Erinnerungskultur muss mit Umverteilung von Macht einhergehen

Interview

Wie es sich anfühlt, als jüdischer Mensch in einem Land zu leben, in dem rassistische und antisemitische Gewalttaten zunehmen und welche Bedeutung der Hund in den Gedichten seines pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erschienenen Lyrikbands "Gestohlene Luft" hat, erklärt Dichter Yevgeniy Breyger im Zwischenraum-Interview.

Portrait Yevgeniy Breyger
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Yevgeniy Breyger

Lieber Yevgeniy, du bist Lyriker, Übersetzer und Herausgeber mehrerer Anthologien. Du bist in der Ukraine geboren und kamst 1999 mit deiner Familie nach Deutschland. 2019 hast du den Leonce-und-Lena-Preis für junge deutschsprachige Lyrik gewonnen. Wie lautet dein vorzeitiges Fazit für das literarische Jahr 2020?

Bisher kann ich für das Jahr 2020 dankbar sein. Ich hatte Glück, mir durch das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds keine Sorgen um meinen Lebensunterhalt machen zu müssen. Das ist ein Privileg, das alles andere als selbstverständlich ist. Ich verbrachte gemeinsam mit meiner Frau eine wunderschöne Zeit im Herrenhaus Edenkoben, wo ich herzlich empfangen wurde und von den größten Sorgen abgeschottet war. Bald erscheint der Gedichtband, an dem ich die letzten vier Jahre gearbeitet habe und zum Ende des Jahres beginne ich die Arbeit am nächsten Band im Schriftstellerhaus Stuttgart. Gerade im Wissen, wie schwierig es in der Regel für Künstler*innen während Corona ist, ihrem bisherigen Alltag und ihrer Arbeit nachzugehen, weiß ich dieses Jahr besonders zu schätzen.

Dein neuer Lyrikband Gestohlene Luft liegt heute pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 2020 vor, die dieses Jahr größtenteils digital und ohne Publikum stattfindet. Gab es Überlegungen die Publikation aufgrund der Pandemie zu verschieben? Und wie groß ist der Nachteil ohne Großveranstaltungen wie Buchmessen und Lesungen?

Den Band wegen der Pandemie zu verschieben, wäre für mich nicht in Frage gekommen. Das Manuskript ist fertig und die Publikation ist ein hilfreicher Abschluss, um weiterschreiben zu können. Sicherlich fallen einige Veranstaltungen aus, das ist schade. Aber ich denke, wenn sich Dinge ergeben sollen, dann ergeben sie sich auch abseits von Lesungen und Großveranstaltungen. Ich habe genug Vertrauen in die bestehenden Strukturen, um darin keinen allzu großen Nachteil zu sehen.

Bei der Lektüre von Gestohlene Luft fällt auf, dass das Bild des Hundes insbesondere im Kapitel Königreiche oft verwendet wird. Zum Beispiel schreibst du im Gedicht Königreich des Regens:

Buchcover "Gestohlene Luft" von Yevgeniy Breyger

Geschichte schießt auf Geschichte, Hunde erschießen sich, Dorf schießt auf Stadt […]

In Tag 8 heißt es:

Sie träumt diesen Traum wie ein Hund. Immer wieder von vorn.

Und weiter steht dort:

Dieser Hund will nicht gehn, sitzt im Weg. Er bewacht sie, als wär sie sein Schatz. Schwarzer Hund, will sie sagen, wach auf. Doch ist’s sie, die da schläft, die von Neuem sich träumt in den Hof durch das dreckige Tor. Ein verlorener Tag. Sie spaziert in das Haus, das nach Hund riecht, vertraut.

Welche Bedeutung hat der Hund für dich bzw. welche tiefsinnige Bedeutung steckt hinter diesem Bild?

Ob das eine tiefsinnige Bedeutung ist, mag ich nicht beurteilen, aber die Treue eines Hundes steht für mich für eine beispielhaft reine Bindung, kaum Erwartungen, kaum Kränkungen. Die negative Konnotation speist sich schließlich auch aus diesem treuen, dem schnell als treudoof bezeichneten. Warum nicht treudoof sein? Besser unterwürfig als beherrschend. Der Spannung zwischen dem positiven und dem negativen Bedeutungsfeld von Hund kann ich einiges abgewinnen.

Was empfindest du als Mensch jüdischen Glaubens in Deutschland, wenn rassistische und antisemitische Terroranschläge (wie u.a. in Halle und Hanau) zunehmen und gleichzeitig rechtsradikale Chatgruppen bei der Polizei und Bundeswehr aufgedeckt werden?

Ich fühle mich schwach. Alleingelassen und gelähmt. Ich frage mich, wohin ich gehen soll, um sicher zu sein. In diesen Gegebenheiten keine Struktur erkennen zu wollen, ist nicht der Anfang, der zu Schlimmerem führen kann. Wir sind weiter. Zudem, die Polizei in Deutschland – ob es in anderen Ländern auch so ist, spielt nicht die geringste Rolle – ist in der Mehrheit konservativ bis rechts, rechtsradikal. Wer andere Schlüsse zieht, sollte mit Betroffenen sprechen und ihren Erfahrungen zuhören. Die angeforderte Rassismusstudie wäre ein Anfang, aber was soll dagegen helfen? Vielleicht eine Quote für Menschen mit Migrationshintergrund und queere Menschen an Beamtenstellen? Ich weiß es nicht. Man müsste zuerst Bedingungen schaffen, ein Arbeitsklima, das solchen Menschen ermöglicht, angstfrei zu sein und derartige Lebenswege stärker in Betracht zu ziehen.

Die Politik spricht immer von Null Toleranz bei Rassismus und Antisemitismus. Warum fällt es ihr dann schwer, von der steigenden Anzahl von Einzelfällen bei den Sicherheitsbehörden auf einen strukturellen Rassismus zu schließen?

Politik funktioniert bisher leider nicht ohne Lobbyarbeit und damit nicht ohne die abstruse Angst, die vorherrschenden Strukturen als Unterstützung zu verlieren. Die letzte große deutsche Umverteilung von Mitteln war das Ausrauben der deutschen Jüdinnen und Juden. In diesen Sphären ist die Macht größtenteils geblieben. Deutsch-industriell beinhaltet oft genug die klassischen Verstrickungen zur Nazizeit. Ich finde es seltsam, der Illusion zu verfallen, dass sich daran viel geändert hätte, solange Erinnerungskultur nicht mit Umverteilung von Macht einhergeht. Und heutzutage haben wir eine größer werdende Gruppe von muslimischen Geflüchteten im Land, die aus schrecklichen Lebensumständen zu uns kommen, die Deutschland und die EU aktiv mitgeprägt und verursacht haben. Nichts anderes müsste man tun, als ihnen sofortiges Wahlrecht, Arbeitsrecht und jegliche anderen Mitbestimmungsrechte zu geben, wir sollten sie auf Händen tragen als Ausgleich für das Leid, das wir ihnen zugefügt haben und tagtäglich weiter zufügen. In diesem Sinne kann ich beispielsweise die Polemik von einer Jüdisch-Muslimischen-Leitkultur komplett unterstützen.

Portrait Yevgeniy Breyger

Yevgeniy Breyger wurde 1989 in der Ukraine geboren und siedelte mit seiner Familie 1999 nach Magdeburg über. Er studierte an der Universität Hildesheim, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Hochschule für Bildende Künste Städelschule in Frankfurt am Main. Er gewann den Selma Meerbaum-Eisinger Literaturpreis 2011 und war Finalist beim 20. Open Mike 2012. 2016 erschien sein Debütband flüchtige monde bei kookbooks. Der Band wurde unter die Gedichtbände des Jahres im Literaturhaus Berlin und unter die besten Lyrikdebüts des Jahres im Haus für Poesie ausgewählt. 2018 erhielt er den 2. Preis beim Lyrikpreis München und gewann den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt 2019. Sein zweiter Gedichtband gestohlene luft ist 2020 bei kookbooks erschienen und wird durch Stipendien des Deutschen Literaturfonds und des Herrenhauses Edenkoben gefördert. Zum Ende des Jahres 2020 ist Breyger Stipendiat im Schriftstellerhaus Stuttgart.

Yevgeniy Breyger ist Mitglied des Dichter*innenkollektivs Salon Fluchtentier. Er lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

Du bist Mitglied des Dichter*innenkollektivs Salon Fluchtentier. Welche Ziele verfolgt ihr?

Aktuell pausiert der Salon Fluchtentier. Die Ziele müssen wir uns neu überlegen. Wir haben vier Jahre reiches Programm hinter uns, wo über 50 Dichter*innen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zu Gast waren. Mein persönlicher Wunsch war dabei, der Lyrik, die ich schätze und liebe, einen fruchtbaren Raum zu geben. Ich hoffe, dass es damit bald weitergeht.

Drei Dinge, die deine Leser*innen wahrscheinlich nicht von dir wissen, weil solche Fragen in Interviews nicht gestellt werden?

Ich glaube daran, dass letztendlich alles zum Besten ist, dass alles gut wird.
Ich kämpfe mit mir selbst und muss jeden Tag aufs Neue gewinnen.
Ich bin niemals erwachsen geworden.

Danke für dieses Interview!

 

Dieses Interview führten Safiye Can und Hakan Akçit im Oktober 2020.