Die Pflicht zu schützen

Statement

Die Morde des rechten Terrors in Deutschland waren nie Einzelfälle. Doch mit den Schmerzen, die der Terror hinterlässt, werden Angehörige alleingelassen. Was sie in den dunkelsten Phasen ihres Lebens von uns benötigen, sind Empathie und bedingungslose Solidarität. Ein Statement der Redaktion anlässlich des ersten Jahrestages des rassistischen Terroranschlags in Hanau.

Blumensträuße vor dem Graffiti in Frankfurt in Gedenken an die Opfer in Hanau, zu lesen in roter Schrift "Hanau - 19.02.2020"

Der Terror und die Gewalt, die von rechts in Deutschland ausgehen, sind nie Einzelfälle gewesen. Die Liste der Opfer des rechten Terrors ist lang.

Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun und Gabriele Rathjen wurden 2020 in Hanau ermordet; Jana Lange und Kevin Schwarze 2019 in Halle; Walter Lübcke 2019 in Istha; Daniel Ernst 2016 in Georgensgmünd; Can Leyla 2016 in München; Duy-Doan Pham 2011 in Neuss; Marwa El-Sherbini 2009 in Dresden; Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn; Theodorus Boulgarides 2005 in München; Oury Jalloh 2005 in Dessauer Polizeidienststelle ermordet; Süleyman Taşköprü 2001 in Hamburg; Yvonne Hachtkemper 2000 in Dortmund; Alberto Adriano 2000 in Dessau; Peter Deutschmann 1999 in Eschede; Frank Böttcher 1997 in Magdeburg; Patricia Wright 1996 in Bergisch Gladbach; Nsuzana Bunga (7 Jahre) ermordet 1996 in Lübeck; Hatice, Hülya und Saime Genç (4 Jahre) 1993 in Solingen ermordet; Mike Zerna 1993 in Hoyerswerda; Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz 1992 in Mölln ermordet; Nguyen Van Tu 1992 in Berlin; Alfred Salomon (92 Jahre, Holocaustüberlebender) in Wülfrath;  Samuel Kofi Yeboah 1991 in Saarlouis; Amadeu Antonio 1990 in Eberswalde ermordet …

Diese Namen stehen stellvertretend für die vielen Menschen, die als Migrant:innen, Geflüchtete, Jüd:innen, Schwarze, Linke, Kommunalpolitiker:innen, Obdachlose,  engagierte Bürger:innen, Polizist:innen … Opfer des rechten Terrors in Deutschland geworden sind.

Die Morde des rechten Terrors in Deutschland waren nie Einzelfälle. Die Schmerzen, die der Terror hinterlässt, sind für die Angehörigen dennoch einzigartig. Unermesslich einzigartig. Kein Mensch, die/der eine solche schmerzhafte Erfahrung nicht durchlebt hat, wird auch nur annährend nachempfinden können, durch welche qualvollen Phasen des Lebens die Angehörigen gehen müssen. Was sie in den dunkelsten Phasen ihres Lebens von uns benötigen, sind Empathie und bedingungslose Solidarität.

Deutschland ist ein Land mit vielen Chancen und Möglichkeiten - und einem brillanten Grundgesetz, das als Antwort auf den Faschismus und Rassismus verfasst wurde. Ein Land mit Millionen gutherzigen und großzügigen Menschen. Menschen, die jeden Tag Empathie und bedingungslose Solidarität demonstrieren und leben.

Deutschland hat aber auch hässliche Seiten. Einige dieser hässlichen Seiten befinden sich offen oder versteckt hinter Amtsstuben, in Polizeirevieren, in politischen Ämtern, in Parlamenten, bei Grenzübergängen, in öffentlichen Räumen, in Klassen- und Lehrerzimmern, auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ... Überall. Sie alle verbindet der systemische Rassismus, der Menschen in diesem Land nicht nur täglich Knüppel zwischen die Beine wirft, sondern auch ihr Leben kosten kann.

Deutschland behandelt Bürger:innen dieses Landes ungleich. Je nachdem, welche Herkunft, Religion und Hautfarbe sie haben. Alle Formen des institutionellen und strukturellen Rassismus führen Artikel 1 GG ad absurdum: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Staatliche Gewalt in Deutschland missachtet aber Artikel 1 GG, wenn es um Minderheiten geht.

In rassistischen Strukturen ist es ein großer Unterschied, ob ein Mensch weiß ist oder nicht. Nicht-weiße Menschen werden in Deutschland in öffentlichen Räumen rassistisch beleidigt, bedroht, diskriminiert. Und ermordet. Der Rassismus, der in der Gesellschaft und in den staatlichen Strukturen tief verwurzelt ist, unterscheidet oft nicht einmal zwischen Erwachsenen und Kindern. Der systemische Rassismus zieht seine Grenze in erster Linie zwischen weiß und nicht-weiß. Täglich sendet er seine Signale an Kinder und Erwachsene, die von Diskriminierung und Rassismus betroffen sind, dass sie nicht zu Deutschland gehören. Racial Profiling, Polizeigewalt und mangelhafte Bildungschancen, von denen in Deutschland Kinder wie Erwachsene gleichermaßen betroffen sind, stellen lediglich die offensichtlichsten Probleme des strukturellen Rassismus dar.

Der institutionelle Rassismus bei Sicherheitsbehörden und -organen (Polizei, Bundesgrenzschutz, Verfassungsschutz …) sieht in allem, was nicht-weiß ist, vor allem dies: Gefahr, Risiko, Illegalität. So funktioniert die Sicherheitsarchitektur hierzulande. Und so werden weiterhin diejenigen ausgebildet, die diese Strukturen aufrechterhalten.

Herkunft, Hautfarbe und Religion als Kriterien für Sicherheit, Risiko und Zugehörigkeit heranzuziehen, entlarvt die Geisteshaltung der Sicherheitspolitik hierzulande. Diese Mentalität kriminalisiert und illegalisiert einen Teil der Gesellschaft. Gleichzeitig privilegiert sie einen anderen Teil der Gesellschaft, den sie für schützenswert hält. Genau diese spalterische Geisteshaltung führt zur Relativierung und Verharmlosung des rechten Terrorismus in Deutschland, der irrtümlicherweise nur als Terror gegen nicht-weiße Menschen verstanden wird. Rechter Terror mordet mindestens genauso viele weiße Menschen wie nicht-weiße Menschen.

Der rechte Terror ist schlicht und einfach menschenfeindlich. Er mordet nicht Migrant:innen, nicht Geflüchtete, nicht Jüd:innen, nicht Muslime, nicht weiße, nicht Schwarze, nicht Obdachlose. Er mordet Menschen. Diese Erkenntnis muss in den Köpfen derjenigen ankommen, die die Sicherheitspolitik und -architektur dieses Landes und dieser Gesellschaft verantworten.

Der deutsche Staat und seine Institutionen stehen in der Pflicht, Artikel 1 GG, die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassismus mit allen ihnen zur Verfügung stehenden politischen und juristischen Mitteln durchzusetzen. Der Staat und seine Sicherheitsorgane haben nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Verantwortung, alle Bürger:innen dieses Landes vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Ermordung zu schützen. Vernachlässigt der Staat weiterhin seine Verantwortung, die Gesellschaft als Ganzes zu schützen, nimmt er nicht nur den institutionellen und strukturellen Rassismus bewusst in Kauf, sondern auch die Ermordung von Menschen. Verschärft wird die Lage durch rassistische, rechtsextreme und neonazistische Strukturen in den Sicherheitsorganen selbst, von denen eine Gefahr für die Gesellschaft – insbesondere für Minderheiten - ausgeht. Der NSU und die systemische Weigerung, die Mordserie des Terrornetzwerks aufzuklären, ist in den Memoiren vieler Bürgerinnen und Bürger dieses Landes fest eingebrannt.

Der kürzlich verabschiedete „Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ enthält mehrere gute Absichten. Doch kein einziges Mal kommen „institutioneller Rassismus“ oder „struktureller Rassismus“ in dem 89 Maßnahmen erfassenden Katalog vor. Will der Staat glaubwürdig und entschlossen gegen Rassismus vorgehen, muss er erstmal im eigenen Hof kehren.

Von Mekonnen Mesghena

Hinweis:

Grüne Fachpolitiker*innen der Bundes- und Landesebene sowie Vertreter*innen der Heinrich-Böll-Stiftung haben ein Forderungspapier veröffentlicht, in dem sie die notwendigen Weichenstellungen und strukturellen Veränderungen skizzieren, die im Sinne einer antirassistischen Gesellschaft der Vielen getroffen werden müssen.