Von Heilsversprechen und Irrwegen: Präventionsarbeit und religiöser Fanatismus

Analyse

Der islamistische Terrorismus hat vieles verändert – auch unser Verständnis von Extremismusprävention. Warum das falsch ist und woran sich die Politik stattdessen orientieren kann, argumentiert Amir Alexander Fahim.

Überwachungskamera

Seit Aufkommen der ersten staatlichen Informations- und Aufklärungsbroschüren über die sogenannten Jugendsekten der 1970er Jahre hat sich der Umgang mit konfliktträchtigen religiösen Gruppierungen seitens des Staates qualitativ wie quantitativ massiv verändert. Während damals Gruppen wie Hare Krishna, die Moonies und später Gabrielle Witteks Universelles Leben sowie okkultistische und satanistische Kulte bis hin zu Scientology in den kritischen Blick des besorgten Staates gerieten, dominiert heute eindeutig das Themenfeld des sogenannten religiös begründeten Extremismus unter Muslim*innen in all seinen Schattierungen die öffentlichen Fachdebatten. 

Aufgrund von tatsächlichen und geplanten terroristischen Anschlägen aus diesem Spektrum wurden umfangreiche Sicherheitsgesetze geschnürt, die Befugnisse von Sicherheitsbehörden erweitert und neue Straftatbestände eingeführt. Als zweite Säule eines ganzheitlichen Umgangs mit dem Phänomen hat sich in Deutschland auch eine scheinbar softere Variante etabliert: die Radikalisierungsprävention.

Mittlerweile hat sich diese Art der Präventionsarbeit zu einem dynamischen und umfangreich ausgestatteten Arbeitsbereich entwickelt, in dem sowohl staatliche als auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen vertreten sind. Bundesweit sind in den letzten Jahren Initiativen, Kompetenzzentren, Projekte, Beratungsangebote, Forschungsvorhaben und Netzwerke im Themenfeld entstanden, deren Anzahl und Ausprägungen mittlerweile kaum mehr überschaubar sind. 

Trotz des gemeinhin guten Rufs von Präventionsarbeit und der Herausbildung unterschiedlicher Ebenen mehren sich auch Stimmen, die vor einer unbedachten und uferlosen „Präventionisierung“ der Zivilgesellschaft warnen und auf die unbeabsichtigten und negativen Wirkungen für die Demokratie und das gesellschaftliche Zusammenleben hinweisen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Eine vorausschauende und damit auch präventive Politik ist durchaus richtig, wichtig und in vielen Fällen äußerst wirkungsvoll.

Dennoch lohnt es sich, einige der unbeabsichtigten und problematischen Wirkungen aufzugreifen. Denn der Erfolg der Präventionsarbeit als politisches Konzept ist auf Kosten anderer zivilgesellschaftlicher Aufgabengebiete entstanden. Auch aus diesem Grund sollten wir Alternativen im Umgang mit religiösem Extremismus ausloten. Die Erfahrungen, die seit Jahrzehnten im Bereich der sogenannten Sektenberatung gemacht werden, können hierfür gute Dienste leisten. 

Prävention: Ein Konzept hebt ab

Prävention als politisches Konzept hat eine äußerst erfolgreiche Karriere hinter sich. Sie ist zum Inbegriff einer modernen, auf Effizienz basierten, liberalen Politikgestaltung geworden – was auch ihre rasante Ausbreitung erklärt. Einst im Gesundheitswesen entwickelt, existiert mittlerweile kaum ein Bereich des politischen Denkens, der nicht von einer präventiven Logik bestimmt ist. Und so spielen präventive Konzepte heutzutage in den verschiedensten Bereichen wie dem Katastrophenschutz, der Kriminologie und sogar im militärischen Bereich eine immer stärkere Rolle. Die Gründe dafür scheinen auf der Hand zu liegen: 

Prävention suggeriert Politikschaffenden die Möglichkeit, zukünftige Bedrohungen oder Gefahren gar nicht erst entstehen zu lassen. Besser, ich investiere heute in eine gute Aufklärungskampagne gegen Alkoholsucht, häusliche Gewalt, Umweltverschmutzung oder Internetbetrug, als dass ich es morgen mit den ungleich höheren Folgekosten und -problemen dieser Phänomene zu tun bekomme.

Prävention steht also für politische Weitsicht, Problembewusstsein und Effizienz und bildet die Antithese zu unpopulären repressiven Maßnahmen oder aktionistischen Reaktionen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Kein Wunder also, dass die Präventionslogik auch den Umgang mit dem medial und gesellschaftlich aufgebracht diskutierten Phänomen des religiös begründeten Extremismus dominiert.

Prävention als Heilsversprechen: Viel Geld = viel Sicherheit?

Seit einigen Jahren ist die Präventionsarbeit im Themenfeld des religiös begründeten Extremismus rasant gewachsen. Getragen von der politischen Überzeugung, dieser Form des Extremismus (beziehungsweise was dafür gehalten wird) entgegentreten zu müssen, wurden Fördermittel in schier unvorstellbarer Höhe auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene bereitgestellt.

Allein durch das Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus (NPP) der Bundesregierung wurden nur für das Jahr 2018 sagenhafte 100 Millionen Euro für die Präventionsarbeit im Themenfeld bereitgestellt – wohlgemerkt zusätzlich zu den bereits existierenden Fördermitteln im Bereich der Extremismusprävention, die sich in Höhen von weit über 100 Millionen Euro jährlich bewegten. 

Inhaltlich ging es dem Staat bei der Bereitstellung all dieser Gelder unmissverständlich um harte sicherheitspolitische Zielsetzungen. Je nach Ausprägung der einzelnen Förderprogramme unterschieden sich zwar die Problembeschreibungen, die Ziele jedoch deuteten stets in die gleiche Richtung: Gefahren, die vom sogenannten Islamismus ausgehen, sollten verhindert werden. Konkret ging es um Phänomene wie den „gewaltbereiten Salafismus“, das Bedrohungspotenzial, das islamistischen Gefährdern zugeschrieben wurde, bis hin zur Verhinderung „islamistisch motivierter Anschläge“ in Deutschland.

In diesem Sinne wird Präventionsarbeit untrennbar mit dem Versprechen von Sicherheit sowie Recht und Ordnung verknüpft und teilweise sogar ganz explizit als Ausdruck unserer wehrhaften Demokratie verstanden. Doch wie lassen sich diese Versprechen konkret in der Praxis umsetzen? Welche Maßnahmen braucht es? Welche Rolle kann die Zivilgesellschaft leisten und wo sind ihre Grenzen? Und wenn Prävention im Vorfeld ansetzen soll, wie groß ist dieses Vorfeld und wer definiert es eigentlich?

Ein unheilvoller Irrweg: Versicherheitlichung und Reproduktion problematischer Bilder

Der hohe Handlungsdruck aus Politik und Medien veranlasste die Behörden und Regiestellen dazu, die Unmengen an Fördergeld möglichst schnell (s)einer Zweckmäßigkeit zuzuführen. Dies verhinderte eine behutsame, wissensbasierte und organische Entwicklung einer Präventionsarbeit im Themenfeld des religiös begründeten Extremismus – zudem ebnete es den Weg für ein quasi uferloses Präventionsverständnis mit Konsequenzen für die Zivilgesellschaft, deren Ausmaß bislang noch nicht abzusehen ist. 

Ein Blick in die gegenwärtige Präventionslandschaft macht deutlich, dass viele Projekte, die im Bereich der Radikalisierungsprävention gefördert werden, eigentlich eher Bereichen wie der politischen Bildungsarbeit, der Empowerment-Arbeit oder der Jugendsozialarbeit zuzuordnen sind. So ist es nicht verwunderlich, dass der präventive Gehalt mitunter nur mit einer gewissen Phantasie oder aber der Konstruktion eines uferlosen Präventionsverständnisses erkennbar ist.

Unbestritten haben diese Arbeitsgebiete eine präventive Wirkung: Wer politisch gebildet ist, Ambiguitätstoleranz (siehe das Interview mit Canan Korucu in diesem Dossier) verinnerlicht hat und eine gewisse Medienkompetenz aufweist, ist nachweislich weniger anfällig für extremistische Ansprachen jeglicher Art. 

Doch diese präventive Wirkung allein macht politische Bildungsarbeit noch lange nicht zu Präventionsarbeit – denn die kommt mit knallharten sicherheitspolitischen Zielsetzungen daher, die die politische Bildungsarbeit nie erreichen kann und auch gar nicht anstreben sollte. Drastisch ausgedrückt: Viele der in Präventionsprogrammen geförderten Projekte verfolgen Ansätze, die nicht nur inkompatibel sind mit der vorbeugenden und sicherheitsbezogenen Logik von Prävention, sondern dieser Logik in diametraler Weise gegenüberstehen. Anstatt um Verhinderung geht es hier um Befähigung – anstatt um Risikovermeidung geht es um Potenziale, um das Hervorbringen von freien, mündigen und kompetenten Bürger*innen. 

Portrait von Amir Alexander Fahim
Religionswissenschaftler Amir Alexander Fahim

Noch deutlicher wird die Problematik des Einsickerns der Präventionslogik in zivilgesellschaftliche Arbeitsfelder im Bereich der Empowerment-Arbeit oder in der Arbeit gegen antimuslimischen Rassismus. Hier werden marginalisierte Jugendliche nicht auf Grundlage eines gesellschaftlichen Konsenses gestärkt, dass dies ein demokratischer Selbstzweck, Akt der Solidarität und des Minderheitenschutzes ist.

Sie werden auch nicht befähigt, an demokratischen Meinungsfindungsprozessen zu partizipieren, weil unser demokratisches Gemeinwesen nur durch Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen Legitimation erhält. Unter dem Präventionsfokus werden diese ohnehin schon marginalisierten Jugendlichen empowert, weil Diskriminierungserfahrungen als Ursache in Radikalisierungsprozessen gesehen werden – und es diese Radikalisierung auf jeden Fall zu verhindern gilt.

In diesem Sinne ist eine unbedachte und uferlose Präventionsarbeit nicht nur aus demokratietheoretischer Sicht problematisch, sie reproduziert auch die ohnehin schon stigmatisierenden Bilder des muslimischen Jugendlichen als gefährlich oder gefährdet.

Es geht auch anders: „Sekten“, „Sekten“-Beratung und fachliche Standards

Durch die mediale Dominanz des Salafismus und anderer Formen des religiös begründeten Extremismus unter Muslim*innen gerät ein wenig in Vergessenheit, dass religiöser Fanatismus und konfliktträchtige religiöse Gruppierungen seit jeher in Deutschland existieren. In wellenartigen Bewegungen erregten immer wieder einzelne Gruppierungen, die im Volksmund gemeinhin als „Sekten“ bezeichnet werden, die öffentliche Aufmerksamkeit.

Grob zusammengefasst lassen sich die gängigsten Kritikpunkte an diesen Gruppen mit Schlagworten wie Brainwashing, Ausübung psychischen Drucks, finanzielle und/oder persönliche Ausbeutung, Entzug der freien Entscheidungsgewalt, Verteufelung der Schulmedizin, Abwertung der Welt außerhalb der eigenen Ingroup und sexualisierter Nötigung bis hin zu (ritueller) Vergewaltigung zusammenfassen. 

Mit dieser Problembeschreibung konfrontiert, entwickelte sich ein zunächst zivilgesellschaftliches Angebot an Informations- und Beratungsstellen, die sich an ausstiegswillige Mitglieder und deren Angehörige richtete. Insbesondere die Kirchen nahmen sich dieser Aufgabe an und bauten nach und nach Fachstellen für Sekten- und Weltanschauungsfragen auf, die inhaltlich und methodisch sehr gut ausgebildet sind. Andere, weltanschaulich-neutrale Beratungs- und Betroffeneninitiativen folgten, ebenso staatliche Leitstellen für Sektenfragen, die mehrheitlich in den jeweiligen Sozialressorts der Bundesländer angesiedelt wurden. 

In den meisten Fällen erfolgt die Beratung personenzentriert und orientiert an den Standards der systemischen und psychosozialen Beratung, wie sie sich in anderen Bereichen etabliert hat. Sicherheitsrelevante Fragen, die über die Selbstgefährdung von Betroffenen hinausgehen, stellen sich in diesen Zusammenhängen eigentlich nie. Die hohe Fachlichkeit, die gute Ausstattung und die methodische Klarheit bescherten der zivilgesellschaftlich getragenen „Sekten“-Beratung die Möglichkeit, unaufgeregt, klientenorientiert und vor allem wissensbasiert zu arbeiten. Auch die staatlichen Leitstellen profitieren von dem Beratungsangebot der Zivilgesellschaft, an das sie Hilfesuchende immer wieder gerne verweisen. 

Prävention von ungewollten Folgen der Prävention

Das skizzierte Modell einer vernetzten Beratungslandschaft, die durch methodische Expertise, Fachlichkeit und Klarheit geprägt ist, könnte durchaus als Referenzmodell für den Umgang mit religiös begründetem Extremismus unter Muslim*innen gelten. Und in der Tat existiert auch in Deutschland ein gut ausgebautes und qualitativ hochwertiges Beratungsangebot für dieses Themenfeld.

Erfahrungen zeigen, dass die individuellen Ursachen und Gründe für Radikalisierungsprozesse zum Teil viele Ähnlichkeiten mit dem Einstieg in sogenannte Sekten aufweisen. Daher wäre es zu begrüßen, wenn auch die Beratung im Umfeld von islamistisch begründetem Extremismus noch konsequenter von einem fachlichen und methodischen Erfahrungstransfer profitieren würde. 

Zukünftig sollte zudem besser darauf geachtet werden, dass es zu keiner Vermischung der Rollen von Staat und Zivilgesellschaft kommt. Dies bedeutet auch, unterschiedliche Zielsetzungen der Fördermittelgeber (wie der Wunsch nach möglichst vielen Information zum Umfeld und Netzwerken der Beratungsfälle) und der Beratungsstellen (eine nützliche und vertrauliche Beratung durchführen zu können) transparent zu machen.

Es bleibt festzuhalten, dass eine Versicherheitlichung der Zivilgesellschaft ebenso problematisch ist wie eine Pädagogisierung von Sicherheitsbehörden – beides sind Entwicklungen, die aufgrund der vorherrschenden Präventionslogik bereits begonnen haben. Hier gilt es, dringend gegenzusteuern.

In diesem Sinne ist die Politik gefordert, die Profile der Sicherheitsbehörden noch klarer zu bestimmen und ihnen klare Grenzen zu setzen. Damit verhindert sie das weitere Vordringen der Behörden in vormals zivilgesellschaftliche und pädagogische Sphären und ermöglicht es ihnen, sich wieder mit der notwendigen Aufmerksamkeit ihrem eigentlichen, sicherheitspolitischen Auftrag zu widmen. Dazu gehört es aber auch, den politischen Druck auf die Sicherheitsbehörden abzubauen in Bezug auf die Relevanz einzelner problematischer Gruppierungen.

Ein Austausch zwischen Sicherheitsbehörden, Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft könnte angeregt werden, in dem die Perspektiven auf abstrakte Gefahreneinschätzung abgeglichen werden könnten. So könnte zukünftig vielleicht verhindert werden, dass Gruppierungen – wie seinerzeit etwa Scientology – rein aus politischem Druck, entgegen der Einschätzung von führenden Vertreter*innen der Sicherheitsbehörden selbst, zum Beobachtungsgegenstand des Verfassungsschutzes werden. 

Denn so real die Gefahren sind, die von religiösem Fanatismus und Extremismus ausgehen, so wichtig ist es auch, nicht einem politischen Aktionismus zu verfallen. In diesem Sinne darf Präventionsarbeit auch nicht zum reinen Selbstzweck verkommen. Ebenso wenig dürfen andere zivilgesellschaftliche Aufgabenfelder wie pädagogische Arbeit, politische Bildungs-, Jugendsozial- und Empowerment-Arbeit, Beratungsleistungen, Antidiskriminierungsarbeit oder die Jugendhilfe mit einem Sicherheitsversprechen verknüpft werden, das den produktiven und freiheitlichen Anspruch dieser Arbeitsfelder zunichtemacht. 

Mittlerweile werden Stimmen stärker, die eine gesetzliche Verankerung von Fördermitteln für Projekte und Initiativen der Demokratieförderung fordern. Ein derartiges Demokratiegesetz würde es zivilgesellschaftlichen Trägern erleichtern, ihre wichtige Arbeit unaufgeregt, nachhaltig und jenseits politischem Präventionseifer nachzugehen. Und auch die explizite Präventionsarbeit würde von einem solchen Gesetz profitieren, da die Landschaft überschaubarer würde und zielgerichtete Vernetzungen und Synergien besser möglich wären. 

Forderungen nach mehr Prävention sollten daher stets von der Reflexion begleitet werden, welche unbeabsichtigten Folgen damit verbunden sind. Außerdem darf Präventionsarbeit nicht auf Kosten der Förderung von Regelstrukturen in der Jugendsozialarbeit und der politischen Bildungsarbeit gehen. Denn eines sollte klar sein: Jugendliche haben einen Anspruch auf diese Regelstrukturen - und zwar nicht, weil man eine in der Zukunft mögliche Radikalisierung verhindern möchte, sondern aus der Überzeugung heraus, dass dies ihr demokratisches Recht ist.