"Warum geht in politischen Krisen immer zuerst die Sprache vor die Hunde?"

In der vierten Episode von #zuhauselesen spricht Autorin Sandra Gugić über die Systemrelevanz von Literatur und das Politische im Poetischen. Sie liest aus ihrem Lyrikdebüt “Protokolle der Gegenwart”, hier gibt es die Texte zum Nachlesen.

Lesedauer: 5 Minuten
Sandra Gugic

Sandra Gugi, 1976 in Wien geboren, ist eine  österreichische Autorin serbischer Herkunft. 2009 begann sie zu schreiben. Sie studierte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. 2012 gewann sie den Open Mike. Ihr erster Roman Astronauten (C.H. Beck) erschien 2015 und erhielt den Reinhard-Priessnitz-Preis. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt “Protokolle der Gegenwart” im Verlagshaus Berlin. Zuletzt wurden ihr das Stipendium des Berliner Senats und das Heinrich-Heine-Stipendium zugesprochen. Sandra Gugi lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin.

#zuhauselesen mit Sandra Gugić - Heinrich-Böll-Stiftung

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Wer spricht? Wer erklärt uns die Welt?

Wer nimmt uns die Angst? Oder schürt sie?

Welche Sprache in uns formt unser Denken, unseren Widerstand?

Welche Sprache in uns?

Warum geht in (politischen) Krisen immer zuerst die Sprache vor die Hunde?

Wenn ich, die Autorin, nicht systemrelevant bin nach der neuen Krisenordnung der Dinge, kann mein Text systemrelevant sein?

Welchen Anspruch stellen wir in diesem Zusammenhang an unser Schreiben? Spreche ich für mich oder bin ich viele? Darf ich überhaupt sagen: Ich bin viele? Hört man bereits (m)einem Namen die Brüche in seiner Biografie an, die Schichten seiner Identität? Was schreibe ich mir zu, was schreibe ich von mir weg? Kann Literatur, kann Sprache, können Texte alles überwinden? Sogar die ökonomischen Rahmenbedingungen der Textproduktion und deren Ausschlussverfahren? Sogar Geschlecht, Herkunft, Identität der Schreibenden? Das Politische ist dem Poetischen immer inhärent, als innerer Widerstand, der jedes Wort treffen muss, gegen Erwartungshaltungen, gegen gewohntes Denken, gegen gelernte Strukturen und Muster, gegen die Einordnung von Realität, als Close reading des Geschriebenen und dessen, was gerade geschieht, als Beschreibung gesellschaftlicher Soll- und Ist-Zustände. Also Literatur, die Verantwortung übernimmt. Auch oder gerade in Zeiten der Pandemie, in Zeiten der Sozialen Distanz.

Gedichte aus „Protokolle der Gegenwart“

während zwei piloten über die flugrichtung streiten

über primäre oder alleinige role models und vormedikationen

unscharfe rede von einer nationalen sache die debatten beunruhigend anregend

eine frage der salonfähigkeit bestimmer und unbestimmter ideen

kein schlaf der gerechten in zeiten von twitter denkfabriken

storytelling etappensieg steter kampf um ideen

je nach definition und kriterien zum kreis der verdächtigen gehören

im vorzimmer der eigentlichen entscheidungsgremien

über die man sich im hinterzimmer längst geeinigt haben soll

eine ordentliche vergangenheit vorweisen können als identitätsnachweis

als widmung an all jene die ihre pflicht nicht erfüllt haben

gleichzeitiges eskalieren der daseinsberechtigung

das gefühl der viktimisierung beruhigt sich die lage

kommt es wieder und wieder hoch

menschen des volkes teil des problems oder

antwort auf das frageantwortspiel zwischen den entitäten

das bemühen der suchmaschinen im pingpong eines freund-feind-schemas

die rede von männern ausschließlich männern der stunde

wer jetzt das volk sei und wer nicht

geschuldet dem protest auf den strassen

in den einraumwohnungen

in den köpfen

 

aus der zeit fallen erst verschwindet die sprache

dann das café die bäume die bürgersteige alle ausweise ungültig am ende

wird es still in diesen momenten antischall um den lärm zu dämpfen interferenzen

der täglichen verzweiflungen verletzungen verfehlungen verschiebungen

das vertraute dunkle erstattete schwere eine auslassung exakt übertragen

vermittlung und versöhnung vorangestellt die einwilligung zur datenübermittlung

tag monat jahr und stunde benennen lösen sich die zahlen auf codes algorithmen

tagesmeldungen formulare akten listen nicht eindeutig zuordenbar

die identifikationsnummer enthält keine buchstaben

beginnt nicht mit der ziffer null

 

doubleblind die beobachterin alterslos ruhelos unter aufsicht in quarantäne

halt den kopf unter die worte und erzählungen auf der anderen seite der dinge

in ämtern randzonen jenseits der markierungen die hände im schoß der gegenwart

to-do-listen der ohnmacht konspiratorische korrekturfunktion papercut

es geht um die zahlen das metastasierungspotenzial von furor und echo

leg zukunft in die wahl der worte zahlen spielen eine rolle

angesichts der dimension des unteilbaren die frau stellt noch fragen

auf der suche nach alltäglichen beweisen moralischer insolvenz

die lüge aus der hohlen hand heraus der startpunkt in situ

 

nullhypothese die realität hat keine zeit stattzufinden

systemdoppelgänger an den randzonen der vorstellungskraft

eine numerische flut synthetischer bilder opake geräuschkulissen

angstlust jenseits erzwungener bedeutungen ob wirklich oder möglich

zartes spiel der trennschärfen trassierung der fluchtlinie

wir als kind allein mit der untragbaren verantwortung

uncommon action in a society of repressed thoughts

sprengung des globalen systems bilder stürmen bilder kippen

just because you have the picture doesn’t mean you have the truth

scheitern an interessensgruppen gewaltgeschichte auf repeat

suche nach einem ausweg in echtzeit

sonst ist es still

 

Und ich möchte nochmal zu den Fragen vom Anfang zurückkehren:

Wer spricht? Wer erklärt uns die Welt?

Wer nimmt uns die Angst? Oder schürt sie?

Welche Sprache in uns formt unser Denken, unseren Widerstand?

Welche Sprache in uns?

Warum geht in Krisen, in politischen Krisen, in dieser Krise immer zuerst die Sprache vor die Hunde?

Wenn ich, die Autorin, nicht systemrelevant bin nach der neuen Krisenordnung der Dinge, kann mein Text systemrelevant sein?

Ich denke, wir sind alle systemrelevant.

"Protokolle der Gegenwart", 2019 erschienen im Verlagshaus Berlin.

 

Warum #zuhauselesen?

Die Pandemie trifft Kunst- und Kulturschaffende besonders hart. Die Video-Reihe #zuhauselesen - Literatur aus dem Zwischenraum bietet (post-)migrantischen Autor*innen eine Plattform, trotz abgesagter Buchmessen und Lesungen ihre Werke vorzustellen. Sie teilen ihre Perspektiven als Künstler*innen auf die aktuelle Situation und lesen aus ihren Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten. Dabei filmen sie sich selbst in ihrem Zuhause, das für viele in den letzten Monaten zu einem Zwischenraum geworden ist.

Die Reihe wird kuratiert von Safiye Can und Hakan Akçit, als Teil des Open Space Projekts Zwischenraum für Kunst.