Kinder müssen sich selbst sehen

Kommentar

Kinderbücher sind eine frühe Form der Bildung, sie regen die Fantasie an und geben Kindern die Möglichkeit, sich selbst wiederzufinden. Vor einigen Jahren war die Kinderliteratur in Deutschland vor allem auf weiße Kinder ausgerichtet. Inzwischen gibt es auch eine Auswahl für Schwarze Kinder und Kinder of Color – dennoch ist hier immer noch Luft nach oben.

Lesende Kinder
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Die Lebensrealitäten vieler Kinder kommen in Kinderbüchern immer noch zu selten vor.

Die große Kinderbuchdebatte aus dem Jahr 2013 ist nun sieben Jahre her – damals ging es um rassistische Sprache in Kinderbuchklassikern und um die Erkenntnis, dass auch der zeitgenössische deutsche Kinderbuchmarkt viele Kinder immer noch ausschließt. Seither hat sich einiges getan.

Ein jedoch auch heute noch weit verbreitetes Missverständnis, wenn es um Diversität in Kinderbüchern geht, ist, dass diese Bücher allein für Schwarze Kinder oder Kinder of Color nötig seien. Was wiederum gerne zu der Annahme führt, dass der Markt zurecht klein sei, weil auch die Zielgruppe scheinbar klein ist.

Doch zum einen hat heute jede:r vierte in Deutschland einen Migrationshintergrund und es leben laut einer Schätzung der Vereinten Nationen eine Million Schwarze Menschen in Deutschland. Für diese gar nicht so kleine Minderheitsgesellschaft sind Bücher, die ihre Lebenserfahrung abbilden, wichtig. Zum anderen sind diese Bücher auch für weiße Kinder oder Kinder ohne sogenannten Migrationshintergrund eine Bereicherung.

Denn, wie die US-Erziehungswissenschaftlerin Rudine Sims Bishop in ihrem bereits 1990 veröffentlichten Aufsatz „Mirrors, Windows and Sliding Glass Doors“ schrieb, sollen Kinderbücher drei Aufgaben erfüllen: Kinder sollen sich darin selbst erkennen, sie sollen in andere Welten blicken können und sie sollen in andere Welten eintreten können.

Das bedeutet, es bleiben auch weißen cis Kindern ohne Behinderung oder Fluchterfahrung und mit zusammenlebenden Eltern aus der Mittelschicht durchaus essentielle Einblicke verwehrt, wenn sie in Büchern immer nur Kinder sehen, die sind wie sie. Denn ihre Erfahrung und ihre Lebensrealität ist nicht universell – das zu begreifen, ist der Grundstein für ein gesundes Selbstbild und für eine Erziehung zur Akzeptanz Anderer.

Wissen, wo man suchen muss

Bei vielen deutschen Verlagen und in den meisten Buchhandlungen fallen einem vielfältige Kinderbücher nicht gerade in den Schoß. Man sollte schon vorher wissen, wo man welche findet. Zum Glück hat sich hier in den vergangenen Jahren einiges getan und die Suche wird leichter. So wird etwa seit 2018 das Kimi-Siegel für Vielfalt in Bilder-, Kinder und Jugendbüchern vergeben.

Die Jury besteht aus Kindern und Erwachsenen, sie bespricht jährlich etwa fünfzig Bücher. Die Titel, die dann eine Auszeichnung erhalten, sind nach Zielgruppenalter geordnet auf der Webseite zu finden und können im Partnershop Tebalou, der sich ganz der Vielfalt im Kinderzimmer verschrieben hat, erworben werden.

Das Kimi-Siegel wird für gewöhnlich jedes Jahr auf dem Kimbuk-Festival verliehen. 2018 fand es erstmals statt, mit zahlreichen Podiumsdiskussionen und Workshops zum Thema Vielfalt. Laut Veranstalter:innen kamen rund 600 Besucher:innen. Auch 2020 sollte das Festival wieder stattfinden, es wurde jedoch aus Pandemiegründen abgesagt und die Verleihung des Kimi-Siegels 2019 wurde online abgehalten.

Vielversprechend klingt auch das ganz neue Projekt Bibliobox aus Österreich. Auf der Webseite wird bisher nur angekündigt, dass man hier bald Autor:innen, die sich als Schwarz oder of Color bezeichnen, präsentieren möchte, „um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durch Repräsentation in der Literatur zu empowern“.

Ein Vorhaben, das man im Blick behalten darf. Kleinere Verlage, die in den vergangenen Jahren immer wieder mit vielfältigen Büchern auffallen, sind etwa der Bohem Verlag aus Zürich, der HaWandel Verlag aus Berlin oder der Zuckersüß Verlag, ebenfalls aus Berlin, der es sich laut Eigenangabe seit 2019 zur Aufgabe gemacht hat, die schönsten Bücher aus aller Welt zu finden und ins Deutsche zu übersetzen.

Alle Kinder sind normal

Im Großen und Ganzen gibt es zwei Arten von Vielfalt in Kinderbüchern: Erstens die Bücher, die sich allein um die Identität drehen und diese manchmal auch als zu überwindende Schwierigkeit darstellen, was mitunter problematisch sein kann. Denn auch wenn es wichtig ist, Kindern Themen wie Flucht- und Migrationserfahrung oder Ausgrenzung nah zu bringen und diese Erfahrungen widerzuspiegeln, ist es genauso wichtig nicht stets die einen als „normal“ darzustellen und die anderen als Abweichung dieser „Norm“.

Deshalb sind zweitens jene Bücher besonders wichtig, die Vielfalt zum Thema machen, ohne sie explizit zu fokussieren. Eine Beiläufigkeit, die man in vielen Kinderbüchern noch vermisst. Vor allem in Sachbüchern für Kinder, in denen es um Alltägliches, wie etwa ums Bahnfahren geht, den Bauernhof, um Weihnachten oder die Einsatzfahrzeuge – hier werden in der Regel ausschließlich weiße Menschen abgebildet. Meist sind diese Menschen darüber hinaus cis, gemeinsamlebend und in Heterobeziehungen. Sie sind christlich, ohne Behinderung, wohnen in einem Haus mit Garten, besitzen ein Auto und haben das immer gleiche Übermaß an Spielzeug.

Doch es gibt heute auch viele wunderbare Bücher, die es schaffen, Vielfalt in der genannten Beiläufigkeit abzubilden. So erleben in „Kalle und Elsa“ von Jenny Westin Verona und Jesús Verona zwei Kinder zusammen Abenteuer, wie es Kinder nun mal tun: Im Garten, am Strand oder bei einer gemeinsamen Übernachtung. Auch in „Nelly und die Berlinchen“ von Karin Beese (Text) und Mathilde Rosseau (Illustration) erleben Nelly, Amina und Hannah schlicht die alltäglichen Abenteuer von Kita-Kindern in einer Großstadt.

Geschwisterliebe und Meerjungfrauen

Abseits vom Alltäglichen gibt es auch einige Bücher, die sich speziellen Themen widmen. So geht es in „Bleibt der jetzt für immer“ von Lauren Child etwa um Elmore und darum, wie sich sein Leben verändert als sein Bruder Albert auf die Welt kommt und seine Alleinherrschaft als Einzelkind zu wackeln beginnt. In „Julian ist eine Meerjungfrau“ geht es um den kleinen Julian, der sich anziehen will wie die Frauen, die er in der U-Bahn sieht.

Er wickelt sich einen Vorhang um die Hüften, steckt sich Farnblätter an den Kopf und schminkt sich, als seine Oma das Zimmer betritt. Seine Oma verlässt das Zimmer daraufhin wieder und kommt zurück mit einer Kette, die sein Outfit vollendet. Dieses Buch kommt ohne viel Text aus, besitzt aber eine beeindruckende Bildsprache. Autorin und Illustratorin ist Jessica Love.

Zwei Bücher über Geschlechterrollen sind im bereits genannten Zuckersüß Verlag (im Vorverkauf) zu finden: „Ein Junge wie du“ und „Ein Mädchen wie du“ von Frank und Carla Murphy, illustriert von Kayla Harren. Beide Bücher sollen Kinder dazu inspirieren Vorgaben, wie sie sich vermeintlich als Jungen oder Mädchen zu verhalten haben, in Frage zu stellen. Bleibt zu hoffen, dass noch ein Buch für jene Kinder folgt, die sich weder als Junge noch als Mädchen bezeichnen möchten. Ebenfalls im Vorverkauf befindet sich „Das Buch vom Antirassismus“ von Tiffany Jewell und Aurélia Durand, geeignet ab 10 Jahren.

Kaum Bücher für die Kleinsten

In Constanze von Kitzings liebevoll illustrierten Bilderbüchern geht es um Gefühle („Ich bin jetzt…glücklich, wütend, stark“) oder um Lieblingsbeschäftigungen („Ich mag...schaukeln, malen, Fußball, Krach“). Und auch darum, was die Kinder unterscheidet und eint („Ich bin anders als du – ich bin wie du“), aber eben im Sinne von: wer Hunde mag, wer lieber Pizza oder Spaghetti isst oder wer die größere Familie hat. Die Bücher von Kitzing eignen sich auch schon für interessierte Kinder unter oder ab 2 Jahren.

In diesem Alterssegment ist die Auswahl an Büchern mit Protagonist:innen, die Schwarz oder of Color sind und die mit dem Alter entsprechend dicken Seiten ausgestattet sind, leider verschwindend gering. Ein schönes Buch aus dem Jahr 1962 sei an dieser Stelle aber erwähnt: „The Snowy Day“ von Ezra Jack Keats. Zwar ist es bisher nur auf Englisch erhältlich, aber in seiner textlichen Minimalistik ist es ein wunderbares Bilderbuch für Eltern, die sich auch für ihre Kleinsten Bücher mit einem Schwarzen Hauptprotagonisten wünschen. Es handelt davon, dass der kleine Peter einen Tag im Schnee verbringt.

Eine ausführliche Sammlung an vorurteilsbewussten Büchern für Kinder bis 9 Jahre ist außerdem beim Institut für den Situationsansatz zu finden. Über die Sortierung nach Alter hinaus gibt es hier auch eigene Listen zu den Themen Flucht & Migration, Armut & Klassismus, Adultismus, Corona und eine Liste von Büchern, in denen Schwarze Personen, Indigene oder People of Color die Hauptrollen haben.

Pädagogischen Einrichtungen ist es auch möglich sich Bücherkoffer vom Institut in Berlin auszuleihen. Und wer sich für die Methoden zur Auswahl der vorurteilsbewussten Bücher interessiert, kann sich hier auch einer Checkliste zur Einschätzung von Büchern widmen. 

Die Initiative Intersektionale Pädagogik hat ebenfalls eine Liste mit Empfehlungen veröffentlicht. Aber auch auf einigen privaten Blogs, etwas This is Jane Wayne, oder dem Instagramkanal afrokids_germany finden sich eine Reihe an gehaltvollen Empfehlungen und Listen für Kinder und Eltern.

 

Anmerkung:

Schwarz wird in diesem Artikel groß geschrieben, weil es eine politisch gewählte Selbstbezeichnung ist, während weiß kursiv und klein geschrieben wird, um die Konstruktion des Begriffes hervorzuheben, denn es handelt sich hierbei um eine Bezeichnung von Privilegien, die mit einer Hautfarbe einhergehen.

 „Cis” ist eine lateinische Vorsilbe und bedeutet „diesseits”. Damit wird bezeichnet, dass eine Person in Übereinstimmung mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht lebt (siehe Glossar von i-PÄD - Initiative intersektionale Pädagogik).