"Schön, dass wir noch da sind und hoffentlich bleiben wir bei Verstand"

In der ersten Episode von #zuhauselesen berichtet der in Berlin und Athen lebende Autor und Theatermacher Gerasimos Bekas davon, wie er als Schriftsteller die Pandemie erlebt und liest aus seinem Debütroman „Alle Guten waren tot“. Hier gibt es den Auszug zum Nachlesen.

Lesedauer: 4 Minuten
Gerasimos Bekas mit einer Katze auf dem Schoß, #zuhauselesen

Gerasimos Bekas wuchs in Griechenland und Franken auf und lebt heute in Berlin und Athen. 2013 war er Stipendiat der Bayerischen Akademie des Schreibens. 2014 gewann er den taz-Publikumspreis beim Open Mike und 2018 das erste Leonhard Frank Stipendium in Würzburg. 2019 bekam er den Förderpreis des August Graf von Platen Literaturpreises. "Alle Guten waren tot" ist sein erster Roman.

#zuhauselesen mit Gerasimos Bekas - Heinrich-Böll-Stiftung

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Auszug aus "Alle Guten waren tot"

Vor der Vouli, dem griechischen Parlament, kampierten über hundert Menschen, lagen ganz dicht beieinander, einige mit Paketklebeband über dem Mund. Auf den marmornen Treppenstufen, die zum Platz führten, spielten Kinder Seilhüpfen. Eine Aktivistin mit Dreadlocks, Nasenring und schwarzem Kapuzenpulli drückte ihm ein Flugblatt in die Hand. Die vermeintlichen Camper waren Syrer, junge Männer, Frauen, Familien mit Kindern, die in Hungerstreik getretenwaren.

„Ja, ja, ich kenne das“, sagte er zu der Aktivistin. „Bei uns hat das angefangen.“

„Wo denn? Was meinst Du?“

„In Würzburg“, sagte Aris und blickte weiter in ihre fragenden Augen. „Da haben sie sich die Münder zugenäht. Und dann sind sie zu Fuß bis nach Berlin marschiert.“

Er merkte erst jetzt, wie bescheuert das klingen musste. Als wollte er sagen, meine Syrer sind viel krasser drauf als deine Syrer. Nur Paketklebeband? Was für Amateure! Vielleicht waren es auch gar keine Syrer gewesen, sondern Iraner, aber was änderte das schon. Sie hatte ihn schon abgeschrieben.

„OK“, sagte sie, lächelte höflich und verteilte weiter.

Gegenüber ließen sich Touristen mit ekelhaften Tauben fotografieren, die das Grab des unbekannten Soldaten in eine Kloake verwandelt hatten. Die Hünen von der Präsidentengarde standen wie versteinert vor ihren Schilderhäuschen. Ein alter Herr mit FC-Bayern-München-Schirmmütze legte den Touristen Mais auf die Schulter oder den Kopf, so dass die Tauben sich für ein Foto auf die Futterstellesetzten. 

Überall standen Absperrgitter bereit. Die Polizisten hatten sich in Grüppchen über den ganzen Platz verteilt, trugen Kampfmontur, Beinschienen, Patronengürtel. Sie rauchten Selbstgedrehte, tranken Kaffee aus Plastikbechern und spielten mit ihren Mobiltelefonen. Einige ließen ihre überdimensionierten Waffen vor dem Schritt baumeln, als wären sie Rockstars und ihre Waffen E-Gitarren.

Sie waren überall, das machte Aris nervös. Und es kam wie es kommen musste, Aris stolperte und fiel in einen hinein, fühlte das kalte Metall der Maschinenpistole. Sein Herz blieb stehen. Der Typ war gefühlt drei Köpfe größer als er und hatte wegen Aris seine Kippe fallen lassen. Aris sah es vor sich. Jetzt würde er mit in den Bus genommen, sein Rucksack würde ausgeleert und alles durcheinander gebracht, dann würden sie seine Personalien prüfen und versuchen, ihn einer Straftat zu überführen, die er nicht begangen hatte. Das ganze Programm. Wie zu Schulzeiten.

“Alles in Ordnung, Kumpel?”, fragte der Polizist besorgt, tätschelte seinen Bauch, hob die Kippe auf und zündete sie wieder an, um dann ruhigen Schrittes weiterzugehen. Aris sah ihm verdattert nach. Bevor er begriffen hatte, was da gerade passiert war, fing es auch hier zu regnen. Passanten verschwanden in den Metro-Eingängen. Die Polizisten kauerten sich unter ihre Schilde, wie die Römer bei der Schildkrötenformation. Die Syrer öffneten fast synchron ihre Regenschirme, wer keinen Schirm hatte, schützte sich mit zerschnittenen LKW-Planen. Sie schienen routiniert darin zu sein. Aris zog sich seine Kapuze ins Gesicht. Das war also Athen. Zum ersten Mal sah er sich hier allein um. Alles war anders, wenn man allein unterwegs war. Ein geschmackloses, pissgelbes Parlamentsgebäude, umrankt von anderen geschmacklosen verglasten Gebäuden. In der Mitte Menschen, auf die es regnete.

Die Griechen hätten das mit dem Städtebau nicht wieder anfangen sollen. Alle paar Kilometer ein altes Dorf, das wäre eine gute Strategie. Diese Gebäude machten Aris genauso aggressiv wie die Alibi-Bäumchen und Büschchen, die auf dem Platz zur Schadensbegrenzung integriert worden waren.

Erschienen im Rowohlt Verlag, 2018.

Warum #zuhauselesen?

Die Pandemie trifft Kunst- und Kulturschaffende besonders hart. Die Video-Reihe #zuhauselesen - Literatur aus dem Zwischenraum bietet (post-)migrantischen Autor*innen eine Plattform, trotz abgesagter Buchmessen und Lesungen ihre Werke vorzustellen. Sie teilen ihre Perspektiven als Künstler*innen auf die aktuelle Situation und lesen aus ihren Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten. Dabei filmen sie sich selbst in ihrem Zuhause, das für viele in den letzten Monaten zu einem Zwischenraum geworden ist. Die Reihe wird kuratiert von Safiye Can und Hakan Akçit, als Teil des Open Space Projekts Zwischenraum für Kunst auf dem migrationspolitischen Portal Heimatkunde der Heinrich-Böll-Stiftung.