bürgern, asiatischen Männern, afrikanischen Männern, ganz egal. Viele sind vergewaltigt worden, auch von Polizisten. Welche Medien haben darüber berichtet? Die Aufregung jetzt gibt es nur, weil dieses Mal Flüchtlinge Täter waren.

Dieses Interview erschien in unserem Dossier „Zivilgesellschaftliches Engagement“ aus der Reihe „Welcome to Germany“.