Editorial zum Dossier "Religiöse Vielfalt"

Wieso müssen wir uns eigentlich mit Religion beschäftigen und was hat Religiosität mit Zugehörigkeit und Teilhabe zu tun? Das Editorial macht deutlich, warum Religion uns alle betrifft und ist zugleich Wegweiser durch die einzelnen Bereiche des Dossiers.

Lucie Kretschmer

Das progressive Lager ist gespalten. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den Einfluss der Religionsgemeinschaften und insbesondere der Kirchen kritisieren. Sie sehen Religion als reine Privatsache an. Auf der anderen Seite finden sich diejenigen, die eine positive und gestalterische Kraft der Religion für unsere Gesellschaft betonen, ihre prägende kulturelle Wirkung, ihre befriedende Funktion.

Diese Pole verdeutlichen: Sich mit Religion und religiöser Vielfalt zu beschäftigen, heißt, Ambivalenzen und Spannungen auszuhalten. Es bedeutet, Lebensweisen zu tolerieren, denen man nicht ad-hoc zustimmen würde, Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnisse in Frage zu stellen.

Viele Menschen leisten diese Aufgaben täglich und eher nebenbei: als Altenpfleger, als Unternehmerin, als Lehrer oder Kommunalpolitikerin. Der Umgang mit verschiedenen (nicht-)religiösen und weltanschaulichen Bedürfnissen, die ausgehandelt und in Einklang gebracht werden wollen, ist schwierig und mitunter konfliktbeladen. Daher ist der Reflex nachvollziehbar, sich möglichst wenig mit dem Thema zu beschäftigen. 

Warum wir uns mit Religion beschäftigen müssen

Doch die Beiträge dieses Dossiers sind von der Überzeugung getragen, dass wir Religionen und Religiosität nicht einfach wegwischen können, sondern Religionsfreiheit als ein zentrales Grundrecht unserer Verfassung ernst nehmen und mit Blick auf die Vielfalt in unserer Gesellschaft neu leben müssen. Denn ein sachlicher und fairer Umgang mit weltanschaulichen und religiösen Interessen gehört zu den zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Gelingt er, so wird er einen wesentlichen Beitrag für eine friedliche und solidarische Gesellschaft leisten. Scheitert er, werden wir uns weit entfernt davon wiederfinden, was wir uns unter einer lebenswerten Gesellschaft vorstellen – und von den Ansprüchen, die wir an uns selbst stellen.

Im ersten Teil des vorliegenden Dossiers geht es deshalb um die rechtlichen Grundlagen, die täglichen Herausforderungen und die politischen Grundsätze und Konflikte der Religionspolitik in Deutschland. Wie so oft zeigt sich auch hier: Der Umgang mit Diversität ist fordernd, er ist anstrengend, aber dort, wo er glückt, ist sie eine Bereicherung. Und die Gründe, die den Umgang mit religiöser Vielfalt so herausfordernd machen, sind zugleich die großen Chancen, wenn alle Beteiligten ihren Anteil zum Gelingen beitragen.

Religion, Identität und Zugehörigkeit 

Religion ist – mal mehr, mal weniger – zentraler Teil der Identität vieler Menschen, ob spirituell, sozial, theologisch oder kulturell. Sie ist ein Teil, der in der gesellschaftspolitischen Analyse nicht schlankerhand ausgeblendet werden kann, denn diese Identität bringen Menschen mit an den Tisch, vor den Fernseher, ins Klassenzimmer, ins Büro und ins Pflegeheim. Eine Gesellschaft der Inklusion, die an sich den Anspruch stellt, Verschiedenheit wertzuschätzen und Menschen gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen, muss sich auch mit Religion auseinandersetzen. Dabei ist Religiosität nicht unbedingt die zentrale und keinesfalls die einzige Zugehörigkeit oder Bindung eines Menschen. Sie ist eine neben vielen, aber eben eine, die in hohem Maße persönliche Einstellungen und Bedürfnisse prägt.

Religiosität ist darüber hinaus eng verwoben mit kulturellen Werten und Praktiken. Das bedeutet keinesfalls, dass alle Angehörigen einer Konfession eine homogene kulturelle Gruppe darstellen. Im Diskurs über „den Islam“, der als solch monolithischer Block gar nicht existiert, zeigen sich die Herausforderungen eines differenzierten Umgangs mit den Zusammenhängen zwischen Religion und Kultur geradezu beispielhaft. Zu leichtfertig und oft auch absichtlich werden „dem Islam“ kulturelle Eigenheiten zugeschrieben, um muslimisch gelesenen Menschen gezielt eine Andersartigkeit zu unterstellen, nicht selten mit fatalen politischen Folgen.

Insofern berührt religiöse Vielfalt auch eine kollektive Komponente von Identität und Zugehörigkeit. Über Religion zu sprechen, bedeutet also auch, über das konstruierte ‚Wir‘ und ‚Die‘ in unserer Gesellschaft zu sprechen. Dazu gehört eine Selbstreflexion darüber, welche kulturellen, aber auch ethnischen oder sozialen Zuschreibungen wir mit Religion(en) verbinden. 

Im zweiten Teil des Dossiers werden für ausgewählte gesellschaftliche Bereiche Strategien im Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt vorgestellt, die diese Fragen nach Religion und individueller wie kollektiver Identität mitdenken.

Religion und Wahrheit

Schließlich fordert Religion unser Verhältnis zur Wahrheit heraus – egal, ob wir uns einer Konfession zugehörig fühlen oder nicht. Es sind gerade Religionsgemeinschaften, die den Austausch mit der Zivilgesellschaft, mit Nicht-Religiösen, Andersreligiösen zur eigenen Reflexion brauchen. Denn dieser ist unabdingbar für den Zweifel, der es erst möglich macht, zu glauben, ohne die eigene Wahrheit absolut zu setzen. Und dort, wo die eigene Wahrheit absolut wird, ist ein gleichberechtigtes Miteinander unmöglich.

Nicht-Religiöse müssen im Gegenzug auch Irrationalitäten innerhalb der Glaubenslehren oder zwischen Glauben und (Natur-)Wissenschaften aushalten können, andere Lebensweisen und Haltungen ernst nehmen und respektieren, ohne mit diesen übereinstimmen zu müssen. Der dritte Teil des Dossiers widmet sich diesem Verhältnis von Religionsgemeinschaften und Gesellschaft sowie der Rolle der Politik zwischen Fundamentalismus und Dialogbereitschaft.

Religiöse Vielfalt und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Religion in diesem Sinne ernst zu nehmen heißt dann gerade nicht, dass unsere Gesellschaft sich entlang religiöser und weltanschaulicher Linien ausdifferenzieren soll, dass vom Kindergarten bis ins Altersheim, von der Radiosendung bis zum Theaterstück, vom Religionsunterricht bis zu Freizeitangeboten nur noch (mono-)religiöse Angebote bestehen sollen. Ganz im Gegenteil: Diese Angebote haben zwar ihre Berechtigung, aber sie sind dringend durch Angebote zu ergänzen, die sich an alle richten, die alle beteiligen, die sich um den Austausch und die alltägliche Begegnung bemühen.

Es sind zwingend mehr Kenntnisse über die jeweils ‚andere‘ Weltanschauung oder Religion vonnöten, die nur durch inhaltliche Auseinandersetzung und direkte Begegnungen entstehen. Der Rahmen hierfür steht bereits: am Arbeitsplatz, in der Schule, in Vereinen und überall sonst, wo Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen, gemeinsam wirken, sich miteinander austauschen. Hier liegt die größte Chance für eine Begegnung auf Augenhöhe, für den Abbau von Vorurteilen und damit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 

Sich diesen Zielen auf individueller und politischer Ebene anzunähern, erfordert zunächst, gemeinsam in einen offenen und aufgeschlossenen Diskurs zu treten. Es braucht einen Austausch über bereits erfolgreiche Praxis des Miteinanders. Eine Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse der einzelnen Beiträge des Dossiers sowie politische und gesellschaftliche Aufgaben für die Zukunft finden Sie im vierten Teil, dem Resümee. Egal, ob Sie also Praktikerin sind oder Engagierter, Politikerin oder interessierter Laie: Dieses Dossier gibt Ihnen Anregungen, gute Beispiele, Handlungsempfehlungen und Strategien an die Hand, wie der Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt gelingen kann – auch und gerade für progressive Kräfte in diesem Land.