Um den Zusammenhalt einer pluralen Gesellschaft zu stärken, braucht es eine progressive Religionspolitik der Vielfalt. Auf ihr Potenzial und die darin bestehenden großen Chancen verweist Dr. Ellen Ueberschär, Vorständin der Heinrich-Böll-Stiftung, in ihrem Vorwort zum Dossier "Religiöse Vielfalt".
Worum geht es in unserem Dossier zu Religion und Weltanschauung? Es geht um Religionsfreiheit, um die Gewährleistung von Menschenrechten, um Pluralität und wie das alles öffentlich geregelt und gesellschaftlich gelebt wird. Religionen und Weltanschauungen speisen sich aus langen Traditionen, sind aber in ihrem Einfluss auf die Gesellschaft von hoher Dynamik.
Im Jahr 2008 veröffentlichte die Heinrich-Böll-Stiftung zum ersten Mal ein Dossier zum Thema. Vor mehr als einem Jahrzehnt lag der Fokus auf der religiösen Vielfalt, die sich durch die Einwanderung nach Deutschland entfaltete. Migrant*innengemeinden mit ihren Themen und Erfahrungen sichtbar zu machen, das Ringen um Teilhabe an der Gesellschaft, an Rechten und Pflichten im Bereich der Religionspolitik standen im Vordergrund.
Heute hat sich das Bild weiter diversifiziert: Weltanschauliche und religiöse Pluralität ist nicht mehr das Neue, sondern die Voraussetzung für eine Gesellschaft der Vielfalt. Das Feld der Religionspolitik hat sich massiv verändert und erweitert, als eigenständiges Politikfeld ist es noch immer nicht etabliert.
Religionspolitik wäre kaum nötig, wenn es nicht jede Menge Konflikte gäbe, die gesellschaftliche Aushandlungsprozesse in Gang setzen. Christliche Symbole in deutschen Amtsstuben, Kopftuch bei Kindern und Richterinnen, Beschneidung von Jungen, Universitätsprüfungen am Samstag - die möglichen Konfliktfelder nehmen mit wachsender Vielfalt ebenso zu. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani hält das für einen normalen Prozess: „Konflikte entstehen nicht, weil die Integration von Migranten und Minderheiten fehlschlägt, sondern weil sie zunehmend gelingt.“
Religionspolitik geht über die Integrationsdynamik aber weit hinaus. Seit den 1960er Jahren sind die „westlichen“ Gesellschaften von Prozessen der Individualisierung, Säkularisierung und Pluralisierung geprägt. Aus der früheren Kirchenpolitik und ihren klar zu benennenden Ansprechpartner*innen und Themen ist ein buntes Feld unterschiedlicher Akteur*innen aus verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften geworden, die gleiche Ansprüche auf korporative Religionsfreiheit erheben wie die Großkirchen. Allein der Begriff der Religionspolitik ist ein Hinweis darauf, dass sich jenseits der Kirchenpolitik ein Veränderungsbedarf aufgebaut hat, der nach Gestaltung und Regelung ruft.
Der Umgang mit Vielfalt ist nicht auf die Bundesebene beschränkt, sondern verlangt der kommunalen, aber auch der Ebene der Bundesländer einiges ab. Da geht es um vielfältige Angelegenheiten: Finanzierungsfragen, religiöse Bauten, Friedhofsrecht, Religionsausübung im öffentlichen Raum, Feiertage, Seelsorge in Militär und Krankenhäusern, Religionsunterricht und vieles mehr. Wer aber ist jeweils zuständig? Wo sind die Ansprechpartner*innen der Religionsgemeinschaften? Die prinzipielle Zuordnung zu den jeweiligen Innenressorts reicht nicht aus, um die multiplen Perspektiven von Religions- und Politikwissenschaft, von Antidiskriminierung, von Zivil- und Verwaltungsrecht, Soziologie und Theologie zu erfassen und zu berücksichtigen.
Staat, Gesellschaft und die Religionsgemeinschaften selbst müssen zu einer Religionspolitik der Vielfalt beitragen. Auf Seiten der Religionsgemeinschaften geht es um eine klare Verortung im liberalen Verfassungsstaat und die Abgrenzung von Fundamentalist*innen. Auf Seiten der Gesellschaft geht es um den Abbau von Vorurteilen und Misstrauen zwischen verschiedenen (nicht-)religiösen und weltanschaulichen Gruppen, um Gleichbehandlung und Teilhabe. Auf Seiten des Staates geht es um rechtliche Ermöglichung von Teilhabe, um Neutralität und Parität. Nach wie vor stehen die Chancen für eine progressive Religionspolitik der Vielfalt in Deutschland sehr gut. Sie ist kein Selbstzweck, sondern stärkt den Zusammenhalt einer pluralen Gesellschaft. Die positiven Erfahrungen mit einem kooperativen Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften müssen und können an die neuen Herausforderungen angepasst werden.
Ziel unseres Dossiers ist es, das Politikfeld Religion und Weltanschauung auszuloten, Wegweiser durch das komplizierte Geflecht des Verfassungsrechtes zu sein, vor allem aber Best Practice-Beispiele sowie zukunftsfähige Strategien und Methoden für gleichberechtigte Teilhabe aufzuzeigen. (Kommunal-)Politisch Engagierte, Ehrenamtliche und Beschäftigte in Vereinen und Initiativen der Zivilgesellschaft sowie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen davon profitieren.
Berlin, 17. Dezember 2020
Dr. Ellen Ueberschär (Vorständin Heinrich-Böll-Stiftung)