"Die Realität kann einen sehr beflügeln oder unerwartet erschlagen"

Interview

Die Regisseurin Ayla Gottschlich hat mit Safiye Can und Hakan Akçit über filmische und alltägliche Auseinandersetzungen gesprochen und reflektiert dabei die politische Lage in der Türkei ebenso wie ihre Perspektive auf das "Deutschsein".

Filmografie

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Ayla Gottschlich

Die Regisseurin Ayla Gottschlich hat mit Safiye Can und Hakan Akçit über filmische und alltägliche Auseinandersetzungen gesprochen und reflektiert dabei die politische Lage in der Türkei ebenso wie ihre Perspektive auf das "Deutschsein".

Ayla Gottschlich ist 1982 in Berlin geboren und aufgewachsen. Mit 18 drehte sie ihren ersten Kurzfilm. 2004 folgte ihr erster Dokumentarfilm "Ein Kuckuck nimmt auch keine Dohle als Mann", mit dem sie erste Erfolge feiert. 2013 gründete sie zusammen mit drei Studienkolleginnen die Filmproduktion Soilfilms. Zur gleichen Zeit begann die Arbeit an dem abendfüllenden Dokumentarfilm CHRONIK EINER REVOLTE – EIN JAHR ISTANBUL, der in Co-Regie mit Biene Pilavci und in Zusammenarbeit mit ZDF - Das kleine Fernsehspiel und Arte entsteht.

Die vollständige Filmografie finden Sie hier.

Safiye Can und Hakan Akçit: Liebe Ayla, deine Filme haben schon zu deiner Studienzeit Aufmerksamkeit erregt. Der Film „Bana Bak“ („Schau mich an“, 2007) bekam das Prädikat besonders wertvoll und wurde von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden 2008 als „Dokumentarfilm des Monats“ ausgezeichnet. Gleichzeitig wurde er auch beim renommierten 45. Antalya „Altın Portakal“ (Die Goldene Orange) Filmfestival in der Kategorie Dokumentarfilm nominiert.

Wie kamst du zum Film? Wann reifte in dir der Gedanke diesen Beruf auszuüben?

Ayla Gottschlich: In der Schulzeit drehte ich einen Film mit zwei Schulfreundinnen für den Kunst-Leistungskurs. Wir hatten eine knappe Deadline und befassten uns zwei Wochen nur mit diesem Film. Das Ergebnis war ein zehnminütiger Experimentalfilm, schwarz weiß, im Stil des französischen Nouvelle Vague. Wir hatten so viel Spaß bei der Umsetzung der Ideen, und gerade die kurze Produktionphase verhalf uns dazu, diese Zeit intensiv zu erleben. Im Nachhinein würde ich sagen, das war die beste Schulaufgabe, die mir ein Lehrer in meiner Schullaufbahn gestellt hat.

Nach dem Abitur habe ich erst einmal nicht daran gedacht, dass man seine Zukunft auf etwas bauen kann, was Spaß macht. Als ich nach einem Semester Islamwissenschaften und Nordamerikanistik das praktische Arbeiten so sehr vermisste, landete ich kurzentschlossen bei einer kleinen kolumbianisch-deutschen Produktion, die mich wieder genauso in den Bann zog, wie der Kurzfilm in der Schule. Die Arbeit im Team in kürzester Zeit und das Unmögliche möglich zu machen, erfüllte mich. Ich brauchte keine anderen Hobbys mehr. Gleichzeitig gab es mir die Chance, in meinen eigenen Filmen Themen zu bearbeiten, die mich beschäftigten.

Warum aber gerade Dokumentarfilme? Was ist für dich das Besondere daran?

Die Idee zu meinem ersten Dokumentarfilm entstand aus dem einfachen Grund, dass das Thema, das mich umtrieb, in meinen Augen nur mit den Originalpersonen umzusetzen war. Hätte ich stattdessen Schauspieler eingesetzt, wäre die Idee verfehlt gewesen. Dokumentarfilm bedeutet ja auch die Suche nach Auseinandersetzung mit eben diesen (real existierenden) Menschen. Ausgangspunkt waren die rassistischen Sprüche meines deutschen Großvaters, die mich vor die Wahl stellten, entweder den Kontakt zu ihm abzubrechen oder dem Verhältnis eine Chance zu geben und Rassismus in der Familie zu thematisieren. Ich wollte meine Großeltern nicht an den Pranger stellen, ich wollte sie verstehen, aber das Gespräch vor der Kamera verlief dann doch so, wie ich es in einem Drehbuch niemals hätte schreiben können.

Die Realität kann einen sehr beflügeln oder unerwartet erschlagen. Das und viele existentielle Fragen, die mich im Alltag beschäftigen, binden mich an den Dokumentarfilm. Wobei ich dokumentarisches Arbeiten auch als Recherche für Spielfilme sehe, denn mit Spielfilmen kann man immer noch mehr Menschen erreichen. Die Masse möchte abends nach der Arbeit verzaubert werden und ihren eigenen langweiligen Alltag vergessen, die Realität ist oft zu hart. Genauso würdigen Film- und Fernsehförderungen den Dokumentarfilm nur mit einem Budget eines Hobbyfilmers. Unter Filmschaffenden bleiben sie die prekäre Gruppe. Auch wenn Dokumentarfilme nicht die Zahlen von Mainstreamfilmen erreicht, denke ich, dass der Dokumentarfilm sehr wichtig ist und viel mehr gefördert werden muss, denn er ist nicht nur gesellschaftlich, politisch wichtig, sondern kann kunstvoll und sehr humorvoll sein!

Deine Arbeit „Chronik einer Revolte – Ein Jahr Istanbul", die du in Koproduktion mit deiner Kollegin Biene Pilavci als Auftragsproduktion für ZDF und Arte drehtest, wurde mehrere Male im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Wie hast du die Gezi-Proteste erlebt? Hatte Gezi Auswirkungen auf die Politische Lage in der Türkei? Und wie empfindest du die jetzige Situation vier Jahre später?

Die Gezi Proteste waren für mich etwas Einmaliges. Die Solidarität und Kreativität unter den Menschen zu spüren und der gemeinsame Wille von Hunderttausenden zusammen für eine Sache einzustehen war faszinierend.

Gezi hat Auswirkungen auf die heutige Politik in der Türkei. Tayyip Erdoğan hat begriffen, dass viele unzufrieden waren und dies auch kundtaten. Aus Gezi ist zwar keine eigene Partei entstanden, aber die kurdische Partei HDP hat sich seitdem vielmehr geöffnet. Sie ist nicht mehr nur eine Partei für Kurden, sondern steht für alle ethnischen Minderheiten, LGBT und Frauen. Das führte dazu, dass sie bei den Parlamentswahlen im Sommer 2015 nicht nur von den Kurden, sondern von vielen anderen, hauptsächlich jungen Menschen aus den Großstädten gewählt wurde und den Einzug ins Parlament schaffte. Das ist auch ein Verdienst von Gezi.

Alles was danach passierte, ist dem Kalkül Tayyip Erdoğans zuzuschreiben: Um die Mehrheit im Parlament wieder zu erlangen, versetzte er das Land in Chaos und schürte Hass. So schlecht wie die Situation derzeit ist, frage ich mich, wo der Gezi Spirit geblieben ist. Kaum jemand traut sich zu demonstrieren und aus Angst verrät man nicht einmal mehr, seine Stimme der HDP gegeben zu haben. Im Osten hat ein Bürgerkrieg begonnen und im Westen der Türkei sind Kurden in der Gesellschaft wieder zur Zielscheibe geworden. Seit dem „Putschversuch“ hat wieder eine neue Zeitrechnung begonnen; ohne stichhaltige Gründe, bringt er aus seinen Augen „regierungsfeindliche“ Menschen hinter Gitter. Die meisten Menschen, die ich kenne, verlassen das Land, wenn sie die Möglichkeit haben. Es ist sehr, sehr traurig, mit anzusehen, wie aus der Aufbruchsstimmung von Gezi, in der es soviel Hoffnung gab, so eine finstere Zeit wurde.

 

TRAILER CHRONIK EINER REVOLTE - EIN JAHR ISTANBUL - Soilfilms Media GmbH

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Gab es im Nachhinein auch negative Kritik oder gar Anfeindungen aus der türkischen Community in Deutschland zu deinem Dokumentarfilm?

Ja, es gab Kritik und Anfeindungen von einem Lobbyverein der AKP in Deutschland. Sie haben die Volksbühne, in der wir die Premiere des Films gefeiert haben, aufgefordert, den Trailer zu entfernen, da sie ihn als Propaganda bezeichnet haben. Auch auf Twitter gab es Anfeindungen.

Die Protagonisten deiner Filme haben eines gemeinsam: Sie sind Ausgegrenzte, die am Rande der Gesellschaft leben und die neben dem alltäglichen Überlebenskampf auch mutig gegen Unterdrückung und Diskriminierung durch die Obrigkeit oder durch die Mehrheitsgesellschaft vorgehen. Gibt es einen bestimmten Grund, warum du dich gerade für diese Art von Protagonisten entscheidest?

Diese Menschen erzählen von der „anderen“ Perspektive, jene, die wir viel seltener in den Medien sehen, deshalb interessiert sie mich.

Was bedeutet der Migrationshintergrund für dich im Alltag und im Berufsleben? Welche Vor- und Nachteile hat der Zugang zu zwei oder gar mehreren Welten für deine kreative Arbeit?

Im Bereich Film spielt mein Migrationshintergrund keine große Rolle. Ich bin froh, dass ich nicht für ein konservatives Unternehmen mit konservativen Kollegen arbeiten muss. Das könnte ich nicht. In meinem Umfeld ist es das Gegenteil. Viele meiner Kollegen sind  genauso divers, und das gibt uns die Möglichkeit, über die Grenzen Deutschlands zu schauen und zu arbeiten. Doch wenn ich mit Jugendlichen arbeite, sehe ich, wie weit entfernt wir von einem „Diversen Deutschland“ sind. Es ist nur der Kosmos, in dem ich mich bewege. Die jungen Menschen mit Migrationshintergrund brauchen viel mehr Vorbilder verschiedener Ethnien, damit sie sich identifizieren können.

In den Staaten gibt es Vorbilder wie Martin Luther King und Malcom X, die auch hier in Deutschland Vorbilder für Jugendliche sind, aber als Bezug zum eigenen Leben, dann doch nicht greifbar genug sind. In meiner Generation sind viele abgedriftet, weil sie außer „Gangster“ keine Rollenbilder hatten. Wenn dir in den Medien nur erzählt wird, dass alle Ausländer kriminell sind und du merkst, dass allein dein Name ein großes Hindernis ist, ist das sehr frustrierend und nicht förderlich. Schön wäre es, wenn man deutsch sein kann, ohne die andere Kultur ablegen zu müssen.

Du hast gemeinsam mit drei Kolleginnen die Produktionsfirma Soilfilms gegründet. Wie kam es zu diesem Zusammenschluss?

Wir sind vier Frauen und kennen uns aus dem Studium, das heißt seit über 13 Jahren.

Dieser Schritt hat für uns nach dem Studium am meisten Sinn gemacht. Es war ein harter Weg, da wir ohne jegliches Kapital gestartet sind. Das Kapital sind unsere Ideen und unsere Kraft, das Netzwerk und der Zusammenhalt. Als Freelancer bist du auf dich allein gestellt. Mit einer Firma fängst du an, an die Gemeinschaft zu denken. Und gemeinsam die Früchte der Arbeit zu ernten, macht auch viel mehr Spaß!

Vielen Dank für das Interview.

 

Das Gespräch führten Safiye Can und Hakan Akçit im Februar 2017.