In der zweiten Episode von #zuhauselesen wirft Autor und Satiriker Osman Engin einen humorvollen Blick auf den Umgang mit der Pandemie in der Familie und liest zwei bisher unveröffentlichte Erzählungen vor. Hier gibt es die Texte zum Nachlesen.
#zuhauselesen mit Osman Engin - Heinrich-Böll-Stiftung
Direkt auf YouTube ansehenDie Corona-Spitzel IM-Virus
Seit einem Monat muss bei uns die ganze Familie pünktlich um 9:00 Uhr zum Morgenappell antreten.
„Guten Morgen, Leute, wie geht es euch?“, begrüße ich sie, alle noch in Pyjama.
„Liebe Familie, hat jemand von euch in den letzten 24 Stunden Fieber bekommen?“
„Nein, Vater!“
„Nein, Papa!“
„Nein, Osman!“
„Hat jemand Halsschmerzen? Muss jemand husten?“
„Nein, Vater!“
„Nein, Papa!“
„Nein, Osman!“
„Zeigt mal eure Zungen!“
„Bäähhh!“
„Super! Bitte unbedingt weiterhin die Corona-Kontaktbeschränkungen und die Hygienemaßnahmen einhalten. Wegtreten!“
Klar, es kann den Anschein haben, als wenn es bei uns in der Familie ziemlich autoritär zugeht. Aber wo selbst die Bundesregierung Tag für Tag mit tausenden von Verboten daherkommt, da ist es nicht verwunderlich, dass ein besorgter Vater von seinen Liebsten etwas mehr Disziplin verlangen muss.
Ich selbst als gutes Vorbild stehe jeden Tag pünktlich um 6:45 Uhr auf, checke meinen Körper ab, ob der immer noch in dem tadellosen Zustand ist, wie ich ihn gestern Nacht ins Bett gelegt habe.
Ich freue mich, dass ich schon immer ein Hypochonder war und nicht wie die ganze Bevölkerung erst in den letzten Wochen einer geworden bin. Das hätte mich nämlich noch zusätzlich gestresst!
Stress ist gar nicht gut bei einer Pandemie, er schwächt nämlich das Immunsystem enorm.
Nachdem ich die Familie routinemäßig gecheckt habe, stelle ich meine kleine Tochter Hatice als Inoffizielle Mitarbeiterin für ein Euro pro Tag ein, um die Einhaltung der Coronaregeln ordentlich zu überwachen. Sie bekommt den Spitznamen `IM-Virus´.
Über einen kleinen Minisender werde ich den ganzen Tag über das Coronageschehen bei uns zu Hause leif informiert.
„Papa, Mehmet redet gerade im Treppenhaus mit Herrn Sievers – zwei Meter Abstand. Herr Sievers mit Mundschutz. Mehmet bohrt in der Nase.“
„Mama wäscht sich nach dem Einkaufen die Hände. Exakt 23 Sekunden lang. Hat sich aber vor dem Waschen zwei Mal grob fahrlässig ins Gesicht gefasst.“
Dieser eine Euro ist die beste Investition, die ich zur Eindämmung der Corona-Pandemie getätigt habe.
Abends im Badezimmer höre ich hinter dem Duschvorhang ein leises Murmeln:
„Mama, Papa wäscht sich die Hände nur zehn Sekunden lang. Vorher hat er im Stehen gepinkelt.“
„Hatice, ich meine IM-Virus, ich bezahle dir so viel Geld, damit du für mich schnüffelst!“
„Es tut mir leid, Papa. Ich bin übergelaufen. Mama bezahlt das doppelte.“
Der Corona-Supergau
Nun also doch der Corona-Supergau!
Das Schlimmste, was passieren kann! Das blöde Corona hat meine Frau Eminanim erwischt. Naja, sagen wir mal – das Zweitschlimmste!
Das Schlimmste wäre, wenn es mich erwischt hätte. Önce can, sonra Canan.
Eminanim blieb zwei Tage im Krankenhaus und ist jetzt in der häuslichen Quarantäne.
Meinen Eilantrag, sie solle bis zur völligen Genesung dortbleiben, hat die Krankenhausverwaltung abgelehnt. Bzw. sie haben darauf nicht mal geantwortet.
Jetzt hockt Eminanim seit Tagen völlig isoliert in unserem Schlafzimmer und schaut von morgens bis abends Fernsehen. Und ich sterbe hier tausend Tode, dass sie mich ansteckt!
Damit sie schnell gesund wird, koche ich für sie die gesündesten Sachen, und stelle sie drei Mal täglich vor ihre Tür. Ich wünsche mir sehnlichst mein Fließband in Halle 4 zurück!
Die Kinder muss ich ja nebenbei auch versorgen! Einkaufen, kochen, waschen, putzen! Während Eminanim den ganzen Tag den Netflix rauf und runter guckt.
Nach zwei Wochen rufe ich ihr zu:
„Eminanim, du kannst rauskommen. Du hast es sicherlich überstanden.“
„Nein, Osman, auf keinen Fall! Ich will dich nicht anstecken“, ruft sie zurück. „Heute möchte ich zum Abendessen mit Vollkornreis gefüllte Paprika und Auberginen und gegrillte Köfte mit Kartoffeln in Tomatensoße. Und nicht so fettig bitte. Es soll mir schmecken und nicht dem Corona.“
Kurz darauf ruft ihre Mutter an und sagt, dass Eminanim ihren Pulli bei ihr vergessen habe, als sie vor zwei Wochen da war!
Ich fass es nicht! Eminanim war genau die beiden Tage bei ihrer Mutter, von denen sie behauptet hatte, dass sie angeblich todkrank im Krankenhaus lag!
„Eminanim, ich habe eine Supernachricht für dich. Dein Arzt aus dem Krankenhaus hat eben angerufen. Er sagt, du bist jetzt gesund.“
„Das kann nicht sein“, sagt sie völlig zurecht, weil sie ja gar nicht im Krankenhaus war.
„Ich habe auch eine schlechte Nachricht für dich. Du hast mich angesteckt. Ich habe schreckliche Halsschmerzen, husten, öhhhöööö…“
„Das kann auch nicht sein!“, brüllt sie wieder völlig zurecht, weil sie ja selber kein Corona hat.
„Warum nicht?“
„Weil… weil… weil ich gut isoliert bin“, stottert sie.
Sie weiß, dass sie mich nicht angesteckt hat, ich weiß, dass sie nicht krank war.
„Auf jeden Fall muss ich auch in die Quarantäne“, rufe ich.
„Wir können uns ja abwechseln“, schlägt sie vor. „Einen Tag gehst du in die Quarantäne, einen Tag ich.“
Bei den beiden Texten handelt es sich um bisher unveröffentlichte Erzählungen.
Warum #zuhauselesen?
Die Pandemie trifft Kunst- und Kulturschaffende besonders hart. Die Video-Reihe #zuhauselesen - Literatur aus dem Zwischenraum bietet (post-)migrantischen Autor*innen eine Plattform, trotz abgesagter Buchmessen und Lesungen ihre Werke vorzustellen. Sie teilen ihre Perspektiven als Künstler*innen auf die aktuelle Situation und lesen aus ihren Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten. Dabei filmen sie sich selbst in ihrem Zuhause, das für viele in den letzten Monaten zu einem Zwischenraum geworden ist. Die Reihe wird kuratiert von Safiye Can und Hakan Akçit, als Teil des Open Space Projekts Zwischenraum für Kunst auf dem migrationspolitischen Portal Heimatkunde der Heinrich-Böll-Stiftung.