Über 250 Religionsgemeinschaften sind in der Hauptstadt aktiv – und die Mehrheit der Berliner*innen ist konfessionslos. Hartmut Rhein, Beauftragter des Landes Berlin für Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, berichtet von Herausforderungen, Bedürfnissen und Verantwortung in der lokalen Religions- und Weltanschauungspolitik.
Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften spielen eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Leben der multikulturellen Metropole Berlin mit über 3,5 Millionen Einwohner*innen. Die Stadt nimmt hinsichtlich der großen Pluralität unterschiedlicher Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften deutschland- und vielleicht sogar europaweit eine Sonderstellung ein. Die beiden mitgliederstärksten Gemeinschaften sind die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und das Erzbistum Berlin der Katholischen Kirche. Die drittgrößte Gruppe bilden die Menschen muslimischen Glaubens, gefolgt von den Jüd*innen.
Darüber hinaus gibt es zahlreiche buddhistische und hinduistische Gemeinschaften, orthodoxe, freikirchliche und andere christliche sowie Bahá’í- und Sikh-Gemeinden. Neben den Gemeinschaften der großen Weltreligionen besteht eine Vielzahl kleinerer Religionsgemeinschaften. Schätzungen gehen davon aus, dass gegenwärtig über 250 Religions- beziehungsweise Weltanschauungsgemeinschaften in der Hauptstadt aktiv sind. Verschiedene Vereine, Projekte und Initiativen arbeiten erfolgreich zum Teil seit vielen Jahren im Bereich des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen Angehörigen unterschiedlichen Glaubens.
Andererseits sind viele Berliner*innen konfessionell nicht gebunden. Einige von ihnen haben sich in Weltanschauungsgemeinschaften zusammengeschlossen, die Träger beziehungsweise Anbieter von sozialen und kulturellen Einrichtungen und Projekten sind. Die größte Weltanschauungsgemeinschaft in Berlin ist der Humanistische Verband Deutschland, Landesverband Berlin-Brandenburg mit circa 15.000 Mitgliedern.
Grundlage für die Religionspolitik
Den Rahmen für das staatliche und kommunale Handeln stellt die Verfassung in Form des Grundgesetzes und der Landesverfassung da. Darin wird den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die freie Religionsausübung zugesichert, insofern die religiöse Praxis nicht andere Artikel der Verfassung verletzt. Für den Staat bedeutet dies, dass alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln sind und niemand bevorzugt oder benachteiligt werden darf.
Im Vergleich zum Laizismus gibt es in Deutschland die positive Neutralität gegenüber den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Der Staat darf die Rahmenbedingungen fördern, nicht aber die konkrete Religionsausübung. Aus diesen Grundlagen ergeben sich entsprechend Chancen und Herausforderungen für den Umgang der vielfältigen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen und den staatlichen Partner*innen.
Herausforderungen für lokale politische Akteur*innen
Zunächst einmal begegnen der Staat, das Land und jede Kommune – beziehungsweise in Berlin jeder Bezirk – jeder Religion und Weltanschauung im Einzelnen. Bei etwa 250 Gemeinschaften in Berlin liegt auf der Hand, dass diese unterschiedliche Bedürfnisse haben und für diese Bedürfnisse auch unterschiedliche Ansprechpartner*innen suchen. Manche Gemeinschaften existieren relativ autark und haben kaum Bezugspunkte zur staatlichen Verwaltung. Andere suchen bewusst den Kontakt und bitten beispielsweise um Unterstützung.
Die Gemeinschaften sind extrem unterschiedlich organisiert. Einige Gruppierungen existieren eigenständig, entfalten ihre Wirkungsstätte vorrangig im Kiez und ihre Mitglieder arbeiten hauptsächlich ehrenamtlich. Sie mögen oft über ihren Kiez hinaus nicht bekannt sein, können jedoch lokal sehr aktiv sein. Zahlreiche Gruppierungen haben sich als eingetragene Vereine organisiert. Sofern sie sich in Dachverbänden oder Interessensgemeinschaften zusammenschließen, profitieren sie von einer meist hauptberuflichen Ansprechperson, die gegenüber politischen und staatlichen Instanzen ihre Interessen vertritt. Diesen professioneller organisierten Zusammenschlüssen fällt es leichter, gegenüber den politischen Akteur*innen aufzutreten und entsprechend Fachwissen in Antragstellungen und Behördenabläufen aufzubauen.
Die Interaktion mit staatlichen Behörden stellt für Gruppierungen, die Menschen mit Bildungskompetenz, mit höheren Berufs- und Bildungsabschlüssen als Mitglieder haben, keine große Hürde dar. Im Umkehrschluss sind Gruppierungen mit geringer Sprach- und beziehungsweise oder Bildungskompetenz herausgefordert, die Interaktion mit den Behörden zu meistern. Für die staatlichen Behörden gilt es, für die unterschiedlichen Kompetenzen des jeweiligen Gegenübers sensibel zu sein. Für die Bürokratie bedeutet das nicht per se, bei kleineren Gemeinschaften Unkenntnis zu unterstellen und gleichzeitig im Blick zu haben, dass beispielsweise „Behördendeutsch“ die Gesprächspartner*innen überfordern kann. Das Land Berlin hat sich die Gleichbehandlung auch durch das Gleichbehandlungsgesetz zur Aufgabe gemacht.
Es gibt aber auch hochprofessionell ausgestattete Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die etwa den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechtes (siehe das Interview mit Judith Hahn in diesem Dossier) haben. Sie verfügen über die entsprechende finanzielle und personelle Infrastruktur, um für ihre vielfältigen Bedürfnisse gegenüber den lokalen und Landesbehörden Fachpersonal bereitzustellen. Tendenziell ist deshalb darauf zu achten, dass neben den professionell verfassten Gruppierungen die weniger strukturell verfassten Gruppierungen überhaupt erfahren, dass und wie sie mit den Behörden in Kontakt treten können.
Neben der Organisationsstruktur können sprachliche Barrieren eine Herausforderung darstellen. Mitglieder der Migrationskirchen oder ostasiatischer Religionsgemeinschaften kommen in ihren Gemeinschaften zusammen, um sich religiös, kulturell und sprachlich zu vernetzen. Sie bieten zum Teil auch Deutsch- und Herkunftssprachkurse an. Sie engagieren sich in der Integration für Zugezogene und sind im lokalen Kiez unterschiedlich, in der Regel überwiegend gut integriert. Bei der Interaktion mit den Behörden fällt jedoch auf, dass Sprach- und Verwaltungskenntnisse fehlen und die Anfragestellenden aus diesen Gründen mit ihren Anliegen Schwierigkeiten haben.
Anforderungen der religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen an die (Lokal-)Politik
Die Bedürfnisse der religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften gegenüber der lokalen und Landespolitik sind so vielfältig wie die Gemeinden selbst. Grundsätzlich gilt das Recht auf Selbstbestimmung und der Selbstorganisation, das heißt innerhalb der religiösen oder weltanschaulichen Ausübung entscheiden die Gemeinschaften im Einklang mit dem bestehenden Recht, wie sie sich und das rituelle Leben organisieren. Erst wenn das Bedürfnis der Selbstbestimmung mit den gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen oder Regelungen in Kontakt tritt, gilt es, in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden Lösungen zu finden - durch Ausnahmeregelungen oder gegebenenfalls gesetzliche Anpassungen. Typische Beispiele dafür sind:
- die Gesundheitsversorgung (Behandlung durch medizinisches Personal desselben Geschlechts),
- die Elementarpädagogik (religionssensible und interkulturelle Pädagogik, Einhaltung von Speisevorschriften),
- die Schulen (Gewährung von Arbeits-/Schulbefreiung an Feiertagen, Einrichtung und Finanzierung von Religions-/Weltanschauungsunterricht),
- die Universitäten und Arbeitsstätten (Gebetsräume, Einhaltung von Speisevorschriften, Arbeitsbefreiung an Feiertagen),
- die Beschaffung von Lebensmitteln (rituelle Schlachtung),
- die Gefängnisse und Krankenhäuser (Betreuung/Seelsorge ermöglichen)
- und das Friedhofswesen (Ruhefristen, sarglose Bestattung, rituelle Waschräume).
Ein besonderes Bedürfnis stellt die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten zur religiösen oder weltanschaulichen Ausübung dar. In den letzten Jahren haben in Berlin die Immobilienpreise erheblich angezogen. Die Gemeinschaften sind davon ebenfalls betroffen. Sie zahlen zum Teil gewerbliche Mieten, werden aus zentralen Lagen in Randbezirke verdrängt und laufen gleichzeitig Gefahr, auch in Industriegebieten ihre Räumlichkeiten zu verlieren.
Gerade kleineren Gemeinschaften fällt es darüber hinaus schwer, Eigentum zu erwerben. Vermietungen erfolgen manchmal unter der Auflage, die Räumlichkeiten nicht nach außen ersichtlich als religiöse Stätte zu nutzen. Außerdem wenden sich religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften an die Behörden, wenn es um die Finanzierung von Umbauten, Neubauten oder Instandhaltung sowohl von religiösen Gebäuden als auch von Kitas, Schulen oder Krankenhäusern geht.
Verständigung zwischen Religionsgemeinschaften und Förderung des interreligiösen Dialogs
Auf den ersten Blick scheint es nicht der Auftrag des Staates zu sein, die Verständigung zwischen Religionsgemeinschaften zu fördern. Da der Staat selbst weltanschaulich neutral ist, kann er keinen interreligiösen Dialog selbst betreiben, sondern lediglich die religionsübergreifende Zusammenarbeit fördern. Aufgrund der Gleichbehandlungsverpflichtung ist es auch nicht Aufgabe des Staates, die Dialogpartner*innen zu bestimmen.
Gleichzeitig hat der Staat ein großes Interesse daran, für ein friedliches und verständnisvolles Zusammenleben in der Gesellschaft zu sorgen. Als Beauftragte*r gilt es deshalb, die Bedürfnisse der Gemeinschaften zu hören und – wo nötig – bei Spannungen zwischen Gemeinschaften als neutraler Dritter für Verständnis zu werben. Gleichzeitig kann ein*e Beauftragte*r für eine Vernetzung zwischen den religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen sorgen und beispielsweise darauf hinweisen, dass es Gruppierungen mit ganz ähnlichen Fragen gibt. Durch diese Vernetzung kann es gelingen, dass die Gruppierungen von- und miteinander Problemlösungen erlernen.
2012 initiierte in Berlin die Senatskanzlei den Berliner Dialog der Religionen, aus dem zwei Jahre später das Forum der Religionen entstand. Aufgrund seiner Neutralität durfte und war der Staat nicht in der Lage, über die Mitgliedschaft der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Bewerber*innen zu entscheiden. Sämtliche Religionsgemeinschaften und religionsübergreifenden Initiativen, Gruppen und Akteur*innen waren eingeladen. Das Land Berlin hat so in den zahlreichen Workshops und Konferenzen ausschließlich die rechtliche Hülle und den Rahmen für die Vernetzung der Gruppierungen gestellt.
Die inhaltliche Arbeit wurde den Mitgliedern eigenständig überlassen. Sie allein haben die Themen ausgewählt und die Prioritäten gesetzt, die zur Herausbildung von Initiativgruppen führten, welche dann eigenständig ihre jeweiligen Themen voranbrachten. Daraus resultierte als erstes die Lange Nacht der Religionen, die seit vielen Jahren ein fester Bestandteil im Berliner Kalender ist. Zahlreiche andere Gruppen sind entstanden, beispielsweise die Initiativgruppen „Musik in den Religionen“, „Kinder und Jugendliche“ und „Frauen in den Religionen“. Nachdem sich die Formate eines Koordinierungsrates, einer Steuerungsgruppe und eines großen Plenums etabliert hatten, formierte sich bereits im November 2014 ein eigener Verein, der ebenfalls Berliner Forum der Religionen heißt und unabhängig von staatlichen Einflüssen agieren kann.
Über das Berliner Forum der Religionen unterstützt der Beauftragte für Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auch andere Formen der religionsübergreifenden Zusammenarbeit im Rahmen der Projektförderung verschiedener Formate. Zu diesen geförderten Projekten gehören die Lange Nacht der Religionen, die Muslimischen Kulturtage, interreligiöse Theaterprojekte, meet2respect als muslimisch-jüdische Tandem-Tour und für Unterrichtsbesuche, der Dialog der Weltanschauungen und der Jüdisch-Muslimische Salon. Die Lange Nacht der Religionen findet seit neun Jahren statt und ermöglicht es Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, in der Vor- und Nachbereitung miteinander in intensiven Kontakt zu kommen.
Sie eröffnet bei der Durchführung den Gemeinschaften und dem säkularen Berliner Publikum die Gelegenheit, die religiöse und weltanschauliche Vielfalt Berlins kennenzulernen. Für religionsübergreifende Leuchtturmprojekte wie das House of One – ein Bet- und Lehrhaus für die drei abrahamitischen Religionen – oder die Drei-Religionen-Kita wird eine Begleitung und politische Wegbereitung zur Verfügung gestellt.
Der gesellschaftliche Mehrwert von Religionen und Weltanschauungen
Die öffentliche Hand zielt letztlich durch die Förderung der religionsübergreifenden Arbeit darauf ab, eine Verständigung zwischen den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu begünstigen. Dabei ist uns klar, dass diese Gemeinschaften in der Regel einen großen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlergehen leisten, der zum Teil von staatlicher Seite nicht gewährleistet werden kann. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften tragen zu Sinnstiftung menschlichen Lebens bei und können in der Lage sein, der Bevölkerung einen ethischen Rahmen und Orientierung in verschiedenen Lebensphasen zu geben.
Darüber hinaus tragen die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen unserer Gesellschaft bei. Sie übernehmen in Pflege und Erziehung institutionelle Aufgaben, sie engagieren sich in der Integration, in der Nachbarschaftshilfe und in der sozialen Fürsorge. Durch ihre Präsenz tragen sie zu Toleranz und Verständigung bei. Die Berliner Gesellschaft ist vielfältig und die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen sind ein Teil dieser Vielfalt.
Durch ihre religionsübergreifende Tätigkeit werden sie in der Stadtgesellschaft sichtbar und verdeutlichen durch ihr Engagement, dass Verständigung und Zusammenleben in Vielfalt praktisch gelebt werden kann. Dass auch das Zusammenwirken von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen möglich ist, zeigt die Mitgliedschaft dieser Gruppierungen in Bürgerplattformen. Die religiösen, weltanschaulichen und zivilgesellschaftlichen Partner*innen erkennen, dass sie in ihren unterschiedlichen Lebensausrichtungen auch gemeinsame Bedürfnisse haben.
Weltanschaulich organisierte Vereine sind in der Religionspolitik genauso in den Blick zu nehmen wie die Religionsgemeinschaften. Entsprechend wird in Berlin darauf geachtet, beide Ausprägungen gemeinsam zu nennen. Bei der Langen Nacht der Religionen sind auch weltanschauliche Gruppierungen vertreten. Der Humanistische Verband besitzt Körperschaftsrechte und erteilt seinen eigenen Weltanschauungsunterricht in staatlicher Förderung.
Bleibende Verantwortung
Religionspolitik stellt eine bleibende Verantwortung dar. Es gilt, immer wieder zu reflektieren, ob wir die Bedürfnisse der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Blick haben. Die Politik und die Gemeinschaften beschreiten gemeinsam Lernwege im Umgang mit den Herausforderungen und Chancen. Gerade während der Corona-Pandemie hat sich die intensive Zusammenarbeit zwischen staatlichen und religiösen Akteur*innen als außerordentlich hilfreich erwiesen.
Religionsgemeinschaften haben sich als wertvolle und eigenverantwortliche Partner*innen im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus erwiesen. Diese erfolgreiche Zusammenarbeit kann auch die Grundlage für mannigfaltige andere gesellschaftliche Themen bieten, bei denen die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die gleichen Anliegen verfolgen wie der Staat.