Die Tat von Hanau wurde weder auf medialer noch auf politischer Ebene verinnerlicht und begriffen, findet Soleen Yusef. Wann Kunst zu Widerstand wird und warum der NSU-Prozess weder Gerechtigkeit noch Heilung gebracht hat, erklärt die Filmemacherin im Interview.
Safiye Can und Hakan Akçit: Liebe Soleen, du bist eine preisgekrönte Regisseurin und Drehbuchautorin. Inwiefern hat der Ausbruch der Corona-Pandemie deine Arbeit beeinträchtigt und wie schwer wurde die Filmbranche getroffen?
Soleen Yusef: Der Ausbruch hat für die ganze Filmbranche Arbeitsweisen vor und hinter der Kamera auf den Kopf gestellt. Nicht nur wurden viele Drehs abgesagt beziehungsweise verschoben, die ganze Filmindustrie wurde systemirrelevant, wie viele andere Branchen auch. Verständlich angesichts der Lage. Jedoch verheerend für die Zukunft vieler Berufszweige, gerade die des Films, auch wenn zwischenzeitlich wieder gedreht wurde: mit viel Abstand, ständigen Tests, den vielen Masken. Persönliche Gespräche und Projektbesprechungen finden bis heute überwiegend digital statt.
Das ist eine ganz andere Form der Kommunikation, die gerade beim Film eine der Hauptrollen spielt – neben den vielen Begegnungen mit diversen Menschen. Mit Menschen, für Menschen und über Menschen Geschichten erzählen – jetzt auf Distanz, mechanisch, unmenschlich, befremdlich. So arbeiten zu müssen, ist desillusionierend. Das hat wenig Seele und ist keine echte, emotionale Auseinandersetzung. Zudem ist die Corona-Krise der Todesschuss für das Kino.
Schon vor der Pandemie hatten es Auswertungen auf großer Leinwand schwer. Nicht zuletzt durch die Angebotsvielfalt der Streaming-Dienste. Die Pandemie-Maßnahmen befördern diese Entwicklung zusätzlich. Das Kino hat Schwierigkeiten zu überleben und damit auch viele weitere Berufsfelder, Menschen und Geschichten.
Du wurdest 2016 für deinen Film Haus ohne Dach mit dem First Step Award ausgezeichnet. Die Dreharbeiten fanden größtenteils in Duhok (Kurdistan, Nordirak) zu einer Zeit statt, in der die Bedrohung durch den IS (Islamischer Staat) zunahm. Wie schwer fiel es dir und dem Team, euch auf die Dreharbeiten zu konzentrieren, zumal dein Heimatdorf in der bedrohten Region liegt?
Der Dreh wurde um ein Jahr nach hinten verschoben. Das Budget wurde gekürzt, das Drehbuch umgeschrieben, das Team minimalisiert. Alles veränderte sich an der Machart, Geschichte und Erzählform von Haus ohne Dach. Einige Teammitglieder mussten abspringen, aus Sicherheitsgründen. Andere mussten Geld verdienen, welches wir als Abschlussprojekt nicht bieten konnten. Nachdem die kurdische Regierung mit einer 900 kilometerweiten Kriegsfront gegen den IS zu kämpfen hatte, gab es keine Zeit und keine Ressourcen für Kunst und Kultur.
Diese Realität, die hart und erbarmungslos vor uns stand, ob in Form von Geflüchteten, Camps oder den unfassbaren Kriegsverbrechen, rückten alles in ein anderes Licht. Ein echtes. Deswegen wuchsen wir als Team zusammen und hatten das Gefühl mehr zu tun, als einfach nur einen Film zu drehen. Es wurde eine Art Widerstand. Filmemachen gegen die Barbarei. Ein Festhalten der Begegnungen mit dem Krieg, den Überlebenden, dem Ort. Haus ohne Dach fertig zu stellen, wurde zu einer gemeinsamen Aufgabe. Die Aufgabe zu einer prägenden Erfahrung.
Setzt man sich in der Filmbranche ausreichend mit den Themen Gleichberechtigung, Equal Pay und Diversität auseinander? Welche Erfahrungen hast du als Regisseurin gemacht?
Nachdem der Filmbranche etliche Fauxpas unterliefen, setzt sie sich in letzter Zeit vermehrt mit dem Thema Gleichberechtigung, Equal Pay und Diversität auseinander. Dazu musste man sie mit unschönen Mitteln zwingen, was aber gewirkt hat. Langsam kommt ein bisschen Bewegung in die Runde. Eine Runde aus alteingesessenen Machern und Entscheidern. Mit denen ich diverse Erfahrungen machen durfte: einige sehr gute, aber leider auch viele schlechte.
Alle aufzuzählen würde dieses Interview sprengen. Im Kern aber haben sie eins gemeinsam: Diskriminierung. Sowohl rassistische, sexistische als auch klassistische. Ergo eine bewusste Benachteiligung und Herabwürdigung von Gruppen oder einzelnen Personen nach Maßgabe bestimmter Wertvorstellungen oder aufgrund unreflektierter, zum Teil auch voreingenommener Einstellungen, Vorurteile oder emotionaler Assoziationen, würde Wikipedia sagen.
Gibst du uns ein Beispiel?
Ich werde nicht selten auf meinen Migrationshintergrund reduziert, wenn es um die Berichterstattung zu meinen filmischen Arbeiten geht. Das ist despektierlich. Genauso passiert das mit der Reduktion auf mein Geschlecht, als wäre es meine Identität. Die deutsche Filmindustrie liebt eben Kategorien. Filme und Serien werden nicht selten wie Malen-nach-Zahlen-Tableaus kreiert. Sieht schön aus, ist aber keine Kunst. Kunst setzt nämlich vordergründig in Bewegung: Gedanken, Gefühle, Visionen, Utopien.
Für bestimmte Filme und Serienprojekte gebucht zu werden, weil ich eine Frau bin, mit Migrationshintergrund, Vordergrund oder was auch immer, sind die Zahlen, nach denen hierzulande gemalt wird. Produktionen sollten die beste Kreativpartnerin oder den besten Kreativpartner auswählen und keine politische Agenda. Vielfalt ist doch in unserem Leben etwas Offensichtliches und die Ausgrenzung marginalisierter Gruppen offenkundig.
Dennoch scheinen viele blind auf beiden Augen zu sein, wenn es um die mediale Repräsentanz geht. Das ist doch nicht so schwer. Und wenn sie nicht authentisch und ehrlich gemeint ist, dann lasst es! Die Veränderung muss nämlich vordergründig im Bewusstsein stattfinden, bevor sie es auf die Bildschirme schafft.
In deiner beeindruckenden Dokumentation Der NSU-Prozess aus dem Jahre 2014 haben Schauspieler*innen aus dem Originalprotokoll der Gerichtsverhandlung vorgetragen. Haben dich die Protokolle der Gerichtsverhandlungen von einer lückenlosen Aufklärung der NSU-Morde überzeugt?
Ganz und gar nicht. Die Protokolle der Gerichtsverhandlungen machen fassungslos und werfen noch mehr Fragen auf. Fragen, die bis heute nicht geklärt sind und wahrscheinlich ungeklärt bleiben. Es macht mich wütend. Der NSU-Prozess war nichts weiter als eine Farce. Lediglich der Anschein einer lückenlosen Aufklärung, andernfalls wäre eine problemlose Akteneinsicht möglich, Zeugen wären nicht verschwunden, Beweismittel nicht geschreddert, V-Männer nicht auf zwei Seiten derselben Medaille agierend.
Achtundzwanzig Millionen Euro Verfahrenskosten für nichts. Denn letztlich erfuhren die Familien der NSU-Opfer weder Gerechtigkeit noch Heilung. Die öffentlich dargestellte Aufklärung fand in Wahrheit nie statt, der sogenannte Rechtsstaat hat versagt. Das Trio um Zschäpe wurde zu Hauptfiguren des Prozesses und der Taten, die Hintermänner blieben geheim, gedeckt. Die Familien aber wurden ins Gericht gezerrt. Wieder wurden sie befragt. Wieder erinnerten sie sich an die ungeheuerlichen Taten der terroristischen Serienkiller.
Heute heißen sie Einzeltäter, die unentdeckt fünfzehn jahrelang töteten. Mit sehr wahrscheinlich polizeilicher und politischer Beteiligung beziehungsweise dem Schutz einer Struktur. Unglaublich, aber mehr als wahrscheinlich, wie auch die gegenwärtigen Schlagzeilen und der Diskurs um neonazistische Polizeigruppen zeigen. Deutschland hat nicht nur ein Rassismusproblem. Es hat viele Opfer rechter Gewalt.
Was empfindest du, wenn sechs Jahre nach deiner Dokumentation Drohschreiben mit dem Absender NSU 2.0. an Menschen verschickt werden, die sich privat oder aus beruflichen Gründen dem Kampf gegen Rechtsextremismus verschrieben haben, und sich im Zuge der Ermittlungen herausstellt, dass die persönlichen Daten zuvor über Polizeicomputer abgefragt wurden?
Wut. Weil die Nichtaufklärung des NSU-Prozesses diese Fortbewegung bekräftigt. Die neonazistischen Terroristen sind davongekommen, fühlen sich erhaben, geschützt und agieren im Staatsapparat weiter. Wer das nicht sieht, ist auf dem rechten Auge blind. Ganz einfach. Das hat System, wird geschützt, gedeckt, kleingeredet, akzeptiert. Währenddessen bangen Menschen, die sich für demokratische Werte einsetzen und diesen Rechtsstaat politisch als auch gesellschaftlich bilden, um ihr Leben. Das muss einem doch bekannt vorkommen, wohin Politik und eine Gesellschaft führen, die die falsche Seite decken!
Fast sieben Monate sind seit dem Terroranschlag am 19. Februar 2020 in Hanau vergangen. Wurde die Tat bereits vergessen?
Die Tat wurde nicht einmal richtig verinnerlicht. Sie wurde nicht begriffen. Weder auf politischer noch auf medialer Ebene. Während ich über diese letzten Fragen nachdenke, fällt mir die Beantwortung immer schwerer. Es gibt nämlich kein Fazit. Nur Gedanken, Gefühle. Ich erinnere mich an die Berichterstattung zum NSU, zum Terroranschlag in Hanau, an die Interviews mit den trauernden Familienangehörigen. Ich stelle mir das schlimmste vor.
Gott bewahre, es wäre jemand aus eurem oder meinem Umfeld. Wie hält der Mensch diesen Schmerz, der durch offenkundige Ungerechtigkeit unendlich verstärkt wird, überhaupt aus? Wenn der politische und rechtliche Apparat deine Würde mit Füßen tritt. Wenn die Medien anders als beim islamistischen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt schnell dichthalten, totschweigen. Versteht mich nicht falsch: Das Leid Hinterbliebener darf nicht verglichen werden.
Aber hier wird der Verlust von friedlichen Menschen durch Terroranschläge mit zweierlei Maß gemessen, berichtet, aufgearbeitet und untersucht. Was Deutschland medial und gesellschaftlich bewegt und erschüttert, ist auch eine politische Aussage. Die Opfer des Terroranschlages in Hanau sind es nicht. Das war ja ein Einzeltäter.
Das Flüchtlingslager Moria, das seit 2015 besteht, ist vor einigen Wochen komplett abgebrannt, wovon 13.000 Menschen betroffen sind. Über fünf Jahre hat die Europäische Union zugesehen, wie Menschen unter schlimmsten Bedingungen auf engstem Raum eingepfercht leben mussten. Selbst in der aktuellen Situation wird in der EU über eine Europäische Lösung gestritten, anstatt schnell die benötigte Hilfe zu leisten. Wie beurteilst du die zögerliche Haltung Europas?
Es ist erbärmlich. Ein Armutszeugnis. Wenn das die Ideologie der Europäischen Union ist, wird ein zukünftiger ethischer und damit politischer Zusammenbruch nicht unwahrscheinlich. Politik wird nämlich auf Säulen, die Menschenrechte schützen, gebaut. Diese sind ein Versprechen an das Volk, gerade zu stehen, zu stützen, zu halten. Ein Versprechen, das Europa schon länger nicht hält.
Denn die Art und Weise wie Schutzsuchende seit Jahren an den Außengrenzen und in europäischen Camps behandelt werden, spiegelt die Erbarmungslosigkeit einer europäischen Politik wieder, die kategorisiert und den Menschen unbeeindruckt beim Verbrennen und Ertrinken zusieht. Weil es wertvolles und weniger wertvolles Leben gibt. Die EU wird zur EÜ: Europäische Überlegenheit. Gebaut und geschaffen durch Ausbeutung anderer: anderer Menschen, anderer Länder.
Durch Kriege, die von europäischen Ländern finanziert werden und die die eigene Wirtschaft mit dem Tod vieler Unschuldiger ankurbeln. Die, die überleben, kommen an Grenzen: menschliche, seelische, finanzielle. Sie suchen andere Wege zu anderen Ländern, anderen Welten. 2015 haben die Deutschen an Bahnhöfen dafür geklatscht und Flüchtlinge willkommen geheißen. 1996 auch. Damals kam ich mit meiner Familie nach Deutschland.
Auf der Flucht vor Saddam Hussein und seinem Regime. Nach dem Giftgasangriff in Halabscha 1988 suchten viele Kurd*innen das Weite. Deutschland nahm uns auf, nachdem sie zuvor die irakische Regierung mit dem Material für die ABC-Waffen belieferte. Der Kreis schließt sich immer, wie der aus den zwölf gelben Sternen auf blauem Hintergrund, die die Werte wie Einheit, Solidarität und Harmonie zwischen den Völkern Europas symbolisieren sollen. Aber eben nur zwischen denen. Nicht den anderen.
Ab September 2020 startet dein neues Serienprojekt Deutschland 89. Stellst du uns dein neues Filmprojekt vor?
Deutschland89 ist eine Agentenserie, die in der DDR angesiedelt ist. Ich durfte zusammen mit Randa Chahoud bei der dritten und letzten Staffel Regie führen. Creators der Serie sind Anna und Jörg Winger. Sie haben die Geschichte um den jungen HVA-Agenten Martin Rauch vor fünf Jahren zum Leben erweckt. In drei Jahresabständen wird das politische als auch soziale Leben um die DDR und BRD im Weltkontext portraitiert. Zwar auf unterhaltsame und populäre Art und Weise, aber dennoch nah an echten Lebensschicksalen und politischen Wendepunkten.
Diese nehmen bis heute einen Einfluss. In gewisser Weise reflektiert die Deutschlandreihe und ihr historischer Kontext stets auch die Gegenwart. Denn während in der Serie die Berliner Mauer unter Tränen und tosender Feier am 09. November 1989 fällt, werden Grenzen in der heutigen Weltpolitik wieder herbeigesehnt. Ob in den USA oder an den europäischen Grenzen, Mauern sind wieder salonfähig. Genauso rechte Politik, die zu rassistisch geprägten gesellschaftlichen Konflikten führt.
Gepaart mit politischer Religion, die eine vermeintliche Identität stützt. Abendland gegen Morgenland. Schwarz gegen weiß. Der helle Wahn, ohne Sinn und Verstand. Dagegen wirkte die Corona-Pandemie zwischenzeitlich fast wie ein Segen. Das Virus sorgte nämlich für eine Verhältnismäßigkeit: politische, soziale. Denn wir waren alle gleich angreifbar.
Es herrschte keine Oberherrschaft; im Westen, im Osten, in Flüchtlingscamps, im Krieg, im Frieden. Corona ist die Oberhoheit. Bis heute. Das Virus sorgt für eine Art Vereinigung. Ähnlich wie der Fall der Mauer, der uns den Tag der Einheit schenkte. Daraus gelernt haben wir tatsächlich nicht viel. Vielleicht lernen wir durch die Pandemie mehr.
Dieses Interview führten Safiye Can und Hakan Akçit im November 2020.