Verschwörungserzählungen haben in der Pandemie Hochkonjunktur. Die extreme Rechte nutzt sie, um anschlussfähig bis weit in eine vermeintliche Mitte der Bevölkerung zu sein. Auf welche Narrative und Strategien sich Verschwörungsideolog:innen beziehen und wie Fake News vor 100 Jahren funktionierten, beschreibt Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl.
Wir würden alle zwangsgeimpft oder bekommen Chips geimpft, Kinder würden in unterirdischen Gefängnissen gehalten und überhaupt stecke hinter allem ein großer Puppenspieler, der die Regierungen der Welt dirigiere. Verschwörungserzählungen haben in der Pandemie Hochkonjunktur. Die extreme Rechte in all ihren Ausprägungen nutzt sie, um anschlussfähig bis weit in eine vermeintliche Mitte der Bevölkerung zu sein. Insofern ist nichts an dem, was sich in Corona-Zeiten auf den Straßen von Washington D.C. bis Berlin abspielt, neu. Neu ist allerdings die Wucht und Breite der Allianz, an der gearbeitet wird.
Kohärenz statt Fragmentierung
Schon im April 2020 taten sich in Stuttgart unter dem Namen “Querdenken 711” Menschen zusammen, um gegen die Corona-Maßnahmen der deutschen Bundesregierung zu protestieren. Innerhalb kürzester Zeit tauchten im Rahmen der Demonstrationen der Gruppe Verschwörungserzählungen auf. Das verstärkte Beziehen auf Verschwörungsideologien ist in Krisen besonders häufig zu beobachten.
Immer dann, wenn die Gegenwart schwierig und unübersichtlich wird, tauchen Verschwörungserzählungen gehäuft auf. Sie bieten dabei eine nicht unbedingt simple, aber für viele Menschen offenbar kohärente Deutung der Wirklichkeit. Das heißt, auch wenn diese Erzählungen auf Lügen und falschen Behauptungen basieren, können sie damit Dinge erklären und zu einem ganzen System zusammenfügen.
Es gibt keine Sackgassen und keine falschen Fährten, denn für jeden Widerspruch lässt sich eine neue Erklärung finden. Alles ergibt Sinn und ist Teil der einen großen Wahrheit. Das erzeugt eine Art der Sicherheit, die eine krisenhafte Gegenwart nicht geben kann. In einer Verschwörungsideologie hat alles seinen Platz: Die Guten sind gut und die Bösen sind böse. Lästige Graustufen und Ambivalenzen sind schlicht nicht vorhanden.
Dies erlaubt auch die komplette Dämonisierung und Enthumanisierung des vermeintlich Bösen. Verschwörungsideologien sind also Deutung der Wirklichkeit in einer Zeit, in der die Wirklichkeit zu zerbrechen droht. Krisen sind sehr viel Gegenwart und sehr wenig Zukunft. Eine geordnete Wirklichkeit erlaubt eine Perspektive für die Zukunft, die möglich wird durch das Auslöschen der als böse markierten heimtückischen Gruppe.
Neben Kohärenz bieten Verschwörungsideologien auch Selbstheroisierung. Man ist nicht mehr den Kräften der Umstände ausgesetzt, sondern selbst ein handelndes Individuum, das noch dazu über Geheimwissen verfügt. Dieses Geheimwissen macht einen zu etwas Besonderem und besser oder erleuchteter als andere. Verschwörungsideologien geben also auch die Illusion von Selbstermächtigung.
Fake News vor 100 Jahren
Verschwörungsideologien und ihre Verwendung für rechtsextreme und faschistische Politik sind kein neues Phänomen. 1903 erschien im damaligen russischen Zarenreich die Schrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“: eine Sammlung und Verdichtung tradierter antisemitischer und antijudaistischer Mythen, die zu einer großen Erzählung zusammengesponnen wurde. Das Perfide: Es handelt sich um Fälschungen angeblich heimlich zusammengetragener Protokolle einer jüdischen Weltverschwörung. Heutzutage würde man dies als „Fake News“ bezeichnen. Sie sind nicht wahr, aber sie „könnten“ wahr sein. Die „Protokolle“ sind auch heute weit verbreitet in Verschwörungserzählungen und werden behandelt wie eine valide historische Quelle.
Sie sind eine zentrale Grundlage für und bedienen jede verschwörungsideologische Erzählung, die auch heute noch populär ist: Juden und Jüdinnen hätten die Wissenschaft und das Wirtschaftswesen unterwandert und würden sie bestimmen. Die Kunst und der Journalismus seien ebenfalls in jüdische Hände gefallen. Das alles sei kein Zufall, sondern Teil eines großen Plans von Verschwörer:innen, deren Ziel die Weltherrschaft sei. Ein weiteres Ziel ist es nach dieser Erzählung, die freien, starken, verwurzelten Völker (oder „Rassen“) zu unterdrücken und zu schwächen.
Was vor über 100 Jahren galt, gilt auch jetzt: Auf Basis von organisierter und imaginierter Angst wird ein übermächtiger Feind konstruiert, gegen den man sich wehren muss. Die Sprache und die unvorstellbare Größe der Verschwörung erzeugen Dringlichkeit. Es muss jetzt gehandelt werden, denn morgen ist es zu spät. Diese konstruierte Mischung aus Dringlichkeit und Angst vor einer klar definierten Gruppe, gegenüber der man sich abgrenzt, erzeugt ein hohes Gewaltpotential.
Denn wenn es hier um „wir oder die“ geht, dann ist ein gewalttätiges Aufbegehren gegen diese Verschwörung bloß Notwehr und kein Akt der Aggression. Und: Bezogen auf eine Krisensituation verspricht eine Agitation gegen die imaginierte Gruppe des äußeren Feindes, der Schuld an den aktuellen Umständen hat, einen simplen und schnellen Ausweg aus der Unsicherheit.
Die unechten „Protokolle der Weisen von Zion“ verbreiteten sich rasch in ganz Europa, die Schrift ging auf analogem Wege viral, wurde in viele Sprachen übersetzt und unter der Hand als angebliches „Geheimwissen“ weitergegeben. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind überdeutlich. Verschwörungsideologien fungieren in ihren Grundstrukturen nicht nur fast exakt gleich wie vor über 100 Jahren, sondern sie beziehen sich auch auf das exakt gleiche angeblich historisch fundierte Quellenmaterial.
Lückentexte ausfüllen
Dazu passt, dass die Verschwörungsideologie selbst auch heute fast exakt gleich funktioniert. Sie wird an bestehende Verhältnisse angepasst, aber die Strukturen sind dieselben. Eine böse weltumfassende Elite plant Unsägliches und es liegt an den unterdrückten Völkern/Nationen/„Rassen“/Kulturen, sich zu wehren. Der Kontrast liegt zwischen „global agierend“ und „heimatverbunden“. Darin steckt der Topos des ‚heimatlosen Juden‘, der all die heimatliebenden Völker aus purer Missgunst zerstören möchte: Verschwörungserzählungen sind immer strukturell antisemitisch.
Wie in einem Lückentext ändern sich Personen, Daten oder Orte. Die Grunderzählung bleibt aber bestehen. Das macht Verschwörungsideologien so brauchbar als Krisenerzählung: Sie sind in ihrer Grundaussage stabil, erlauben aber situationistische Anpassungen. Egal, ob es sich um eine Pandemie oder um Flüchtlingsbewegungen handelt, alles kann Teil der großen Weltverschwörung werden.
Schon 2015/16 wurde von der Identitären Bewegung die Mähr des „Großen Austauschs“ propagiert. Eine geheime Weltelite, an deren Spitze George Soros stehe, lenke die weltweiten Fluchtbewegungen, um Europa und die Euopäer:innen zu schwächen und auszutauschen, damit die europäischen Eliten eine dumme und lenkbare Masse zum Regieren hätten.
Der Begriff geht auf den französischen Rechtsintellektuellen Renaud Camus zurück, der ihn 2011 entwickelte. Für die deutsche Übersetzung seiner Aufsatzsammlung "Revolte gegen den Großen Austausch" von 2016 verfasste Martin Sellner, der Chef der österreichischen Identitären, das Nachwort. 2020 wurde diese Erzählung zum „Great reset“ erweitert. Eine geheime Weltelite, an deren Spitze Bill Gates stehe, habe Corona über die Welt gebracht, um die Welt neu zu ordnen und Europa/die USA zu schwächen.
Allianzen
So treibt die Pandemie verschiedene rechtsextreme Spektren auf die Straße. Diese Spektren haben unterschiedlich hohe Organisationsgrade. Die Zeit, in der man Rechtsextremismus als Ansammlung fester Organisationen und Parteien denken konnte, ist vorbei. Längst hat sich ein diffuses, volatiles und wenig gefestigtes Spektrum aus Individuen, Cliquen und Online-Communities gebildet, das zahlenmäßig sehr groß ist, aber ohne gefestigtes Zentrum fungiert.
Der Mobilisierungsgrad dieser Art von Rechtsextremismus ist aber sehr hoch. Ideologisch funktioniert er nach dem Bausatzprinzip. Alles kann zusammengewürfelt werden. Dies erlaubt die Verbindung von ganz unterschiedlichen Spektren. So können Anti-Impf-Videos friedlich neben rassistischen Anti-Flüchtlings-Memes und Hass-Posts über bestimmte Politiker:innen existieren.
Durch das Schwarm-Prinzip radikalisieren sich die User:innen gegenseitig, indem immer weiterer Content in die Communities getragen wird. Derart verschwimmen dann auch die Grenzen zwischen fest organisierten Parteien und losen Netzwerken, zwischen neuen Communities und schon lange bestehenden festen Gruppen und zwischen ideologischen Spektren, die bis jetzt wenig Kontakt hatten. Dieses dynamische und schnell veränderliche Sammelsurium, zu dem auch immer wieder neue Gruppen hinzukommen, während andere nach einer Zeit weniger sichtbar sind, schlägt sich dann in Allianzen auf der Straße nieder. Die großen Proteste festigen die prekären Bande, da jede durchgeführte Demonstration den Triumph der Tat gibt.
Diese Allianz-Versuche sind kein Spezifikum pandemischer Zeiten. Erste Schritte in diese Richtung gab es schon bei den Montagsmahnwachen oder Pegida. Bei Ersteren war der Konflikt in der Ukraine ein Anlass, bei dem sich zunächst sehr diverse Gruppen und Menschen auf der Straße versammelten, um für Frieden zu demonstrieren.
Doch von Beginn an waren entscheidende Akteure der Neuen Rechten wie Jürgen Elsässer präsent, um das Diffuse deutlich nach rechts zu lenken. Pegida hatte zunächst den Anschein, dass politisch nicht organisierte Personen sich zusammengetan hatten, um rechte Kritik an der Flüchtlings- und Migrationspolitik der Bundesregierung (und EU) zu äußern.
Dass kein Partei-Label vorhanden war, machte es auch für Menschen, die für gewöhnlich mit rechtsextremen Parteien nichts zu tun haben wollen, leichter, mitzumachen. Doch auch hier waren es Neurechte wie etwa die Identitäre Bewegung, die von Beginn an Präsenz zeigten. Schließlich durfte ihr bekanntestes Gesicht, Martin Sellner, selbst bei Pegida Reden halten und seine Verschwörungserzählung vom „Großen Austausch” verbreiten. Einen entscheidenden Schritt nach vorne machte die extreme Rechte mit den Demonstrationen rund um die sogenannte Flüchtlingskrise 2015/16. Damals war die Organisation und Mobilisierung aber noch klar in Hand einzelner Organisationen wie der Identitären Bewegung.
Diese Kräfteverhältnisse haben sich in Corona-Zeiten geändert, da nun viel mehr Macht in Online-Communities und einzelnen Stars dieser Communities liegt, die nicht fest in schon bestehenden Gruppen verankert sind. Die Corona-Krise führt auch zu einer hohen Aufmerksamkeit und damit Anschlussfähigkeit von (rechtsextremen) Verschwörungserzählungen in der Gesellschaft.
Radikalisierungsprozesse, die davor vielleicht Monate gedauert haben, passieren nun in wenigen Tagen oder Wochen. Dabei gibt es eine Wechselwirkung: Die Online-Communities transferieren sich wieder auf die Straße oder etwa in Samuel Eckerts Luxusbus, in dem der “Querdenker” im Herbst 2020 durch Deutschland tourte, um seiner Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Dennoch sind Online-Communities mittlerweile der entscheidende Ort, an dem sich Rechtsextremismus verbreitet, aktiv ist und agitiert.
Vom Widerstand zur Vernichtung
Verschwörungsideologien geben starke emotionale Impulse, da sie Angst um die eigene Existenz auslösen. Ein übermächtiger und unsichtbarer Gegner hat es auch auf einen ganz persönlich abgesehen. Rechtsextreme Spektren, egal welchen Organisierungsgrades, entwickeln diese Erzählungen und bieten zugleich selbst einen Ausweg an, der da lautet, Allianzen zu bilden, um gegen diese Verschwörung vorzugehen und sich selbst zu verteidigen. Nicht umsonst skandierte die SA in den dreißiger Jahren “Deutsche, wehrt euch, kauft nicht bei Juden!” Das Gewaltpotential einer solchen Erzählung ist sehr hoch, da hier Menschen glauben, um ihre eigene Existenz kämpfen zu müssen.
Das ist jenes apokalyptische Szenario, dass Rechtsextreme seit mehr als hundert Jahren heraufbeschwören, um jede Form von Gewalt bis hin zum Töten rechtfertigen zu können. So stehen Anhänger:innen von Verschwörungserzählungen auf Demonstrationen Seite an Seite mit Rechtsextremen, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen und jene Menschen, die als die Verursacher des Elends markiert wurden, zu vernichten. Es ist also wenig verwunderlich, dass die Ur-Verschwörungsideologie, die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“, die Basis des modernen Vernichtungs-Antisemitismus wurde.