Jannis Plastargias ist Kulturaktivist, Autor, Blogger, Eventmanager und Sozialarbeiter. Im Gespräch mit Safiye Can reflektiert er seine literarische Arbeit über die Bewegung Rote Zelle Schwul und den aktuellen gesellschaftspolitischen Umgang mit LGBTIQ* im Kontext von Flucht und Migration.
Safiye Can: Lieber Jannis, du bist Autor, Herausgeber, Blogger und arbeitest aktuell für den Internationalen Bund im Jugendmigrationsdienst. Du bist in Kehl geboren; was hat dich nach Frankfurt verschlagen?
Jannis Plastargias: Hallo liebe Safiye, tja, meine damalige Liebe wohnte in Wiesbaden und so beschloss ich, ein Jobangebot in Frankfurt anzunehmen und das beschauliche Karlsruhe nach schönen Studienzeiten zu verlassen. Das war Anfang 2005. Die Trennung folgte zwar recht bald, wurde aber von der Liebe zur Stadt Frankfurt abgelöst.
Meine damalige Liebe wohnte in Wiesbaden und so beschloss ich, ein Jobangebot in Frankfurt anzunehmen und das beschauliche Karlsruhe nach schönen Studienzeiten zu verlassen. Das war Anfang 2005. Die Trennung folgte zwar recht bald, wurde aber von der Liebe zur Stadt Frankfurt abgelöst.
Kannst du uns von dem Projekt Jugendmigrationsdienste im Quartier berichten, das du als Sozialarbeiter betreust?
Im Modellprojekt Jugendmigrationsdienst im Quartier wird an 16 Modellstandorten erprobt, wie die Lebenssituationen und -welten der Bewohner*innen verbessert und das soziale Zusammenleben gestärkt werden können. Dabei ist unsere primäre Zielgruppe junge Menschen zwischen 12 und 27 Jahren mit Migrations- oder Fluchthintergrund. Sie sollen das gesellschaftliche Leben mitgestalten, sich einbringen, und dieses Ziel versuchen wir anhand von Mikroprojekten zu realisieren.
"Mich interessierte es, tiefer einzudringen und die jungen Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen."
Das können Foto-Aktionen mit anschließender Ausstellung, Filme, sportliche Aktivitäten, Bildungsreisen oder Workshops zu verschiedenen religiösen, philosophischen oder politischen Themen sein. Wir haben zum Beispiel mit einer Intensivklasse der Paul-Hindemith-Schule (IGS) ein Foto- und Textbuch zum Thema #ichbinjetzthier gestaltet, das wirklich wundervoll und überraschend geworden ist. Ich habe natürlich großes Glück, dass ich dieses Projekt im gut vernetzten Frankfurter Gallus machen darf und dass ich eine wirklich tolle Leitung, Sarah Bender, habe, die mich einfach tun lässt.
Eines deiner Projekte mit jungen afghanischen Flüchtlingen war Die Suche nach dem Glück im fremden Haus. Hierbei ging es um das Drehen eines Dokumentarfilms. Welche Erfahrungen habt ihr während dieser Arbeit gemacht?
Damals arbeitete ich noch in der Beratungsstelle für Asylbewerber*innen und betreute vor allem junge Afghanen der Jahrgänge 1997 und 1998. Mir fiel auf, dass diese Gruppe mit einer Vielzahl von Problematiken zu kämpfen hatte, Traumatisierung, Trennung von der Kernfamilie, drohende Abschiebung sind nur drei der großen Themen gewesen.
Mich interessierte es, tiefer einzudringen und die jungen Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Sie sollten die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe bekommen. Fast alles an diesem Film, der in Kooperation mit Sabine Hoffmann vom Gallus Zentrum entstand, haben die jungen Menschen selbst gemacht, sprich: Skript, Überlegen der Interview-Fragen, die Interviews an sich, Dramaturgie, Kamera und Ton – nur beim Schnitt musste Jana Schlegel vom Gallus Zentrum Hand anlegen.
Es gab viele wunderbare Momente während des Projektes, das dann im Jahr darauf seine Fortsetzung fand. Die jungen Afghanen interviewten ja auch andere Geflüchtete – und die fühlten sich das erste Mal gehört in Deutschland. Wir diskutierten viel mit den Jugendlichen, während wir uns die Aufnahmen anschauten; es entstanden viele Diskussionen über das Leben in Afghanistan und Deutschland. Und diese Diskussionen gingen dann bei unseren öffentlichen Film-Vorstellungen weiter. Die jungen Menschen hatten viel Presse, konnten an den Film-Abenden mit einer Menge Menschen ins Gespräch kommen und alle Beteiligten (auch die vielen Zuschauer*innen) nahmen viel für ihr weiteres Leben mit.
Du bist ja auch Herausgeber von verschiedenen Anthologien. Was sind hier die Schwierigkeiten, die auf einen zukommen und auf was sollte man als Herausgeber achten?
Die Arbeit als Herausgeber macht großen Spaß und ich würde gerne mal wieder ein solches Projekt übernehmen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass Herausgeber*innen sehr strukturiert und organisiert sein müssen, sie dürfen nie den Überblick verlieren und zum Beispiel in irgendeine Richtung abdriften. Sonst werden Anthologien willkürlich und uninteressant.
Sie müssen alles zusammenhalten und miteinander koordinieren und verbinden. Vielleicht fällt es manchen Herausgeber*innen auch schwer, Kolleg*innen zu sagen, dass sie die geschickten Texte einfach nicht haben möchten, weil sie nicht passen oder weil sie vielleicht auch qualitativ den Ansprüchen nicht gerecht werden.
2015 ist das Buch RotZSchwul – der Beginn einer Bewegung 1971-1975 erschienen, in dem du die Ereignisse um die Bewegung Rote Zelle Schwul aufarbeitest. Wie bist du bei der Recherche vorgegangen? Wie wichtig waren Gruppen wie RotZSchwul oder HAW (Homosexuelle Aktion Westberlin) für die Emanzipationsbewegung der Homosexuellen? Findet eine ähnliche Politisierung wie damals auch heute statt?
2012 – 2014 war ich Stipendiat der Stiftung Polytechnische Gesellschaft in Frankfurt mit diesem Thema. Ich war zuerst eher zufällig darauf gestoßen: als ich für meinen Blog etwas recherchierte, stieß ich auf Hans-Peter Hoogen und in dessen Wikipedia-Artikel wurde die RotZSchwul genannt – ich klickte auf die Markierung, aber es gab keine weitere Information zu dieser Gruppierung.
Mich interessierte jedoch diese Rote Zelle Schwul – und so fragte ich Hans-Peter Hoogen an, ob er sich mal mit mir treffen wolle. Er lud noch weitere RotZSchwule ein und wir redeten das erste Mal miteinander. Schon da kam der Wunsch auf, dass das Ergebnis meiner Forschungen ein Buch sein sollte, das beim Quer Verlag erscheint.
"Die RotZSchwulen waren besondere Menschen, die mit viel Mut und Kreativität Homosexualität sichtbar in unserer Gesellschaft machten."
Der Vorteil als Stipendiat war, dass ich regelmäßige Workshops und Stammtische besuchen durfte, die mir halfen, meine Arbeit zu strukturieren. Ich hatte am Anfang viel Zeit in Archiven verbracht und viele Kopien gemacht, ich hatte ungefähr zehn Mal so viel Material wie alle anderen Stipendiaten. Dann nahm ich die Interviews auf und hatte plötzlich Dutzende Stunden Audios, die ich auch noch transkribieren musste.
Die erste Aufgabe nach dieser ganzen Sammlung war eine Gliederung und das Sortieren. Es war eigentlich ein Wunder, dass das Buch dann doch so dünn geworden ist. Mir war es bei dem Werk wichtig, dass ich die Leser*innen mit auf meine Reise in die Siebziger Jahre nahm. Daher ist das Buch in einer etwas eigentümlichen Form geschrieben, Michael Holy, einer der RotZSchwulen nannte meine Schreibweise „traumartig“.
In diesem Buch wollte ich einerseits den immensen Stellenwert der RotZSchwul für die Emanzipationsbewegung darstellen, andererseits wollte ich diese Alltagshelden auch als normale Menschen in einem bestimmten Lebenskontext beschreiben. Es ist nicht so, dass ich ihnen den Zauber der Siebziger Jahre nehmen wollte, es war eher so, dass ich versuchen wollte, diesen Zauber zu verstehen, diese Filterblase, in der sie ja lebten, für die Menschen und natürlich vor allem auch für mich verständlich zu machen.
Dafür wollte ich diese Zeit, genauso wie sie wirklich war, schildern. Vielleicht macht es das Buch interessant, dass ich an manchen Stellen an meinen eigenen Ansprüchen scheiterte. Oder dass es nicht den Ansprüchen der RotZSchwulen gerecht wurde, die etwas anderes von mir erwarteten.
Die RotZSchwulen waren besondere Menschen, die mit viel Mut und Kreativität Homosexualität sichtbar in unserer Gesellschaft machten. Doch sie waren Ausnahmen. So wie alle anderen Studierenden damals, die sich in verschiedenen Zellen und als Hausbesetzer*innen zusammentaten. Sie können nicht hoch genug geschätzt werden, aber sie waren nicht die Mehrheitsgesellschaft.
Was ich damit sagen möchte: Es war damals eine Minderheit in der Community, die Krawall und Remmidemmi gemacht hat und so ist das bei der heutigen LSBTIQ-Jugend nicht anders: einige wenige sind sehr politisiert und bewegen so einiges, doch sie sind eben nicht die Mehrheit. Immerhin beteiligt diese sich an den immer zahlreicher werdenden CSDs in Deutschland – das nehme ich als gutes Zeichen.
Lass uns über aktuelle Ereignisse reden. Was ist deine Sicht hierzu: Mitte August 2018: Im Ablehnungsbescheid des BFA (Bundesamt für Fremdwesen und Asyl) eines 18 Jahre alten afghanischen Asylbewerbers, der aufgrund seiner Homosexualität Schutz in Österreich sucht, sind Begründungen zu lesen wie: „Weder Ihr Gang, Ihr Gehabe oder Ihre Bekleidung haben auch nur annähernd darauf hingedeutet, dass Sie homosexuell sein könnten.“
Diese Begründung ist natürlich ein Unding und absolut menschenfeindlich, es erinnert mich stark an die Nazi-Zeit und wie man Juden und Arier charakterisieren wollte.
Leider musste ich als Berater ganz viele absurde Begründungen vom BAMF, dem deutschen Pendant, lesen, die mich abwechselnd sehr traurig oder sehr wütend machten. Diese Entscheider*innen wissen oft nicht, was sie bei den Geflüchteten anrichten, mit denen sie ein bis zwei Stunden verbringen, in einer Prüfungssituation, mit Dolmetscher*innen, die gar nicht für so eine Situation ausgebildet sind – genauso wenig übrigens wie viele derjenigen, die in den letzten Jahren diese wichtigen Interviews mit den Geflüchteten führten.
"Wir unterscheiden uns alle voneinander und das ist unser gutes Recht, ein Grundrecht sogar."
Da kommt so viel zusammen! Ganz sicher waren viele Fehler, die begangen wurden, nicht mut- oder böswillig, jedoch wären sie mit mehr und besserer Organisation zu verhindern gewesen. Wenn anwesende Dolmetscher*innen die falsche afghanische Sprache beherrschten und trotzdem das Interview geführt wurde – als kleines idiotisches Beispiel. Und natürlich gibt es in jedem Job einzelne Menschen, die gänzlich ungeeignet für ihre Arbeit sind – das sieht man in diesem Fall leider besonders drastisch.
26. August 2018: Der Papst sagt während einer Pressekonferenz im Flugzeug zum Thema Homosexualität: "In welchem Alter zeigt sich diese Unruhe des Kindes? Das ist wichtig. Eine Sache ist, wenn es sich als Kind zeigt, wenn es so viele Dinge gibt, die man tun kann mit Psychiatrie (…), um zu sehen, wie es um die Dinge steht." Angesichts solcher Ereignisse ist der Titel des Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt vom Regisseur Praunheim immer noch aktuell?
Also, es gibt ja wohl einen Grund dafür, dass ich Agnostiker bin. In vielen Religionen, das ist nun mal Fakt, ist Homosexualität eine Sünde, zumindest steht es in den Schriften so, mehr oder weniger. Es ist aber unredlich, als Papst von Homosexualität als eine (psychische) Krankheit zu sprechen, wir haben immerhin nicht mehr die Sechziger Jahre. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis.
Rosa von Praunheims Film war ja damals der Anstoß für die RotZSchwulen und für alle anderen Schwulengruppen wie die HAW diese Emanzipationsbewegung endlich zu beginnen. Daher habe ich ihn mir vor nicht allzu langer Zeit mal wieder angeschaut. Und er ist tatsächlich nach wie vor aktuell und wichtig. Martin Dannecker, der auf dem Cover meines Buches ist, hatte am Drehbuch mitgearbeitet. Fragen, die damals aufgeworfen wurden, sind immer noch nicht vollständig beantwortet bzw. werden immer wieder neu gestellt. Ich meine damit zum Beispiel Beziehungs- und Lebenskonzepte von schwulen Männern in Abgrenzung zu heteronormativen Vorbildern.
Es ist schade, dass wir noch im Jahr 2018 über so viele selbstverständliche Dinge diskutieren müssen, darüber, ob Homosexualität heilbar ist oder wo sie herkommt oder sonstwas in diese Richtung. Es gibt Menschen, die nicht diesem heteronormativen Spektrum angehören, das ist gut so und das ist kein Diskussionspunkt! Wir unterscheiden uns alle voneinander und das ist unser gutes Recht, ein Grundrecht sogar – Die Würde des Menschen ist unantastbar!
Religionen sollten, wenn es sie schon gibt, für Frieden unter den Menschen sorgen und nicht noch mehr Hass verbreiten, sie sollten Brückenbauer sein und nicht Hassverwalter.
Angesichts der Ereignisse in Chemnitz (27.8.2018) scheint die MeTwo-Debatte längst überfällig zu sein. Hast du als deutscher Autor mit griechischen Wurzeln Rassismus erlebt? Würdest du sagen, dass es generell einen latenten Rassismus in Deutschland gibt, der sich auch als institutioneller Rassismus bemerkbar macht?
Über diesen institutionellen Rassismus muss man ja auch nicht viel reden, der wurde schon vor vielen Jahren in den PISA-Studien belegt und in der pädagogischen Forschung diskutiert. Natürlich zieht sich das auch durch die Hochschulen (und Schreibschulen), es wäre ja ein Wunder, wenn dies nicht so wäre.
Ich selbst tue mich schwer, andere Menschen des Rassismus in Bezug auf mich zu bezichtigen. Wenn ich in der Vergangenheit das Gefühl hatte, in irgendeiner Form rassistisch oder homophob behandelt worden zu sein, habe ich das bisher persönlich angesprochen und geklärt.
"Durch die Wahrnehmung anderer hat sich auch meine Wahrnehmung von mir selbst in den letzten Jahren verändert."
Ich habe griechische Wurzeln und ich habe viel über meine eigene Identität nachgedacht, natürlich, das blieb nicht aus. Doch da ich in meinem Brotberuf stets Klient*innen betreuen durfte, die viel mehr und ärgere Rassismus-Erfahrungen durchleiden mussten, war es für mich sehr oft das Problem der Anderen und ich musste meine eigenen Erfahrungen ein bisschen hintenanstellen und auch etwas davon abstrahieren.
Als ich mitten in den Studien zur interkulturellen Erziehung und Kommunikation steckte, hatte ich einen großen Aha-Moment mit einer Freundin afro-deutscher Herkunft, der alles relativierte, was ich jemals erlebt hatte. Mit dieser wunderbaren Freundin lernte ich noch mehr Ebenen zu realisieren – Stichwort Mehrfachdiskriminierung – und zwar auf eine so drastische Weise wie ich es zuvor nicht geglaubt hätte.
Durch die Wahrnehmung anderer hat sich auch meine Wahrnehmung von mir selbst in den letzten Jahren verändert. Ich traue mich nicht mehr, meine Diskriminierungserfahrungen mit den Persons of Colour, die ich betreue oder die ich meine Freund*innen nennen darf, zu vergleichen. Denn ich bin nicht der, der in einem Racial Profiling im Zug oder Bus kontrolliert wird, mit mir wird nicht in schlechtem Deutsch geredet, mich schikaniert man nicht in Behörden ...
Oft sehe ich mich dann eher als derjenige, der auf Dinge aufmerksam machen muss, und als derjenige, der die anderen unterstützt und ihnen Mut zuspricht. Ich bin vielleicht sogar der gut integrierte Deutsche, den AFD-Anhänger*innen vermutlich als Freund haben möchten. Das gilt umgekehrt natürlich nicht!
Welche Projekte hast du für die Zukunft? Arbeitest du aktuell an einem literarischen Text?
Beruflich darf ich in meinem zweiten Projekt noch enger mit Schulen zusammenarbeiten. Da geht es ganz stark um mehr politische Bildung im Unterricht und um Empowerment der Schüler*innen. Wir kriegen wie in dem oben genannten Projekt als „Respekt Coaches“ Geld von einem Bundesministerium, um Workshops, Seminare, AGs in Schulen zu organisieren. Wir wollen damit jegliche Form von Extremismus bekämpfen, die Jugendlichen stärken, mehr Verantwortung zu übernehmen, eigene Entscheidungen zu treffen und andere Menschen mit ihren unterschiedlichen Meinungen zu respektieren.
Natürlich arbeite ich nebenher immer an eigenen literarischen Texten. Ich schreibe gerade an einem Roman, in dem ich tatsächlich meine eigene Identitätsfindung anhand eines fiktiven Charakters aus mehreren Perspektiven beleuchte. Alle Themen, die hier in diesem Interview auftauchen, werden da quasi intensiv aufgearbeitet. Das hört sich ein bisschen nach einer Autobiografie an, ist es jedoch nicht, auch wenn vieles natürlich an mein eigenes Leben angelehnt ist.
Was würdest du auf keinen Fall mitnehmen, wenn du auf eine einsame Insel müsstest?
Eine Badehose?
Ich danke für dieses Interview!
Diese Interview führte Safiye Can im September 2018.