Die verfassungsrechtlichen Grundlagen für Religionspolitik

Interview

Die religiös-weltanschauliche Vielfalt ist längst Realität. Doch wie gut ist unser Verfassungssystem auf sie vorbereitet? Kirchenrechtlerin Prof. Dr. Judith Hahn klärt im Interview über verfassungsrechtliche Eigenheiten, neue Formen der Religiosität und die Grenzen der Gleichbehandlung auf.
 

Portrait von Judith Hahn

Lucie Kretschmer: Frau Professorin Hahn, würden Sie Deutschland als säkulares Land bezeichnen?

Judith Hahn: Das kommt stark darauf an, was Sie genau meinen, die deutsche Gesellschaft oder den deutschen Staat. In der deutschen Gesellschaft kann man eine schwindende öffentliche Bedeutung von Religion nachvollziehen, wenn auch nicht durchgängig und vollständig. Ich halte die Säkularisierung der Gesellschaft für keine lineare Entwicklung von der klar konfessionell-kirchlich gebundenen Bevölkerung zu einer postreligiösen.

Religion wird in Deutschland bleibend eine Rolle spielen, wenn auch in gewandelter Form. Religiosität wird weniger kirchlich und weniger institutionell, dafür individueller, flexibler und fluider. Sie verbindet sich zunehmend – teils auch spontan – mit anderen Überzeugungen, um bestimmte sozial relevante Themen zu bearbeiten. Das konnte man bei religiös motiviertem Engagement in der Flüchtlingskrise oder aktuell in der Corona-Nachbarschaftshilfe beobachten. 

Und der deutsche Staat?

Der ist säkular verfasst. Es gibt in Deutschland – verfassungsrechtlich garantiert – keine Staatskirche. Die politische Ordnung ist von der religiösen Ordnung getrennt, auch wenn viele kooperative Bezüge zwischen Staat und Religionsgemeinschaften bestehen, insoweit Staat und Religionsgemeinschaften gemeinsame Angelegenheiten auch gemeinsam bearbeiten: den Religionsunterricht an den Schulen, theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten, kirchliche Einrichtungen im Sozialsektor.

Das geht nur miteinander. In dem Sinne ist der deutsche Staat säkular, aber nicht säkularistisch, wie es der Staatskirchenrechtler Hans Michael Heinig kürzlich einmal formuliert hat. Er ist religiös „unmusikalisch“ und gibt keiner bestimmten Überzeugung einen Vorzug, hat aber nichts gegen gelebte Religiosität in der Gesellschaft, im Gegenteil. Diese zu ermöglichen und zu fördern, versteht der Staat als seine Aufgabe.

Diese Aufgabe geht so weit, dass der Staat für einige Religionsgemeinschaften die sogenannte Kirchensteuer einzieht. Einen Austritt aus einer solchen Religionsgemeinschaft muss man vor dem Amtsgericht erklären. Erzählt man einer Person im Ausland, dass der Staat für Religionsgemeinschaften Steuern einzieht, wäre diese Person wohl ziemlich überrascht. Was hat es damit auf sich?

Historisch ist die Kirchensteuer ja eine staatliche Erfindung und keine kirchliche Idee, wie heute manche meinen. Man musste den Kirchen nach der Säkularisation und den umfänglichen Enteignungen eine Möglichkeit der Finanzierung ihrer Unternehmungen ermöglichen. Damit der Staat nicht einspringen musste, wurden die Kirchen ermächtigt, selbst Steuern zu erheben – im Grunde ein Schritt hin zur Säkularisierung des Staates. Nicht der Staat finanzierte die nun teils prekär aufgestellten Kirchen, sondern die Mitglieder selbst, auf dem Steuerwege.

Das Grundgesetz sieht auch heute noch diese Möglichkeit vor. Die Religionsgemeinschaften, die über einen Körperschaftsstatus verfügen, können von ihren Mitgliedern Steuern einziehen. Was das System für Beobachterinnen und Beobachter aus dem Ausland so merkwürdig macht, ist das verbreitete komplexe Einzugsverfahren, bei dem Staat und Religionsgemeinschaften zusammenwirken. Die Religionsgemeinschaften könnten ihre Steuern selbst einziehen (und tun das teils auch). Das ist natürlich ziemlich aufwändig. Daher lassen die Kirchen den Einzug ihrer Kirchensteuern üblicherweise staatlich organisieren.

Der Staat zieht für die Kirchen ein – das kann er im Rahmen des staatlichen Steuereinzugs relativ einfach „mitmachen“, bedeutet also keine große Zusatzarbeit. Dieser „Service“ ist allerdings alles andere als umsonst: die Kirchen bezahlen hierfür ordentliche Verwaltungskosten. In dem Sinne ist es ein für beide Seiten „gutes Geschäft“ – die Kirchen haben weniger Arbeit, der Staat ordentliche Einnahmen dafür, dass er diesen Dienst für Religionsgemeinschaften erbringt. 

Eine Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) ist zunächst eine öffentlich-rechtlich organisierte, juristische Person, die auch öffentliche Aufgaben übernimmt (im Gegensatz zu Körperschaften des Privatrechts, wie Vereinen, GmbHs usw.). Beispiele für KdöRs sind die Deutsche Rentenversicherung Bund, Universitäten oder die Bundesrechtsanwaltskammer. Laut Grundgesetz können auch Religionsgemeinschaften auf Antrag KdöR werden, "wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten". Das Bundesverfassungsgericht fordert Rechtstreue als zusätzliches Kriterium. Mit diesem Status geht für Religionsgemeinschaften ein Privilegienbündel einher, das unter anderem folgende Vorzüge umfasst: Recht auf Erhebung der Kirchensteuer, besondere Steuerbefreiungen, Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe, Ausnahmen im Arbeitsrecht, Sendezeiten für religiöse Sendungen und die eigene Verwaltung von Friedhöfen. Praktisch genießen diese Vorzüge vor allem christliche und jüdische, aber nur eine einzige, die verhältnismäßig kleine muslimische Religionsgemeinschaft der Ahmaddiya Muslim Jamaat (und bislang auch nur in Hessen und Hamburg). Auch wenn der Staat inzwischen andere Formen der Kooperation mit muslimischen Religionsgemeinschaften gefunden hat, sichert der Körperschaftsstatus eine besondere juristische Stellung.

Aber nicht alle Religionsgemeinschaften haben die Möglichkeit, diesen „Service“ in Anspruch zu nehmen. 

Das stimmt. Dieses Recht, Steuern einzuziehen, gilt verfassungsrechtlich nur für Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, und damit nicht für die, die das nicht sind.

Müsste der Staat nicht alle Religionsgemeinschaften gleich behandeln?

Ja, der Staat muss alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleich behandeln. Das ergibt sich aus dem Neutralitäts- und Paritätsgebot. Der Staat ist religiös indifferent, er kann zu Religion im inhaltlichen Sinn nichts sagen, darf also mit keiner bestimmten Überzeugung sympathisieren, keine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung einer anderen vorziehen.

Insoweit der Staat gemäß dem allgemeinen Gleichheitssatz und Differenzierungsverbot Gleiches gleich zu behandeln hat, muss er die Religionsgemeinschaften als Gleiche auch gleich behandeln. Allerdings gilt dies nur in dem Fall, in dem die Religionsgemeinschaften tatsächlich auch „Gleiche“ sind. Heißt: Der Staat darf und muss dann doch differenzieren, wenn sich die Religionsgemeinschaften als „Ungleiche“ präsentieren. 

Und welche Kriterien begründen eine solche Ungleichheit?

Der Staat darf einen Unterschied machen und muss das auch, wenn es sachliche Gründe gibt, nach denen sich die Religionsgemeinschaften maßgeblich voneinander unterscheiden. Mitgliederzahl, Verfasstheit der Gemeinschaft, Dauer der Präsenz in einem Land, auch Rechtstreue sind solche typischen Gründe, aus denen sich Religionsgemeinschaften voneinander unterscheiden.

Diese Gründe darf der Staat unter bestimmten Umständen, also wenn es sachgemäß ist, als Gründe verstehen, die eine gewisse Ungleichheit von Religionsgemeinschaften begründen und damit auch eine rechtliche Ungleichbehandlung rechtfertigen. 

Wenn wir das Beispiel Kirchensteuer noch einmal aufgreifen...

... das ist eine Ungleichbehandlung, die aber sachlich gerechtfertigt ist, nämlich in der Verfassungsstruktur der Gemeinschaft. Darüber, welche Faktoren Ungleichheit begründen und damit Ungleichbehandlung rechtfertigen, kann man sich natürlich streiten. Das passiert auch regelmäßig. Dann müssen sich die staatlichen Gerichte mit der Frage auseinandersetzen, ob ein bestimmter Unterschied zwischen Gemeinschaften eine abweichende Behandlung rechtfertigt – oder eben nicht. 

Spielt es bezüglich der rechtlichen Behandlung eine Rolle, dass das Christentum die historisch präsenteste und kulturell prägendste Religion in Deutschland war und dass die beiden christlichen Großkirchen bis heute die mitgliederstärksten Religionsgemeinschaften sind?

Jein. Grundsätzlich muss der Staat alle Religionsgemeinschaften gemäß dem Grundsatz von Gleichheit und Differenzierungsverbot gleich behandeln. Aber natürlich hat das deutsche Religionsverfassungsrecht seine spezifische Form in Auseinandersetzung mit einer bestimmten Religion angenommen, nämlich dem Christentum in seiner verfassten Form christlicher Großkirchen.

Das merkt man bis heute in vielerlei Fragen, vor allem in den staatlichen Organisationsvorstellungen gegenüber Religionsgemeinschaften, also der Frage, welche Organisationsstruktur eine Religionsgemeinschaft aufweisen muss, um in den Genuss bestimmter Rechte zu kommen. Was man zum Beispiel als Religionsgemeinschaft an Struktur mitbringen muss, um den Körperschaftsstatus zu erwerben und dann zum Beispiel auch Steuern einziehen zu können.

Dahinter stand früher mal die Vorstellung „Großkirche“. Das geht heute natürlich nicht mehr. Was Großkirchen dürfen, dürfen andere Religionsgemeinschaften unter gleichen Bedingungen auch.

Aber was, wenn eine Religionsgemeinschaft keine gleichen Bedingungen herstellen kann, weil sie völlig anders ist als eine Großkirche und damit an vielen Punkten durch das „Religionsgemeinschaftsraster“ des deutschen Religionsverfassungsrechts fällt? 

Das ist durchaus Anlass, um innezuhalten und kritisch zu fragen: Wie viel historische Prägung des Religionsverfassungsrechts ist ok, ab wann wird das Ganze aber zu einer sachlich nicht begründbaren Benachteiligung anderer Religionsgemeinschaften? Unter Verfassungsrechtlerinnen und -rechtlern weitgehend unstreitig ist zum Beispiel, dass der Staat nicht von nichtchristlichen Religionsgemeinschaften verlangen kann, dass sie sich „kirchenförmig“ organisieren, nur um vom deutschen Religionsverfassungsrecht zu profitieren.

Dass der Staat hingegen für die Wahrnehmung bestimmter Rechte bestimmte Strukturmerkmale verlangen darf – zum Beispiel die überprüfbare Zurechnung der Mitglieder zu einer Gemeinschaft –, wird als weitgehend unproblematisch gesehen, auch wenn solche Erwartungen am Vorbild der christlichen Kirchen entstanden sind.

Unser Staatskirchenrecht entstammt größtenteils der Weimarer Reichsverfassung. Eine religiös-weltanschauliche Pluralität wie heute gab es damals noch nicht. Wenn sich Gesellschaft wandelt und die rechtlichen Voraussetzungen indirekt den Grundsatz der Parität gefährden: Bedarf es dann nicht einer grundsätzlichen Reformierung des Rechts? 

Das Thema der besseren Integration nichtchristlicher Religionsgemeinschaften in das deutsche Religionsverfassungsrechtssystem wird uns noch eine Weile begleiten. Die angesprochenen Konflikte um Organisationsformen zum Beispiel sind Teil eines notwendigen Transformationsprozesses, in dem es normal ist, dass es manchmal knirscht. Diese Konflikte müssen teils gerichtlich ausgefochten werden, um das deutsche Religionsverfassungsrecht dahingehend kritisch weiterzuentwickeln.

Das, so meine ich, kann weitgehend auf dem Weg der Interpretation im Rahmen der richterlichen Rechtsauslegung erfolgen, bedarf also nicht unbedingt eines korrigierenden gesetzgeberischen Eingriffs ins Verfassungsrecht. Die zentrale Frage einer reformorientierten Auslegung ist: Wie viel historisch Gewachsenes und kulturell Eingespieltes ist okay, wann jedoch kippt es in eine einseitige Bevorteilung der Kirchen und eine Benachteiligung der anderen, die mit dem Gleichheitsversprechen des deutschen Rechts unvereinbar sind? 

Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt seit Jahrzehnten. Welche Bedeutung spielt es rechtlich, dass Religiosität zunehmend fluider wird und häufig individuellere Züge annimmt?

Es wird eine zentrale Frage des kommenden Jahrzehnts sein, wie das Religionsverfassungsrecht mit der zunehmenden Individualisierung – auch in religiösen Fragen – umgeht. Das Religionsverfassungsrecht orientierte sich klassisch sehr stark an der Idee von Religion als „Großkirche“. Die ist aber auch für viele religiöse Menschen nicht mehr so interessant. Was passiert, ist, was zum Beispiel die Religionswissenschaftlerin Astrid Reuter und andere die „Vergrundrechtlichung“ von Religion genannt haben.

Die Frage wird also zunehmend sein, wie das zusammengeht. Was passiert mit einem klassisch korporativ-ansetzenden System, wenn es versucht, Religion stärker vom Individuum her zu denken? Ein Beispiel: Was passiert mit dem kirchlichen Arbeitsrecht, wenn die verfasste Kirche („Amtskirche“) auf den Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Beschäftigter beharrt, die meisten Kirchenmitglieder das aber fragwürdig finden?

Dass Beschäftigte in ihrer privaten Lebensführung Einschränkungen erfahren, weil dies einer abstrakten Organisationsmoral entspricht, wird in einem mehr von der individuellen Religionsfreiheit her gedeuteten Religionsverfassungsrecht die Gerichte wohl kaum mehr dauerhaft überzeugen.

Loyalitätsobliegenheiten im kirchlichen Arbeitsrecht: Kirchliche Organisationen wie Gemeinden, aber auch wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen beispielsweise der Caritas oder Diakonie unterliegen zwar grundsätzlich dem allgemein gültigen Arbeitsrecht, haben aber aufgrund des verfassungsrechtlich gewährten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts große Freiräume in der Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse. So wird etwa in katholischen Krankenhäusern von den Angestellten teils erwartet, auch privat nach der katholischen Moral- und Sittenlehre zu leben, also beispielsweise nach einer Scheidung nicht ein zweites Mal zu heiraten. Zunehmend werden diese Vorschriften aber hinterfragt - aus praktischen Gründen wie dem Arbeitskräftemangel, aber auch von Beschäftigten, (europäischen) Gerichten sowie Kirchenmitgliedern, die die Regelungen für überholt halten.

Kann man sein Recht auf Religionsfreiheit auch einfordern, ohne Mitglied einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu sein?

Wenn man verfassungsmäßige Rechte hat, kann man sie selbstverständlich auch durchsetzen. Das schließt auch religiöse Rechte ein. Art. 4 GG, die Garantie der Religionsfreiheit, ist ja erst einmal ganz individuell formuliert und zielt auf die Religionsfreiheit der Individuen in all ihren Facetten ab. Als Freiheit also, eine eigene religiöse Überzeugung zu haben, diese zu bekennen und diese auch religiös-praktisch auszuüben – und im Übrigen genauso als Freiheit, solche Überzeugungen nicht zu haben, nichts bekennen zu müssen, was einen nicht überzeugt, und zu keiner religiösen Praxis gezwungen zu werden.

Die Norm schützt aber auch, dass man Religiöses gegebenenfalls mit anderen gemeinsam ausüben will und vielleicht sogar als Kirche oder als Religionsgemeinschaft, also in einer institutionellen Form. Auch das – das Kollektive und das Korporative – ist von der Garantie der Religionsfreiheit umfasst. 

Einige Konfessionslose fühlen sich in Deutschland benachteiligt. Beispielweise haben sie keine Plätze in den Rundfunkräten; bei öffentlichen Trauerstunden werden keine Vertreter*innen atheistischer oder agnostischer Vereinigungen eingeladen. Wie schützt und unterstützt das Grundgesetz Menschen ohne Religion, ob organisiert oder nicht organisiert? 

Menschen ohne Religion werden im Grundgesetz zum Beispiel dadurch geschützt, dass die Garantie des Art. 4 GG ja nicht nur die positive Religionsfreiheit religiöser Individuen, sondern auch die negative Religionsfreiheit all derer schützt, die ihr Leben von Religion möglichst unbehelligt führen wollen. Im Konflikt – und der ist nicht selten – muss eine Abwägung her:

Wie kann der Anspruch religiöser Individuen oder Gemeinschaften auf religiöse Betätigung mit dem Anspruch all derer in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden, die das für sich nicht wünschen und sich gegebenenfalls auch von der Religionsausübung anderer gestört fühlen?

Dabei müssen die Gerichte auf eine Lösung hinarbeiten, die beiden kollidierenden Grundrechtsansprüchen – also der positiven und der negativen Religionsfreiheit – möglichst zu maximaler Verwirklichung hilft – was in der Theorie einfacher klingt, als es in der Praxis meistens ist. Es geht darum, einen angemessenen Ausgleich zu finden.

Und was ist mit den Weltanschauungsgemeinschaften? Ist eine Weltanschauung wie der Humanismus in den Augen des Grundgesetzes gleichwertig mit einer Religion?

Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 7 WRV stellt die Weltanschauungsgemeinschaften mit den Religionsgemeinschaften gleich. Was für Religionsgemeinschaften gilt, gilt rechtlich unter den gleichen Bedingungen also auch für Weltanschauungsgemeinschaften. Staatlich ist also Gleichbehandlung angezeigt, außer – wie gesagt – es gibt sachliche Gründe, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, zum Beispiel die Mitgliederzahlen.

Ob die gemeinschaftliche Überzeugung religiös oder weltanschaulich ist, kann hingegen keinen Ausschlag geben. Denn der Staat kann sich zu religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen inhaltlich nicht qualifiziert positionieren. 

Wer ist eigentlich auf politischer Ebene für Religion und Weltanschauung zuständig? 

Religiöse Angelegenheiten spiegeln sich auf allen Ebenen, insoweit fast überall religiöse Themen präsent sind und sowohl Zuständigkeiten des Bundes als auch der Länder und Kommunen berühren. Dass es im Internetauftritt des Bundesinnenministeriums eine recht gute und übersichtliche Unterseite zum Thema „Staat und Religion“ gibt, ist beispielsweise kein Zufall.

Hier laufen die Fäden der Religionspolitik der Bundesregierung und ihre Zusammenarbeit mit Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zusammen. Auch auf Landesebene spielen religiöse und religionsgemeinschaftliche Fragen eine Rolle – beispielsweise bei gesetzgeberischen Regelungen, ob und welche religiösen Symbole im Gerichtssaal oder in der Schule erlaubt sind. Außerdem schließen die Länder Verträge mit einzelnen Religionsgemeinschaften, in denen wichtige Fragen der Kooperation, zum Beispiel zum Religionsunterricht, zur Seelsorge oder zu theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten geregelt werden.

Die Kommunen kooperieren mit den Religionsgemeinschaften vor Ort, zum Beispiel in gemeinsamen Projekten, man denke an karitative Dienste, Bildung und Erziehung und Integrationsarbeit. Auch bei Bauprojekten der Religionsgemeinschaften geht es nicht ohne die Kommunen. In all diesen Fragen sind der Kontakt und die Zusammenarbeit zwischen Kommune und Kirche oder Religionsgemeinschaft oft sehr eng.

Religionsverfassungsrechtliche Verträge: In den "Konkordaten" (für die katholische Kirche) beziehungsweise (Staats-)Kirchenverträgen (für die evangelische Kirche) legen Staat beziehungsweise Bundesland auf der einen und Religionsgemeinschaft auf der anderen Seite rechtssichere Absprachen bezüglich der Religionsausübung und Kooperation fest. Bremen und Hamburg haben 2012/2013 erstmals auch mit islamischen und einer alevitischen Religionsgemeinschaft Verträge abgeschlossen, obwohl diese keine KdöR sind, um für die Religionsgemeinschaften sowie die Verwaltung Rechtssicherheit herzustellen.
 

Sie hatten eingangs einen Form- und Bedeutungswandel von Religion und Religionsgemeinschaften angesprochen. Welche Rolle sollte der Staat angesichts dieses Wandels in der Zukunft einnehmen?

Ich denke, der Staat der Zukunft wird sich weitgehend von der Vorstellung verabschieden müssen, dass es ihm gelingt, in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen die Kontrolle zu haben. Das ist teilweise problematisch, aber eben auch normal. Wenn sich unsere Gesellschaft entgrenzt, dann kann der Staat nicht überall und überall gleichzeitig seine Augen haben. Das wäre auch kein freiheitliches Miteinander mehr.

Statt Durchregulierung eher Kooperation; Akzeptanz, dass Religionsgemeinschaften Selbstregulierungskräfte haben; ertragen, dass nicht nur Gesellschaften, sondern auch Rechtsordnungen pluraler werden. Damit will ich nicht den Staat und seine Rolle im Rechtsleben relativieren, im Gegenteil. Es kann aber oft nicht mehr der unmittelbare staatliche Durchgriff sein, stattdessen eher ein staatliches Moderieren, im Sinne einer Kontrolle der Selbstregulierung zum Beispiel von Religionsgemeinschaften.

Das staatliche Religionsverfassungsrecht in seiner strukturellen Konzeption, wie wir sie im Grundgesetz finden, ist dafür gar nicht schlecht geeignet. Es erlaubt mit seinem Fokus auf den Kooperationsgedanken einen solchen Paradigmenwechsel von weniger staatlichem „Government“ hin zu mehr staatlicher „Governance“.

Frau Professorin Hahn, herzlichen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Lucie Kretschmer.