"Pluralität ist in unserer Verfassung verankert"- Interview mit Naika Foroutan

Interview

Ein Gespräch mit der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, Leiterin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), über ihr neues Buch „Die postmigrantische Gesellschaft“ und das unerfüllte Gleichheitsversprechen pluraler Demokratien.

Potrait der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan
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© Foto Rasmus Tanck

Valentin Feneberg: Naika, Ausgangspunkt deines Buches ist ein „akuter Identitätsstress“, eine „große Gereiztheit“, die du in der liberalen, westlichen Gesellschaft beobachtest. Worin besteht diese Gereiztheit?



Naika Foroutan: Obwohl an der Oberfläche alles gut zu sein scheint, spüren die Menschen, dass etwas nicht stimmt. Den Grund dafür sehe ich in dem, was ich „normatives Paradoxon“ nenne: Als Demokratinnen und Demokraten haben wir bestimmte Werte verinnerlicht und in unser Selbstbild überführt. Dieses Selbstbild als aufgeklärte, gleiche Bürgerinnen und Bürger wird nun massiv gestört durch ein zunehmendes Wissen über frappierende soziale Ungleichheiten.

Das Gleichheitsversprechen der Demokratie trifft empirisch für sehr viele Menschen nicht zu. Meine These ist: Dieser Widerspruch zwischen verinnerlichter Norm und empirischer Realität wird für die Mitglieder der Gesellschaft immer spürbarer und führt zu einer großen Gereiztheit.



Das klingt in erster Linie nach einer sozialen Frage, nicht nach Migration. Du beschreibst nun aber Pluralität als zentrale Bezugsgröße, entlang derer gesellschaftliche Debatten sich bewegen. Warum dieser Fokus?



Ich möchte zeigen, dass Pluralität kein neues Phänomen des 21. Jahrhundert ist. Bereits das Grundgesetz gründet auf dem Versprechen der Pluralität, ja schon das Deutsche Reich war in seiner Gründung eine plurale Gesellschaft aus verschiedenen Teilstaaten, Religionen, Kulturen und auch Sprachen. Das zeigt auch, dass es nicht selbstverständlich ist, wenn wir heute Zugehörigkeit so stark über Sprache definieren. Wir vergessen, dass dieses Land existieren konnte mit vielen nebeneinander existierenden Sprachen.



Wird Pluralität denn heute eher als Gefährdung aufgefasst?



Genau. In dem Moment, in dem die Leitidee der Pluralität – die nicht einfach nur in einer Vielzahl von miteinander lebenden Menschen besteht, sondern vor allem in der Idee einer Vielzahl politischer Subjekte gründet, denen die gleichen Rechte zustehen - umgesetzt werden soll, gibt es viele Menschen, die sich dagegen wehren oder der Meinung sind, ihnen stehen privilegiertere Positionen zu, als jenen, die später gekommen sind.

Aber Pluralität als politische, rechtliche und symbolische Gleichheitsgrundlage ist in unserer Verfassung verankert. Allein die ersten fünf Artikel des Grundgesetzes sind genuin plural. Es geht ganz vorne los, bei der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Oder das Gleichheitsversprechen aus Artikel 3. Da geht es nicht in erster Linie um Migration. Wenn wir Pluralität umsetzen, machen wir im Grunde nur das, was wir uns 1949 versprochen haben.



Aber warum dann ein Buch über die „Postmigrantische Gesellschaft“ und nicht etwa über das alte Versprechen der Pluralität? Warum dieser Begriff?



Das „Postmigrantische“ ist die Aufforderung, hinter das dominante Migrationsparadigma zu schauen und Pluralität viel weiter zu denken. „Der Migrant“ ist gewissermaßen eine diskursive Kunstfigur, anhand derer sich die Debatte um Pluralität führen lässt. Aber diese Dominanzfigur ist letztlich nicht mehr als eine Chiffre für den Umgang mit Pluralität und damit für das Gleichheitsversprechen der Demokratie. Pluralität betrifft noch ganz andere Bereiche, etwa sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Kategorien. Im „Migranten“ verdichtet sich dieser Diskurs, eben weil das eine relativ konkrete und greifbare Figur ist.



Aber rückst du damit nicht Migration wieder in den Mittelpunkt, obwohl du sie eigentlich nur als Chiffre für etwas anderes entschlüsseln willst?



Ich will Migrant*innen nicht unsichtbar machen, im Gegenteil. Ich bin der Meinung, dass jetzt die große Zeit der Sichtbarkeit gekommen ist, für sehr viele marginalisierte Gruppen. Nicht umsonst finden die Kämpfe um Repräsentation oder Quotierung zeitgleich für andere Gruppen statt. Siehe die Debatte um eine Ostquote oder die Frauenquote. Diese Gruppen begehren also auf gegen den Widerspruch zwischen Gleichheitsversprechen und Anerkennungsdefizit. Sie spüren das demokratische Paradoxon und gehen dagegen vor.



Ab welchem Zeitpunkt kam dabei in Deutschland die postmigrantische Perspektive zu tragen?



Das war etwa ab Beginn der Nullerjahre, als Deutschland sich erstmals als Einwanderungsland verstanden und bezeichnet hat. Ab diesem Moment rückten Forderung aus dem vorpolitischen, moralischen Raum in das politische Zentrum. Migrant*innen und ihre Nachkommen wurden damit zu politischen Subjekten, denen bestimmte Rechte legitimerweise zustehen. Sie fordern, in das Gleichheitsversprechen aufgenommen zu werden.

In einer Gesellschaft, die sich in dem beschriebenen Widerspruch zwischen rechtlich versprochener Gleichheit und tatsächlicher Ungleichbehandlung befindet, gibt es nun zwei Möglichkeiten. Entweder, ich versuche als Einzelne oder als politische Entscheidungsinstanz, der Norm besser zu entsprechen, indem Ressourcen mobilisiert werden. Oder: Die Norm wird abgesenkt, um die kognitive Dissonanz abzuschwächen. Mit letzterem haben wir es in jüngster Zeit zu tun.



Inwiefern?



Etwa, wenn vor den Küsten des aufgeklärten, freiheitlichen Europas im Jahr 2018 tausende Menschen ertrinken. Und wir mit einem Autokraten wie Erdogan aushandeln, wie er uns die Migranten vom Leib hält. Das ist eine sichtbare politische Normabsenkung. Die Gefahr, die dabei besteht, ist, dass Europa sein Selbstbild dann entsprechend dieser Normabsenkung angleichen muss.



Aber wird an diesem Beispiel nicht deutlich, dass in Europa gerade ganz stark zwischen verschiedenen Formen der Migration unterschieden wird? Auf der einen Seite die zugewanderte Fachkraft oder der politische Schutzsuchende, auf der anderen Seite die Menschen, die als „Wirtschaftsflüchtlinge“ diffamiert werden: Was bedeutet diese Unterscheidung für das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft?



In dem Konzept geht es nicht so sehr um die Migration an sich, um ihre verschiedenen Arten. Die Frage ist eher: Was passiert danach, wenn die Leute da sind?



Aber ob Menschen als „legitime“ oder „illegitime“ Zugewanderte kategorisiert werden, betrifft doch ganz stark das, was für sie nach der Migration kommt.



Die Frage nach dem Menschenrecht auf Mobilität und nach offenen Grenzen berührt aber eine andere Debatte. Mir geht es darum zu erkunden, was passiert, wenn aus dem moralischen ein politisches Subjekt wird und wie dieses politische Subjekt in den Aushandlungsraum der Gesellschaft eintritt. Welche Mitbestimmungsrechte hat dieses Subjekt? Was passiert, wenn ihm systematisch Teilhabe verweigert wird? Oder, wenn soziale Mobilität in Ansätzen gelingt?



Und, was passiert?



Zu beobachten ist etwa, dass Konflikte auch dort entstehen, wo der Aufstieg von Migrant*innen gelingt. Wir haben empirische Hinweise darauf gefunden, dass sich Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft – gleich ob sie selbst Migrant*innen sind oder nicht - bedroht fühlen von dem Aufstieg marginalisierter Gruppen. Und schon sind wir wieder beim demokratischen Paradoxon: Das Gleichheitsversprechen wird von allen theoretisch befürwortet, in der Praxis aber von vielen verweigert bzw. als Bedrohung empfunden.



Was kann dagegen unternommen werden? Wo liegen für dich die größten Baustellen, um das Anerkennungsdefizit zu mindern und das Gleichheitsversprechen der pluralen Demokratie zu verwirklichen?



Wir brauchen ein neues Integrationskonzept. Es ist nicht mehr haltbar in einer Gesellschaft, in der knapp 40 Prozent der schulpflichtigen Kinder einen Migrationshintergrund haben, Menschen entweder als Migrant*innen, die Integrationsleistungen zu erbringen haben oder als Einheimische, die bereits integriert seien, zu betrachten. Die Frage muss von der Akteursperspektive in die Systemperspektive gewendet werden: Welche Ziele muss sich eine integrative Gesellschaft setzen?

Und welche wären das?



Ich habe versucht, das anhand von drei Kernprämissen, nach denen Menschen streben, zu verdeutlichen: Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe. Anerkennung bedeutet vor allem die Anerkennung und Benennung von Ungleichheiten in unserer Gesellschaft. Dazu können wir als Forschende beitragen. Die Politik muss dahingehend unsere Ergebnisse annehmen und daraus ein Konzept für Chancengleichheit erarbeiten, in dem konkrete Ziele formuliert sind, etwa, wie hoch der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte, Frauen, Ostdeutschen etc. bei bestimmten Arbeitsmarktpositionen, Elitenstellen, sichtbaren Berufen oder dem öffentlichen Dienst sein soll.



Und die Teilhabe?



Teilhabe muss vorerst über Quotenregelungen ermöglicht werden, insbesondere mit Blick auf die politische Repräsentation in den Parlamenten. Ich weiß, dass Quoten in Deutschland unbeliebt sind. Deshalb sollten sie nur ein Regulationsprinzip für einen definierten, absehbaren Zeitraum sein. Danach kann man sehen, ob vorher marginalisierte Gruppen die nötigen Netzwerke aufbauen konnten, um dann die Starrheit der Quote wieder abzuschaffen.

Das Interview wurde geführt von Valentin Feneberg.