“Rassismus ist kein amerikanisches, sondern ein weltweites strukturelles Problem”

In der dritten Episode von #zuhauselesen spricht Autorin und Poetry-Slammerin Zoe Hagen  über strukturellen und alltäglichen Rassismus in Deutschland und liest aus ihrem Text “Ansichten einer jungen Psychopathin”. Hier finden Sie den Text zum Nachlesen.

Lesedauer: 6 Minuten
Portrait von Zoe Hagen
Teaser Bild Untertitel
Autorin und Poetry-Slammerin Zoe Hagen

Zoe Hagen wurde 1994 in Berlin geboren. 2012 macht sie im Anschluss an ihr Abitur Praktika im journalistischen Bereich, bei GEOlino und der Süddeutschen Zeitung, sowie am Maxim Gorki Theater Berlin und bei der UFA Fiction GmbH. 2016 erscheint ihr erster Jugendroman bei Ullstein, zudem betreibt sie regelmäßig deutschlandweit Poetry Slam; 2014 wurde sie Deutsche U20 Vizemeisterin.

Seit 2017 Studium Drehbuch an der ifs internationale filmschule köln, 2019 läuft ihr Kurzfilm Die Mathematik der Dinge (Buch und Regie Zoe Hagen) auf dem Max Ophüls Festival. Sie arbeitet derzeit an ihrem zweiten Roman.

#zuhauselesen mit Zoe Hagen - Heinrich-Böll-Stiftung

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Auszug aus "Ansichten einer Psychopathin"

Alle sagen jetzt Psycho zu mir und ehrlich gesagt finde ich das besser. Ich bin lieber ein Psycho als die Schwarze, aber das Problem ist, eigentlich bin ich ja beides glaub ich. Ich weiß gar nicht mehr, was ich genau bin. Ich stehe vor der Klassenzimmertür und atme ganz tief ein und aus, so wie Tante Belinda das manchmal macht, wenn sie auf dem Boden sitzt und diese enge Hose anhat und Sport macht. Sie streckt dann ihre Beine in den Himmel und ihren Po nach oben und dabei atmet sie ganz laut und tief, denn Luft ist wichtig.

"Atme den Schmerz raus, Mina.", sagt sie dann und dann soll ich mitmachen und ich strecke meinen Po nach oben, aber es ist anstrengend und ich kriege gar keine Luft mehr. Ich hab sogar viel weniger Luft als am Anfang und dann habe ich keine Lust mehr und esse Cornflakes. Ich weiß auch gar nicht, wie man Schmerz ausatmen soll, das geht doch gar nicht. Aber das sag ich Tante Belinda nicht, denn ich glaube ihr hilft das. Das und Beten. Tante Belinda betet so viel und immer wenn ich da bin, muss ich mitmachen, aber ich mag das eigentlich. Wir setzen uns dann an den Tisch und machen die Augen zu und Tante Belinda nimmt meine Hand und ich ihre und dann fängt sie laut an zu sprechen. Aber viel mehr mag ich es, wenn sie sagt, dass wir jeder für uns beten sollen. Dann ist es ganz ruhig und ich spüre nur ihre Hand in meiner und sie ist warm und es ist friedlich und ruhig. Das Gebet ist mir eigentlich egal, denn Jesus antwortet mir ja eh nie. Aber Tante Belinda sagt, dass Gott kein Fast Food Restaurant ist, wir kriegen nicht sofort eine Antwort, die uns dann für den Moment ganz kurz gut tut, obwohl sie eigentlich verkehrt und falsch ist. Ich versteh das nicht, ist doch klar, dass Gott kein Fast Food Restaurant ist, obwohl das lustig wäre. Dann könnte ich Pommes essen und alle meine Probleme wären weg. Ich wünschte Gott wäre wie Fastfood. Ich wünschte ich wäre weg.

Ich atme und atme und dann mache ich meine Augen ganz fest zu und geh in die Klasse. Ich weiß, dass das nicht so schlau ist. Weil jetzt bin ich die Schwarze mit Perlen in den Haaren und Psycho und dass ich mit geschlossenen Augen in den Raum gelaufen komme, macht es bestimmt nicht besser. Aber mir egal. Wenn ich die Auge zu habe, kann ich sie alle nicht sehen.

"Mina." Herrn Schulzes Stimme klingt hart und streng. "Öffnest du bitte deine Augen und setzt dich an deinen Platz? Du bist eh schon zu spät."

Ich öffne meine Augen und setze mich an meinen Platz. Paula und Veronika kichern. Ich öffne meine Haare und verstecke mich hinter ihnen, aber dann fällt mir ja ein, dass sie zu kurz sind und ich das ja gar nicht mehr machen kann, also lasse ich es. Herr Schulze steht an der Tafel und wir lernen Sachen über den zweiten Weltkrieg. Das war damals als Deutschland ganz böse war, weil es einen bösen Mann gab, Hitler, der hat einen ganz komischen Bart. So einen Bart wie ihn Leroy machen würde. Das ist der Friseur aus der Kirche, der macht immer ganz komische Frisuren und Bärte. Der rasiert den Männern dann immer so Muster rein, das sieht total komisch aus. Aber alle in der Kirche sind sehr stolz auf Leroy, weil der war mal im Knast, weil der immer am Görli stand und den Touristen Drogen verkauft hat. Ich war noch nie am Görli, aber Mama sagt, da darf ich auch nicht hin, weil alles voller Dealer ist, aber das ist voll gemein, weil ich hab noch nie einen echten Dealer gesehen. Außer Leroy natürlich. Aber das ist eben ja nur noch ein ehemaliger Dealer, also zählt das nicht so richtig. Leroy war im Gefängnis und dort hatte er eine Eingebung und Jesus kam zu ihm und hat ihm gesagt, dass er sein Leben ändern muss. Das ist unfair, weil ich bin immer artig und lieb und Jesus kommt überhaupt nicht zu mir. Vielleicht muss ich auch erst was richtig Böses machen, damit Gott kommt. Jesus hat dann zu Leroy gesagt, „fang eine Friseurausbildung an“ und das hat Leroy dann auch im Gefängnis gemacht. Als er rauskam hat er einen Salon eröffnet und den Leuten aus der Kirche die Haare geschnitten und so kleine Sachen rein rasiert auf den Kopf oder in den Bart. Tante Belinda hat das gesehen und gesagt, so wie die aussehen, gehört er wieder ins Gefängnis. Aber die Kirche liebt ihn. Sie sagen, er ist ein Wunder.

Ich wusste nicht, dass Wunder fette, schwarze Männer sind.

Der Textauszug ist Teil eines bisher unveröffentlichten aktuellen Romanprojekts.

Warum #zuhauselesen?

Die Pandemie trifft Kunst- und Kulturschaffende besonders hart. Die Video-Reihe #zuhauselesen - Literatur aus dem Zwischenraum bietet (post-)migrantischen Autor*innen eine Plattform, trotz abgesagter Buchmessen und Lesungen ihre Werke vorzustellen. Sie teilen ihre Perspektiven als Künstler*innen auf die aktuelle Situation und lesen aus ihren Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten. Dabei filmen sie sich selbst in ihrem Zuhause, das für viele in den letzten Monaten zu einem Zwischenraum geworden ist. Die Reihe wird kuratiert von Safiye Can und Hakan Akçit, als Teil des Open Space Projekts Zwischenraum für Kunst auf dem migrationspolitischen Portal Heimatkunde der Heinrich-Böll-Stiftung.