Gesundheit und Rassismus

Analyse

Wie wirkt sich Alltagsrassismus auf die Gesundheit von Betroffenen aus und welche Zugangsbarrieren bestehen im deutschen Gesundheitssystem? Tatjana Roncolato Donkor fasst die wichtigsten Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit zum Thema Gesundheit und Rassismus zusammen, für die sie im Jahr 2013 mit dem Wissenschaftspreis der Industrie- und Handelskammer ausgezeichnet wurde. Für uns hat sie ihre Studienergebnisse aktualisiert.

Stethoskop

Laut Statistischem Bundesamt (2019) leben in Deutschland 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Personengruppe macht 26 % der Gesamtbevölkerung aus. Menschen mit Migrationshintergrund bilden eine sehr heterogene Gruppe, bestehend aus unterschiedlichen Einwanderungsmotiven und Herkunftsländern. Ein Drittel hiervon ist in Deutschland geboren und über die Hälfte verfügt über einen deutschen Pass. Dennoch sind Menschen mit Migrationshintergrund auch im 21. Jahrhundert oft Zielscheibe rassistisch motivierter Gewalt, Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung. Laut der Berliner Beratungsstelle ReachOut wurden im Jahr 2020 mehr als 250 Personen Opfer rassistischer Gewalt.

Dabei dokumentierte ReachOut auf ihrer Homepage jegliche Form von Angriffen, die wiederum von Anspucken, Beleidigungen bis hin zu Körperverletzung reichten. Selbst Kleinkinder blieben von rassistisch motivierten Angriffen nicht verschont. Menschen, die dem äußerem Erscheinungsbild nach nicht zur (weißen) Mehrheitsgesellschaft gehören, werden nicht nur bewusst und offensichtlich, sondern auch subtil und unbewusst diskriminiert. Zum Beispiel beinhaltet positiver Rassismus Aussagen wie „du sprichst aber gut Deutsch“ oder „du bist Schwarz, also kannst du bestimmt gut singen und tanzen“. Diese „Exotisierung“ oder Betonung gibt Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, immer wieder das Gefühl, nicht wirklich dazu zu gehören und aufgrund ihres Äußeren dauerhaft „fremd“ zu bleiben.

Definition Alltagsrassismus

Die afro-deutsche Autorin Noah Sow beschreibt Rassismus folgendermaßen:

„Rassismus ist die Verknüpfung von Vorurteil mit institutioneller Macht. Entgegen der (bequemen) landläufigen Meinung ist für Rassismus eine „Abneigung“ oder „Böswilligkeit“ gegen Menschen oder Menschengruppen keine Voraussetzung. Rassismus ist keine persönliche oder politische „Einstellung“, sondern ein institutionalisiertes System, in dem soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen für -> weißen Alleinherrschaftserhalt wirken. Rassismus ist ein globales Gruppenprivileg, das weiße Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt. Individuelle Teilhabe an Rassismus liegt dann vor, wenn das objektive Resultat eines Verhaltens diese Beziehungen verstärkt; unabhängig davon, ob eine subjektive Intention dahinter steht“ (Noah Sow 2011).

Rassismus erfüllt somit eine bestimmte Funktion. Im Alltag wird das Ziel der Vorherrschaft bewusst und unbewusst praktiziert. Daher ist es schwierig, rassistisches Verhalten konsequent zu entlarven. Laut Sow ist Rassismus ein gesellschaftliches Phänomen, welches verdrängt wird. Auch der Rassismusforscher Rudolf Leiprecht (2005) teilt Sows Meinung, indem er verdeutlicht, dass Angehörige der Mehrheitsgesellschaft Rassismus häufig nicht wahrnehmen oder unhinterfragt hinnehmen. Alltagsrassismus steht somit synonym für eine tabuisierte Rassismuspraxis, die unbeirrt fortgeführt wird, weil sie als solche nicht erkannt oder benannt wird. Daher ist Forschung im Kampf gegen Rassismus essentiell notwendig.

Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt

Ethnische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt richtet sich nicht nur gegen Menschen aus niedrigeren Bildungsschichten. Ein Experiment von Kaas und Manger (2010) zeigt, dass männliche Studenten  mit deutsch-klingendem Namen im Bewerbungsprozess durchschnittlich 14 Prozent häufiger Rückrufe erhalten, als Studenten mit türkisch-klingendem Namen. Für das Experiment wurden über tausend Bewerbungen an Groß- und Kleinbetriebe verschickt, die offene Praktikumsstellen im Wirtschaftswesen zu vergeben hatten. Dabei erhielt jedes ausgewählte Unternehmen zwei Bewerbungen, bei der die Leistungen und Schullaufbahnen identisch waren. Die Bewerbungen unterschieden sich lediglich anhand des Namens. Es konnte nachgewiesen werden,  dass vor allem Kleinbetriebe zur Ungleichbehandlung tendieren, da sie die Bewerber „Dennis und Tobias“ zu 24 Prozent häufiger zum Vorstellungsgespräch einluden, als die Bewerber „Fatih und Serkan“.

Die Autoren erklären sich dieses Ergebnis damit, dass Kleinbetriebe im Vergleich zu Großbetrieben über kein standardisiertes Einstellungsverfahren verfügen. Daher würde es in Kleinbetrieben mehr auf die persönlichen Präferenzen der Personalleitung und weniger auf vordefinierte Einstellungskriterien ankommen. Für Kaas und Manger sind die Ergebnisse aus dem Discrimination Testing-Verfahren ein Beleg für die Ungleichbehandlung von Bewerbern mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt.

Diskriminierung im Gesundheits- und Sozialwesen

Auch der Zugang zum Gesundheitswesen stellt für Menschen mit Migrationshintergrund eine Barriere dar. Zum Beispiel werden gesundheitsbezogene Hinweise und Informationen tendenziell weniger in anderen Sprachen verfasst (Robert Koch-Institut 2008). Das kann dazu führen, dass Patient_innen ihre Diagnosen und Behandlungen oftmals nicht richtig verstehen. Zudem wird in der westlichen Medizin häufig zwischen Körper und Geist unterschieden.

In vielen anderen Ländern werden Gesundheit und Krankheit oft ganzheitlicher oder religiöser betrachtet. So kann Krankheit beispielsweise als Folge von Bestrafung oder Zauberei interpretiert werden oder nur über eine intensive Arzt-Patienten-Beziehung erfolgreich behandelt und geheilt werden. So zeigen Studien, dass Frauen mit Migrationshintergrund häufig ihren Arzt oder ihre Ärztin wechseln, weil sie sich unhöflich oder diskriminiert behandelt gefühlt hatten. Zum Beispiel infolge von späten Terminvergaben oder von späten Aufrufen in der Arztpraxis. 

Auch im Sozialen Bereich erfahren Klient_innen verschiedene Formen von Rassismus. Eine davon klassifiziert Melter (2006) als Sekundären Rassismus. Damit gemeint ist die Abwehrhaltung von Pädagog_innen der Jugendhilfe sich mit dem Thema Rassismus auseinanderzusetzen, genauso wie die Bagatellisierung und die Infragestellung berichteter Rassismuserfahrungen von Betroffenen. Diese Diskriminierungsform identifiziert Melter als Alltagsrassimus.

Dabei würden sich Pädagog_innen allein schon vom Thema Rassismus indirekt oder direkt belästigt und angegriffen fühlen. Melter versteht dieses Phänomen als eine Täter-Opfer-Umkehrung, in der nicht die Personen als Zielscheibe von Rassismus, sondern die Mehrheitsangehörigen als Opfer übertriebener Rassismusvorwürfe gesehen würden. Somit wird deutlich, dass Rassismus auch passiv praktiziert werden kann.

Einfluss von Alltagsrassismus auf die Gesundheit

Fakt ist: Rassismus wird sowohl passiv als auch aktiv praktiziert. Diese Art der Ungerechtigkeit und Benachteiligung muss beendet werden. Hierzu ruft die weltweite Black-Lives-Matter-Bewegung auf. Nicht nur weil rassistische Praktiken gegen das Gesetz verstoßen, sondern auch weil Rassismus ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellt. Und das nicht nur in Form von Gewalt. In einer qualitativen Studie konnte ich den Zusammenhang zwischen Alltagsrassismus und Gesundheit nachweisen. Zu den erlebten Alltagsbelastungen von Menschen mit Migrationshintergrund gehören Diskriminierung in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, sowie der erschwerte Zugang zum Gesundheitsbereich.

Darüber hinaus stellt die rechtliche Situation von Asylbewerber_innen eine weitere Extrembelastung dar. Die Befragten benennen in Folge von Diskriminierungserfahrungen Erkrankungen wie psychosomatische Magenerkrankungen, Depression und schwerem Schwangerschaftserbrechen. Zudem kommen die Studienteilnehmer_innen auf Mechanismen wie Isolation, Pauschalisierungen und Misstrauen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu sprechen (vgl. Roncolato Donkor 2013). Dennoch wird in der Studie deutlich, dass das Gesundheitsrisiko von Betroffenen im Zusammenhang mit Rassismus erst dann besonders groß ist, wenn weitere Faktoren wie z.B. eine kritische Lebenssituation, geringe Ressourcen oder fehlende Bewältigungsstrategien hinzukommen. 

Im internationalen Vergleich belegen Ziegler & Beelmann (2009) ebenso den Einfluss von Rassismus auf die Gesundheit. In experimentellen Studien stellt sich heraus, dass die Herzfrequenz und der Blutdruck von Afroamerikaner_innen bei der Betrachtung von rassistischen Filmausschnitten schneller als bei neutralen oder ärgerlichen Interaktionsszenen in Filmen ansteigen.

Zudem kann davon ausgegangen werden, dass Rassismus von Betroffenen regelmäßig erlebt wird, weshalb sie negative Emotionen wie Ärger und Wut ständig bewältigen müssen. Das hat zu Folge, dass ihre Bewältigungsressourcen stark beansprucht und häufig Stresshormone ausgelöst werden (siehe hierzu Broudy et al. 2007 in Zielger/Beelmann). Menschen, die von Rassismus betroffen sind, müssen sozusagen ihren Akku immer wieder aufladen, um dauerhaft gesund bleiben zu können. Rassismus ist für Betroffene kein Einzelereignis. Dementsprechend beschreibt die Psychologin Grada Kilomba (2009) Rassismus als Trauma, welches sie als gewalttätigen Schock begreift, der die Beziehung zu Anderen plötzlich erschüttert und Narben in Form von Alpträumen, Flashbacks und körperlichen Auswirkungen beinhaltet.

Das „N-Wort“ identifiziert die Psychologin ebenfalls als Traumaerfahrung, die Schwarze und People of Color nicht nur als eine Beschimpfung in der Gegenwart, sondern auch als eine Re-traumatisierung des Kolonialismus aus der Vergangenheit erleben. Andere Wissenschaftler_innen wie Nivedita Prasad (2009) schließen sich ihrer These an. Damit kann festgehalten werden, dass Rassismus für Betroffene gesundheitsschädigend wirkt.

Wir brauchen mehr Forschung

Im vorliegenden Beitrag wurden die unterschiedlichen Dimensionen und Auswirkungen von Rassismus skizziert. Insgesamt kann Rassismus als eine Dynamik verstanden werden, die im selben Augenblick Empörung und Schamgefühl, sowie Trauma, Krankheit und Misstrauen auslösen kann. Rassismus ist ungesund – für alle. Daher müssen wir uns gemeinsam die Frage stellen: Wie gehen wir damit um? Wollen wir weiter schweigen und auf der Stelle treten oder wollen wir herausfinden, was uns wirklich bewegt und wie wir Rassismus bekämpfen können?

Die Rassismusforschung hat in Deutschland erfreulicherweise zugenommen, was als politisches Statement im Interesse unserer Gesellschaft aufgefasst werden kann. Doch die Erforschung von den Auswirkungen von Rassismus auf die Gesundheit und gesundheitliche Versorgung der Betroffenen steht in Deutschland – gerade auch im internationalen Vergleich – noch am Anfang. Es bleibt abzuwarten, inwiefern die Corona-Pandemie und das damit gestiegene Interesse an Gesundheitsthemen auch hierzulande zu mehr Forschungsarbeiten in diesem Bereich führen wird.

 

Literatur

Kaas, Leo/Manger,Christian (2010): Ethnic Disrimination in Germany´s Labour Marktet: A Field Experiment, Bonn: https://www.iza.org/de/publications/dp/4741/ethnic-discrimination-in-ge… [Aufruf 05.02.21].

Kilomba, Grada (2009): Das N-Wort, in: Nah&Fern/Das Kulturmagazin für Miration und Partizipation, Nr.42, S.28-31.

Leiprecht, Rudolf (2005): Rassismen – nicht nur bei Jugendlichen/Beiträge zu Rassismusforschung und Rassismusprävention, Oldenburg: https://uol.de/f/1/inst/paedagogik/personen/rudolf.leiprecht/LeipRassis… [Aufruf 05.02.21].
Melter, Claus (2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe – eine empi-rische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit, Waxmann-Verlag, Münster.

Noah, Sow (2011): Rassismus und Kolonialismus, in: Arndt, Susan/Ofuatiey-Alazard, Nadja: Wie Rassismus aus Wörtern spricht (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache/Ein kriti-sches Nachschlagewerk, Münster, S.37-44.

Prasad, Nivedita (2009): Gewalt und Rassismus als Risikofaktoren für die Gesundheit von MigrantInnen, in: Heinrich-Böll-Stiftung: DOSSIER Migra-tion & Gesundheit, S.7-11.

Reachout Berlin (2020): https://www.reachoutberlin.de/de/Unsere%20Arbeit/Angriffe%20in%20Berlin… [Aufruf 05.02.2021].

Robert Koch-Institut (2008): Schwerpunktbericht der Gesundheitsbericht-erstattung des Bundes – Migration und Gesundheit, Berlin: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichte… [Aufruf: 04.02.2021].

Roncolato Donkor, Tatjana (2013): Einfluss von Alltagsrassismus auf die Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund: Veröffentlicht am 05.10.2015 in socialnet Materialien: https://www.socialnet.de/materialien/26410.php [Aufruf 05.02.2021].
Statistisches Bundesamt (2019): https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migr… [Aufruf 05.02.202].

Ziegler, Petra/Beelmann, Andreas (2009): Diskriminierung und Gesund-heit, in: Beelmann, Andreas/Jonas, Kai (2009): Diskriminierung und Tole-ranz, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 357-374.