Für die meisten Migrant*innen in Westdeutschland waren die Ereignisse in der DDR 1989/90 ebenso überraschende Entwicklungen wie für die Mehrheit der Bundesbürger*innen. Ob sie als „Gastarbeiter*innen“ ins Land geholt worden waren und bereits lange hier lebten oder als Asylsuchende Zuflucht gesucht hatten, für jene Ausländer*innen, die von außerhalb der Europäischen Gemeinschaft in die alte Bundesrepublik eingewandert waren, stellte sich mit der deutschen Einheit die Frage: Was wird jetzt aus uns?
Die sogenannte Ausländer-Frage in der alten Bundesrepublik
Das der deutschen Einheit vorangegangene Jahrzehnt, die 1980er Jahre, war davon geprägt, dass Einwanderung zunehmend ein Bestandteil der westdeutschen Lebenswirklichkeit wurde. Allerdings wurde gegen diese Realität erheblicher Widerstand mobilisiert. Im berüchtigten „Heidelberger Manifest“ bundesdeutscher Professoren aus dem Jahr 1981 wurde mit offen rassistischer Terminologie gegen jede Form nichtdeutscher Einwanderung polemisiert. Dem entsprachen die Rückkehrforderungen aus den Unionsparteien beziehungsweise der seit 1982 regierenden konservativ-liberalen Koalition im Bund. Mit einer Art „Kopfprämie“ sollten insbesondere türkische Einwandererfamilien zur dauerhaften „Heimreise“ bewegt werden.
Diese Entwicklung ging einher mit dem Aufstieg der rechtsradikalen „Republikaner“ und rassistischen Angriffen auf Eingewanderte. Schon im August 1980 wurden zwei vietnamesische Bootsflüchtlinge bei einem von Neonazis verübten schweren Brandanschlag in Hamburg ermordet. In Duisburg wurde Ende August 1984 in einem Wohnhaus Feuer gelegt, in dem überwiegend aus der Türkei stammende Migrant*innen wohnten. Dabei starben sieben Menschen und 23 weitere Personen wurden verletzt. Bei einem ähnlichen Verbrechen wurde im Dezember 1988 das Haus einer wiederum türkischen Migrant*innen-Familie im bayrischen Schwandorf zerstört und dabei kamen drei Familienmitglieder und ein deutscher Mitbewohner ums Leben.
Durchaus auch in Reaktion auf derartige Gewaltakte entstand in den 1980er Jahren eine bemerkenswerte Gegenbewegung aus der westdeutschen Zivilgesellschaft, die sich auf der Basis von Bürger- und Menschrechtsdiskursen für eine rechtliche und politische Gleichstellung von Migrant*innen einsetzte. Deutlichster Ausdruck dafür war die politische Forderung nach dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer in der Bundesrepublik.
Am Ende des Jahrzehntes erschien es vielen Aktivist*innen so, als ob die bundesdeutsche Gesellschaft und auch die politischen Parteien dabei waren anzuerkennen, dass Westdeutschland zum Einwanderungsland geworden war. Diese Hoffnung war trügerisch, denn obwohl viele Migrant*innen den Fall der Mauer und die deutsche Einheit mit Anteilnahme und Freude begrüßten, mussten sie wie auch die Anhänger einer offenen Gesellschaft sehr bald und insbesondere in der „Asyl-Debatte“ lernen, dass die bis dahin erreichten Veränderungen in der sogenannten Ausländer-Frage wieder grundsätzlich in Frage gestellt wurden.
Nach der deutschen Einheit: Asyl wird zum zentralen Konfliktpunkt gesamtdeutscher Innenpolitik
Die Anhänger einer restriktiven Migrations- und Flüchtlingspolitik und insbesondere deren Vertreter in den regierenden Unionsparteien waren angesichts der sich seit den 1980er Jahren verändernden Migrationsbewegungen nicht länger bereit, den im Kalten Krieg entstandenen Status Quo der bundesdeutschen Flüchtlings- und Asylpraxis zu respektieren und forderten seitdem und ganz besonders nach 1990 dessen Revision. Bestätigung fanden diese Asylkritiker in der stetig steigenden Zahl von Asylgesuchen in Deutschland, die seit 1988 über der vermeintlich „magischen“ Grenze von 100.000 blieb und 1992 schließlich sogar die bis dahin unvorstellbare Marke 400.000 erreichte.
Die ganz überwiegende Mehrheit der Asylsuchenden stammte zu dieser Zeit aus Mittel-, Ost- und Süd-Osteuropa. Ihre Wanderungsmotive ähnelten im hohen Maße denen der Spätaussiedler*innen aus Mittel- und Osteuropa und ehemaligen DDR-Bürger*innen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhanges, der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen im ehemaligen Ostblock zu Hunderttausenden im Westen eine bessere Zukunft für sich suchten. Allerdings konnten diese nicht-deutschen europäischen Migrant*innen nicht mit einer wohlwollenden Aufnahme in der Bundesrepublik rechnen.
Anfang 1992 waren schließlich im seit dem 3. Oktober 1990 vereinten Deutschland ca. 60 Prozent der Bundesbürger der Auffassung, dass der sogenannte Asylmissbrauch ein Problem von überragender Bedeutung für die Zukunft der Bundesrepublik sei und nur noch durch eine Grundgesetzänderung gelöst werden könne. Dieses Stimmungsbild war jedoch nicht zufällig entstanden. Nach dem Abklingen der Einheitseuphorie bzw. im Vorfeld der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen im Dezember 1990, entschlossen sich die im Bund regierenden Unionsparteien dazu, die aus ihrer Sicht unabdingbare Grundgesetzänderung zur Lösung der sogenannten Asyl-Frage wieder stärker in den Vordergrund ihrer politischen Kampagne zu stellen und so nicht nur die an diesem Kurs zweifelnden Liberalen, sondern auch, ja, vor allem die Sozialdemokraten öffentlich erneut unter Druck zu setzen.
Orchestriert wurde dieser Rückgriff auf die politische Praxis der frühen 1980er Jahre von den Massenblättern des Springer Verlages, die jenseits der Tatsachen eine allgemeine Gefahr für das deutsche Gemeinwesen herbeischrieben und in der Sprache jede journalistische Verantwortung und Zurückhaltung hinter sich ließen. Die Vorstöße der Asyl-Gegner in der wiedergewählten Regierungskoalition und in der Springer-Presse konzentrierten sich nun auf die oppositionellen Sozialdemokraten, die in der sogenannten Asylfrage auch eher uneins waren.
So wurde öffentlich und wiederholt behauptet, dass sich die um Asyl nachsuchenden Menschen ganz überwiegend zu Unrecht in der Bundesrepublik aufhielten und somit Kriminellen gleichgestellt werden müssten. Die Schlüsselwörter der politischen Sprache und des Kampagnen-Journalismus dafür waren Asylmissbrauch und Asylbetrug. Das politische Kalkül war, dass die in den 1980er Jahren erprobte Mobilisierung von Neid, Missgunst und Fremdenfeindlichkeit in den Gemeinden und kommunalen Verwaltungen die in der sogenannten Asyl-Frage uneinige SPD im Bundestag zur Aufgabe humanitärer Grundsätze und zur angestrebten Grundgesetzänderung zwingen würde.
Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte und die Zunahme rassistischer Gewalt
Auffälligste Begleiterscheinung dieser Art von Mobilisierung und Polarisierung als „Asyldebatte“ bezeichneten politischen Auseinandersetzung war, dass im gesamten Bundesgebiet Überfälle auf Flüchtlingsunterkünfte, rassistische Angriffe auf offener Straße und schließlich Hetzjagden auf Ausländer*innen registriert wurden. Insbesondere in Ostdeutschland, der ehemaligen DDR, erreichten ausländerfeindliche Ausschreitungen und rassistische Gewalttaten ein bisher ungekanntes Ausmaß.
Betroffen waren davon keineswegs nur Flüchtlinge und Asylsuchende in ihren Unterkünften, sondern immer wieder auch seit Jahren oder sogar Jahrzehnten in Westdeutschland lebende ehemalige Gastarbeiterfamilien oder auch sowjetische Soldaten auf Ausgang in Ostdeutschland. Im Spätsommer 1992 erreichte diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt, als zwischen dem 22. und 26. August in Rostock-Lichtenhagen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen im sogenannten Sonnenblumenhaus Ziel rassistischer Angriffe wurden.
An den über Tage hinweg und in aller Öffentlichkeit stattfindenden pogromartigen Exzessen beteiligten sich nach Einschätzung der Polizei neben mehreren hundert Rechtsradikalen und gewaltbereiten Jugendlichen auch bis zu 3.000 Anwohner, die durch ihre offen zur Schau getragene Zustimmung zu diesen Gewalttaten das Eingreifen von Polizei und Feuerwehr ganz erheblich behinderten.
Die Verquickung von politischer Mobilisierung, Kampagnen-Journalismus und rassistischer Gewalt hatte im Herbst 1992 eine ungekannte Dynamik entfaltet. Die vor allem in Folge des jugoslawischen Bürgerkrieges auf ein bisher unbekanntes Maß ansteigenden Zahlen von Flüchtlingen und Asylsuchenden, die oft genug einfach erfundenen Geschichten über eine vermeintliche Besserstellung der Schutzsuchenden gegenüber der deutschen Bevölkerung und eine letztlich handlungsunwillige Regierung, die genau damit den politischen Gegner, die oppositionelle Sozialdemokratie, zur Aufgabe ihres Widerstandes gegen eine Verfassungsänderung zwingen wollte, mobilisierten rechtsradikale bzw. rassistische Gewalttäter zu immer neuen Terrorakten, die sich zunehmend gegen die ausländische Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik richtete.
So verübten im Spätherbst des Jahres 1992 zwei jugendliche Rechtsradikale den seit der deutschen Einheit folgenschwersten Brandanschlag auf zwei Wohnhäuser im norddeutschen Mölln, wo neun Menschen zum Teil schwer verletzt wurden und zwei Mädchen und eine Frau in den Flammen umkamen. Erst nach dem mörderischen Brandanschlag von Mölln formierte sich vor allem in westdeutschen Großstädten Protest gegen diese Entwicklung, deren auffälligstes Symbol die Lichterketten als neue Demonstrationsform waren, an denen sich Hunderttausende beteiligten.
Diese Reaktion offenbarte eine andere Seite der bundesdeutschen Gesellschaft, Empathie für die Opfer und zivilgesellschaftliche Gegenwehr gerade im Angesicht von politischer Gewalt. Somit war es den potenziellen und tatsächlichen Tätern sowie ihren klammheimlichen oder auch offenen Sympathisanten nicht mehr ohne weiteres möglich, sich wohlfeil auf einen einheitlichen Gemeinsinn zu berufen.
Auf dem Weg in die „Berliner Republik“: Der sogenannte Asylkompromiss
Dass dennoch die SPD in Fragen von Flüchtlingspolitik und Asylpraxis im Besonderen und in der sogenannten Ausländerfrage im Allgemeinen von den Unionsparteien spätestens seit Mitte der 1970er Jahre in die Enge getrieben werden konnte, lag letztlich daran, dass weite Teile der Partei die Vorstellung von ethnischer Homogenität als Ideal einer nationalen Gemeinschaft teilten und deshalb die sich abzeichnende Veränderung dieser Verhältnisse in der Bundesrepublik ebenso als Zumutung und Belastung betrachteten wie es weite Teile der Unionsparteien taten. Angesichts der demonstrierten Unbedingtheit auf Seiten der Unionsparteien sahen führende Sozialdemokraten nur im Einlenken einen Weg eine heraufbeschworene Verfassungskrise zu vermeiden.
Am 6. Dezember 1992 kam es schließlich zu einer Vereinbarung zwischen der konservativ-liberalen Koalition und der sozialdemokratischen Opposition, das Nikolaus-Papier genannt, die schließlich den Weg zur Revision der Asyl-Norm im Bundestag freimachte. Einen Tag nach der verfassungsändernden Abstimmung im deutschen Bundestag zeigte sich aber, dass durch die öffentliche Rechtfertigung von rechtsradikalem bzw. rassistischen Angriffen eine Lawine politischer Gewalt ausgelöst worden war, die durch verfassungsrechtliche und verwaltungstechnische Verfahren nicht einfach begrenzt oder beendet werden konnte.
Am 29. Juni 1993 verübten vier junge Männer aus der lokalen rechtsradikalen Jugendszene im nordrhein-westfälischen Solingen einen Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Zuwandererfamilie, bei dem fünf Menschen ihr Leben verloren und 17 weitere Bewohner des Hauses, darunter ein Säugling und mehrere Kinder und Jugendliche, teils lebensgefährliche Verletzungen erlitten.
Den erzielten Kompromiss machte aus, dass die ursprüngliche offene Formulierung „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ im neu formulierten Artikel 16a des Grundgesetzes zwar erhalten blieb, aber durch vier klar einschränkende Absätze ergänzt wurde. Diese Bestimmungen haben zum Ziel, den Zugang zum Asyl in Deutschland über sogenannte »sichere Drittstaaten« weitgehend zu versagen. Es wurde davon ausgegangen, dass mögliche Asylsuchende bereits in diesen per Gesetz zu benennenden Ländern einen entsprechenden Antrag hätten stellen können und somit eine Prüfung hierzulande nicht erfolgen müsse.
So verlagerte sich die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung eines humanitären Flüchtlingsschutzes und der Gewährung von Asyl nun auf die Ebene europäischer Institutionen. Alle deutschen Regierungen bemühten sich in den folgenden Jahren darum, dass die europäischen Asylregelungen dem bundesdeutschen Modell der Verlagerung der Flüchtlingsentscheidung an die Außengrenzen der Europäischen Union entsprachen und in den Dublin-Vereinbarungen zu europäischem Recht wurden. Die »magische« Grenze von 100.000 Asylanträgen wurde aber erst im Jahr 2003 – also zehn Jahre nach dem Asylkompromiss – unterschritten. Was die Frage aufwirft, ob diese Verfassungsänderung dafür überhaupt verantwortlich gemacht werden kann.
In der öffentlichen Wahrnehmung wie auch im Handeln der verantwortlichen Politiker*innen hat diese Entwicklung jedenfalls im vereinten Deutschland die Illusion am Leben gehalten, dass durch Migrationsregulierung die Auswirkungen internationaler Krisen von der eigenen Gesellschaft ferngehalten werden können. Damit einher ging, dass in der neuen, größeren Bundesrepublik, die später auch „Berliner Republik“ genannt wurde, der Status als Einwanderungsland hoch kontrovers blieb und diese Auseinandersetzungen immer auch von rassistischer Gewalt gegen Migrant*innen und deren Unterstützer*innen begleitet wurde.
Dieser Teil der politischen Kultur des vereinten Deutschlands und die daraus resultierende bzw. fortdauernde prekäre und auch bedrohliche Lage für Migrant*innen kann auch erklären, warum manche der von Diskriminierung und Rassismus betroffenen Menschen Distanz zur Verfassungsordnung und den Institutionen der Bundesrepublik hielten und halten. Solche Erfahrungen waren und bleiben ein Integrationshindernis in der deutschen Einwanderungsgesellschaft und schwächen letztlich die Demokratie.