Die Beiträge des Dossiers haben Herausforderungen im Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt offengelegt und Lösungswege vorgeschlagen. Dr. Hanna Fülling rekapituliert und formuliert die religionspolitischen und gesellschaftlichen Aufgaben, die vor uns liegen.
Die wachsende religiöse und weltanschauliche Vielfalt in Deutschland führt zunehmend vor Augen, dass in der Religionspolitik zentrale Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders diskutiert und ausgehandelt werden. Jahrzehntelang herrschte in Deutschland die Annahme vor, dass das Verhältnis zwischen Staat und Religionen im Grundgesetz und in den Landesverfassungen ausreichend bestimmt sei und es keinen politischen Handlungsbedarf gebe. Diese Auffassung ist inzwischen, dies belegen die vorliegenden Beiträge eindrücklich, obsolet.
Voranschreitende Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse des religiösen und weltanschaulichen Lebens in Deutschland eröffnen zahlreiche religionspolitische Frage- und Diskussionskomplexe. Diese rufen einen akuten Handlungsbedarf hervor, will man eine gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft gewährleisten und die wachsende religiöse und weltanschauliche Vielfalt der Gesellschaft für ihren Zusammenhalt wirksam machen.
Rechtliche Formen der Zusammenarbeit
Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse ist die Religionspolitik mit der zentralen Frage konfrontiert, wie sich das historisch Gewachsene und kulturell Eingespielte zu dem Gleichheitsversprechen des Staates verhält. Judith Hahn legt dar, dass grundsätzlich nur gleichbehandelt werden kann, was auch gleich ist. Es ist jedoch zu prüfen, ob Strukturen so sehr kulturell bestimmt sind, dass sie eine Benachteiligung für – kulturhistorisch betrachtet – neue Religionsgemeinschaften und für Weltanschauungsgemeinschaften in Deutschland darstellen.
Zur Klärung solcher Fragen bedarf es Diskussions- und Aushandlungsprozesse, die in der Regel an konkreten Fällen orientiert sind. So zeigt Hartmut Rhein auf, dass die Landes- und Kommunalpolitik in verschiedenen Bereichen wie der Gesundheitsversorgung, den Schulen, der Pädagogik, den Universitäten, den Arbeitsstätten, dem Friedhofswesen sowie in der Gefängnis- und Krankenhausseelsorge Lösungen für Ausgleichsregelungen finden muss. Sie können in Form von Ausnahmegenehmigungen, gesetzlichen Anpassungen oder politischen Ausgleichsbestrebungen erfolgen.
Weil viele Rechte und Privilegien von Religionsgemeinschaften an das Körperschaftsrecht gebunden sind, das keiner der großen islamischen Verbände innehat, besteht faktisch eine Schieflage, was die rechtliche Integration der islamischen Religionen in das bundesdeutsche Staats-Religionen-System betrifft. Neue religionspolitische Wege ist etwa das Land Hamburg gegangen und hat Verträge mit einer alevitischen und drei islamischen Religionsgemeinschaften geschlossen. Die Verträge schaffen in den Handlungsfeldern Glaubensfreiheit und Rechtsstellung, islamische Feiertage, Religionsunterricht, Hochschulwesen, Errichtung und Betrieb von Gebetsstätten und sonstigen Gemeindeeinrichtungen sowie Bildungs-, Rundfunk- und Bestattungswesen Klarheit und Verbindlichkeit für das Zusammenleben in Pluralität.
So gewährleistet die Stadt Hamburg in den Verträgen beispielsweise das Recht, auch ohne Körperschaftsstatus auf staatlichen Friedhöfen Bestattungen nach den islamischen religiösen Vorschriften vorzunehmen und sichert zu, entsprechende Flächen zur Verfügung zu stellen. Die religionsverfassungsrechtliche Ordnung in Deutschland zeigt sich für solche alternativen Wege flexibel. Allerdings sind die Bereitschaft zur Kommunikation ebenso wie Beharrlichkeit und der Wille zur aktiven Gestaltung aller partizipierenden Akteur*innen die Voraussetzung dafür.
Grundlagen und Konflikte Grüner Religionspolitik
Solche Erwägungen betreffen häufig ganz grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Staat und Religions- sowie Weltanschauungsgemeinschaften und legen eine politische Grundsatzbeschäftigung mit religionspolitischen Fragestellungen nahe. Ein solcher Prozess wurde von Bündnis 90/Die Grünen mit der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ zwischen 2013 und 2016 durchgeführt. In einem breiten und tiefen Diskussionsprozess wurden verschiedene Interessens- und Fragekomplexe gemeinsam erörtert und Handlungsziele zu religionspolitischen Gegenwartsthemen zusammengeführt. Dieser Prozess hat wichtige Impulse zur Diskussion zentraler Fragen der gesellschaftspolitischen Gestaltung von Vielfalt gegeben.
Sigrid Beer stellt in ihrem Beitrag Grundlagen der Grünen Religionspolitik vor und benennt darin die Religionsfreiheit in ihren drei Erscheinungsformen (individuell, kollektiv und kooperativ) als Ankerpunkt. Diese ist gegenwärtig immer wieder Gegenstand von Konflikten. Dabei geraten etwa die Ansprüche von Grundrechtsträger*innen, die auf die positive Religionsfreiheit als ihrem Recht eine Religion oder Weltanschauung sichtbar auszuüben, verweisen, in Konflikt mit Grundrechtsträger*innen, die ihren Anspruch auf negative Religionsfreiheit, dem Recht, keine Religion oder Weltanschauung zu haben, einfordern.
Die entscheidende Grundlage zur Aushandlung solcher Konflikte sollte immer die individuelle Freiheit zum selbstbestimmten Leben sein, die allerdings dort ihre Grenze findet, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Obwohl dieser Grundsatz eindeutig klingt, ist seine Auslegung häufig strittig. Dies lässt sich beispielsweise am Konflikt über Vollverschleierungsverbote zeigen. Während die Befürworter*innen eines solchen Verbotes damit nicht nur die Zurückweisung einer extremistischen Weltanschauung, sondern auch die Befreiung der (vermeintlich) unterdrückten Frau anstreben, weisen Kritiker*innen des Verbots daraufhin, dass die Politik Frauen nicht ‚zum Ausziehen‘ zwingen darf und ein Verbot darüber hinaus auch eine Verdrängung vollverschleierter Frauen aus dem öffentlichen Raum bedeutet.
Beide Positionen verweisen auf die Freiheit der Frau, selbstbestimmt zu leben, sie ziehen jedoch unterschiedliche Argumentationen für ihre Begründungswege heran. Beide Standpunkte müssen im Gespräch miteinander bleiben. Hierfür ist es besonders wichtig, dass keine medial inszenierten Stellvertreterdiskussionen geführt werden, sondern dass ein vertrauensvoller, an der Zielsetzung orientierter Austausch erfolgt. Religionspolitische Akteur*innen müssen solche Ansätze begleitend unterstützen beziehungsweise initiieren.
Veränderungen innerhalb der Religionsgemeinschaften begleiten
Eine dritte große Herausforderung für die Religionspolitik ergibt sich aus den zunehmenden Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Säkularisierungsprozessen. Diese gesellschaftlichen Wandlungsprozesse lösen auch Spannungen und Veränderungsprozesse innerhalb der Religionsgemeinschaften aus. Während sich insbesondere die islamischen Verbände in einem ständigen Findungs- und Transformationsprozess befinden, teils in sehr enger Abstimmung mit der Politik, um sich organisatorisch stärker in die religionsverfassungsrechtliche Ordnung einzufügen, kämpfen die christlichen Großkirchen mit einem anhaltenden Rückgang der Mitgliederzahlen.
So sind die Kirchen vor die Aufgabe gestellt, ihr Selbstverständnis und ihre Rolle in der Gesellschaft neu auszuloten. Dies zeichnet sich gegenwärtig sowohl am Synodalen Weg, einem Gesprächsformat der katholischen Kirche, als auch an den Reformansätzen der evangelischen Kirche in Deutschland ab. Dabei wird über die inhaltliche und strukturelle Ausgestaltung der Kirchen debattiert.
Religionspolitisch manifestieren sich die gesellschaftlichen Transformationsprozesse auch in kritischen Anfragen an das kirchliche Arbeitsrecht. Die Kritik kommt dabei nicht nur von konfessionslosen und nichtchristlichen Personen, sondern wird auch von Arbeitnehmer*innen kirchlicher Träger artikuliert. Ihr Verständnis, Vorgaben für die private Lebensführung durch den kirchlichen Arbeitgeber zu befolgen und dabei eigene Rechte einzuschränken, nimmt ab und trägt zur Legitimationskrise des kirchlichen Arbeitsrechts bei.
Neben den von Sigrid Beer vorgeschlagenen Änderungen der Rechtslage ist es wichtig, dass politische Akteur*innen in einen engen Austausch mit den Kirchen treten und sie als Institutionen in der Gesellschaft auf die Verhältnismäßigkeit verweisen und dazu ermutigen, angesichts der gesellschaftlichen Pluralität neue Wege zu gehen. Diese Praxis findet bereits statt, sollte aber gerade in Bezug auf die Kirchen noch entschlossener umgesetzt und öffentlich begleitet werden. Ein vielversprechendes Beispiel für ein Format, in dem Religionsgemeinschaften begleitet und gleichzeitig Kooperationen ausgelotet werden, ist seit 2006 die Deutsche Islam Konferenz, die Vorbild für den Austausch mit anderen Religionsgemeinschaften sein kann.
Teilhabe und Inklusion: Differenzsensible Bildungs- und Soziale Arbeit
Neben der Betrachtung solch grundsätzlicher religionspolitischer Frage- und Konfliktstellungen lohnt ein vertiefter Blick auf Teilaspekte des religionspolitischen und gesellschaftlichen Feldes. Beispielsweise machen die Autor*innen des Dossiers deutlich, wie wichtig ein differenzsensibler, aber inklusiver Ansatz im schulischen und im sozialen Bereich für Teilhabe und Zusammengehörigkeitsgefühl ist. So zeigt etwa der Blick auf den Handlungsbereich Schule die Herausforderungen, welche die gesellschaftliche Pluralität für Schüler*innen und pädagogische Fachkräfte bedeutet. Schulen müssen Orte der Inklusion sein, in denen religiöse und kulturelle Vielfalt anerkannt und gefördert wird (beispielsweise in Bezug auf die Mehrsprachigkeit).
Zudem sollte sich religiöse und kulturelle Vielfalt in den Schulbüchern, den Unterrichtsmaterialien und im Lehrpersonal widerspiegeln. Canan Korucu hebt zudem hervor, dass Lehrer*innen dafür sensibilisiert werden müssen, Handlungen, Forderungen und Äußerungen, die Jugendliche durch die Bezugnahme auf ihre Religion und Kultur begründen, stärker als adoleszenztypische Reaktionen auf bestehende Dominanz- und Differenzverhältnisse einzuordnen. Dies verlangt den Pädagog*innen eine hohe Kompetenz im Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt ab und kann nicht ohne strukturelle Unterstützung, etwa in Form von Fortbildungen und Supervision, geleistet werden.
Ein inklusiver Umgang mit religiöser Vielfalt setzt auch eine interkulturelle Öffnung der sozialen Infrastruktur voraus. Im Beitrag von Anke Strube wird jedoch deutlich, dass insbesondere muslimische und alevitische Organisationen in der Angebotsgestaltung im bestehenden Wohlfahrtssystem unterrepräsentiert sind. Aufgrund ausstehender Professionalisierungsprozesse und dem Mangel an hauptamtlichen Stellen ist das Akquirieren von Fördergeldern bislang immer noch eine große Hürde.
Auch aus diesem Grund wirken muslimische und alevitische Angebote noch immer kaum an den korporatistischen Strukturen der Wohlfahrtspflege mit. Um dies zu verändern, bedarf es gemeinsamer Anstrengungen aller Beteiligten in Politik, Verwaltung und Freier Wohlfahrtspflege. Auch nichtmuslimische Organisationen dürfen aber ihre Pflicht zur Offenheit für alle nicht vernachlässigen. Hier besteht teils Nachholbedarf im Bereich interkultureller Öffnung und Kompetenz.
Repräsentation und Mentalitätswandel: Religiöse Vielfalt als Diversity-Dimension
Über Beteiligung und Repräsentation religiöser Vielfalt wird auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen seit Jahren diskutiert, beispielsweise im Medienkontext. Dabei wird hinterfragt, ob die Pluralität ausreichend abgebildet ist, ob religiöse Akteur*innen angemessen zu Wort kommen, ob sie ausreichend in den Rundfunk- und Fernsehräten repräsentiert sind und zudem, wie über Religion berichtet wird. Vertreter*innen religiöser Gemeinschaften sind in den Medien natürlich auch als Produzent*innen, Journalist*innen und Redakteur*innen involviert, allerdings ist die religiöse Vielfalt bislang nicht unbedingt sichtbar.
Tim Karis konstatiert insgesamt Fortschritte bei der Abbildung religiöser Vielfalt im Bereich der Medien, weist aber darauf hin, dass die Religionspolitik diesen Bereich stärker im Blick haben muss. Die Medien selbst haben eine besondere Verantwortung als Mittler*innen, die vielen Menschen Diversität erfahrbar machen. Ihnen bietet sich damit auch die Chance, zu einem Mentalitätswandel beizutragen, wenn sie die eigene Vielfalt und die mit ihr verbundenen vielfältigen Perspektiven wertschätzen und zudem die eigene Berichterstattung kritisch auf Ausgewogenheit prüfen.
Das Potenzial, Bilder zu verändern und damit zu einem solchen Mentalitätswandel beizutragen, haben auch Kunst und Kultur. Sie bieten zahlreiche Thematisierungs- und Begegnungsräume religiöser und weltanschaulicher Vielfalt. Dabei wird es möglich, diffizile Themen zugänglich zu machen und Erfahrungen im Umgang mit Unterschiedlichkeit zu verarbeiten.
Allerdings können diese Räume nur eröffnet werden, wenn die vielfältigen Erfahrungshintergründe und Zugehörigkeiten der deutschen Gesellschaft mitgedacht, repräsentiert und adressiert werden. Deshalb regen Esra Küçüc und Asmaa Soliman an, dass Politik durch gezielte Förderung der Diversitätskompetenz darauf hinwirkt, dass religiöse und kulturelle Vielfalt in Kunstbetrieben sowohl in der Beteiligung als auch in der Themensetzung abgebildet wird.
Auch im Bereich der Arbeit ruft die gesellschaftliche Pluralität Handlungsbedarf hervor. Die kulturelle und religiöse Diversität der Arbeitnehmer*innen erlegt Unternehmen viel Verantwortung auf, eröffnet aber auch viele Chancen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Maryam Laura Moazedi gibt hierzu eine Reihe von Anregungen, warnt jedoch vor blindem Aktionismus und Patentlösungen. Angepasst auf die spezifischen Konstellationen in Unternehmen müsse die Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts von Diversität Schritt für Schritt und unterstützt durch eine konstruktive Kommunikationsstrategie erfolgen – ein Ansatz, der sich sicherlich auf die gesamte Gesellschaft übertragen lässt.
Von gelingendem und misslingendem Dialog
Der beste Schutz einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft ist ihr inklusiver Umgang mit Vielfalt; sie muss sich aber auch wehrhaft und konsequent ihren Feinden entgegenstellen. Dies gilt für den Umgang mit politischem ebenso wie mit religiösem Extremismus. Zusätzlich zu Sicherheitsstrategien setzt die Politik hierzu auch auf Präventionsprogramme. Amir Alexander Fahim kritisiert allerdings ein quasi uferloses Präventionsverständnis, das zivilgesellschaftliche Bildungs- und Empowerment-Arbeit mit sicherheitspolitischen Logiken überformt. Diese Entwicklungen gilt es politisch zu reflektieren und ihnen durch einen strategischen Aus- und Umbau der Präventionsarbeit entgegenzuwirken.
Für ein gelingendes Zusammenleben von Einheit in Vielfalt engagieren sich Angehörige von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften seit vielen Jahren in Zusammenschlüssen des interreligiösen Dialogs (IRD). Der IRD zielt auf die Anerkennung des religiös „Anderen“ und ist auf wechselseitige Verständigung ausgerichtet. Anna Körs benennt verschiedene Herausforderungen des IRD und seine Relevanz als Werkzeug zur Verständigung in einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft.
Neben den religionspolitischen Handlungsanzeigen, die in den vorherigen Beiträgen aufgezeigt wurden, ist er ein wichtiges Werkzeug in der Zivilgesellschaft, das von staatlichen Akteur*innen unterstützt, aber nicht durch politisch-strategische Überlegungen überformt werden sollte. Eine kluge Religionspolitik muss deshalb nicht nur Handlungsfelder und -wege ausleuchten, Gespräche suchen, initiieren und begleiten sowie rechtliche Bestimmungen prüfen und gegebenenfalls verändern oder neue schaffen, sondern auch reflektieren, in welchen Situationen sie sich zurücknehmen sollte.