Liebesgrüße aus Paris - Fünf Fragen zum Diversitätsvorstoß an der größten Oper der Welt

Kommentar

Diversität und die Aufarbeitung kolonialer Kontinuitäten sind in unzähligen Kulturbetrieben eher nicht zu finden. Dass sich die Pariser Oper nun damit auseinandersetzt, kann sich auf die gesamte Kulturbranche Europas auswirken. Doch wie konsequent wird das Thema wirklich besprochen? Der folgende Artikel stammt aus der Publikation Theater und Macht - Beobachtung am Übergang.

Großartig, Paris nun auch! So mein erster Gedanke, als ich die frohe Kunde vernehme, dass Alexander Neef, Generaldirektor der Pariser Oper, sein Haus diversifizieren und öffnen möchte. Als Diversitätsagentin an einem deutschen Mehrspartentheater weiß ich: Der Kulturbetrieb braucht Leuchttürme mit Strahlkraft! Wenn die größte Oper der Welt und eine Traditionseinrichtung wie die Pariser Oper sich zu mehr Diversität in Personal, Programm, Publikum bekennt, dann setzt das Standards in ganz Europa.

Bericht über die Diversität an der Nationaloper Paris

Und nun liegt seit Februar 2021 ein 66 Seiten starkes Papier vor, in dem Politikberaterin und Schriftstellerin Constance Rivière und der Historiker Pap Ndiaye über den Stand der Diversität an der Pariser Oper berichten. Rivière und Ndiaye haben Gespräche mit rund 40 Mitarbeiter*innen sowie mit mehr als 50 auswärtigen Expert*innen geführt, ein Grobkonzept erarbeitet und Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Der Bericht mit dem Titel «Rapport sur la diversité à l'Opéra national de Paris» ist auf der Homepage der Pariser Oper veröffentlicht und einsehbar.1 

Der Bericht überrascht durch einen sachlich-konstruktiven Ton. Die Schattenseiten der Diversitätsdebatte, die sonst gern mal hintenüberfallen, werden nicht ausgespart: Unterrepräsentanz von BIPoC, Diskriminierung, Rassismus, koloniales Erbe der Oper etc. Das erste Kapitel legt das Augenmerk auf die 350-jährige Geschichte des Hauses und die historischen Wurzeln der westlich-eurozentristischen Operntradition. Koloniale und kolonialrassistische Entstehungszusammenhänge erklären, warum Opern sich so obsessiv mit außereuropäischen Kulturen und Menschen beschäftigen, diese als exotische «Andere» konstruieren, mit spezifischen körperlichen, geistigen, moralischen Eigenschaften versehen und rassistisch abwerten. Die ernüchternde Bilanz: Das Genre, die kanonischen Werke, die Aufführungspraxen in Ballett und Oper – hier seien beispielhaft nur Blackfacing, Yellowfacing, Brownfacing genannt – sind durchzogen von dominanzkulturellen, kolonialen Wissensbeständen und reproduzieren oftmals stereotypisierte rassistische Rollenbilder.

Im zweiten Kapitel schauen die Autor*innen auf die Belegschaft und analysieren die fehlende Diversität im Personal und die fatalen Folgen für das Programm. So seien die meisten gegenwärtigen Operninszenierungen künstlerisch-ästhetisch im 19. Jahrhundert stehengeblieben, mit Menschen- und Gesellschaftsbildern, die das vielfältige multiethnische Publikum des 21. Jahrhunderts nicht mehr ansprechen, ja gar verletzen. BIPoC-Perspektiven, Stimmen und Lebensrealitäten jenseits eurozentristischer Projektionen seien quasi inexistent; der Blick in die jährlichen Opernstatistiken zeige, dass seit Jahrzehnten keine Erneuerung oder Weiterentwicklung des Repertoires stattgefunden habe (die Statistiken des Deutschen Musikinformationszentrums ziehen eine ähnliche Bilanz).2

Erklärende Begleitprogramme, historische Kontextualisierungen, flankierende Ausstellungen zu problematischen Inszenierungen? Reflektierte, differenzierte kritische Neuinszenierungen? Förderung und Etablierung neuer künstlerisch- ästhetischer Praxen? Alles bislang Fehlanzeige. Rivière und Ndiaye schließen ihren Bericht im dritten Kapitel mit Empfehlungen und erfreulich praktischen Ansätzen zu einer diversitätsförderlichen Personalentwicklung.

Die Gretchenfrage: Woher kommt der Impuls zur Veränderung?

Dass der Wunsch nach Diversitätsentwicklung nicht unbedingt der freiwilligen Entscheidung der Intendanz entspringt, zeigt die Vorgeschichte: Im Sommer 2020 verfassten elf BPoC-Mitarbeiter*innen des Hauses das Manifest «Über die Frage der ethnischen Vielfalt an der Pariser Nationaloper», welches von 300 der 1.500 Angestellten unterzeichnet wurde. Das Manifest ist zu verstehen als Begehren, als emanzipatorischer Akt von den Rassismusbetroffenen selbst.

Der Zeitpunkt der Entstehung des Manifestes ist kein Zufall. Der rassistische Mord an George Floyd und die darauffolgende «#BlackLivesMatter»-Bewegung haben im vergangenen Frühjahr nicht nur in den USA, sondern auch in Europa die Themen Alltagsrassismus und struktureller sowie institutioneller Rassismus – mit einer nie da gewesenen Intensität und Dringlichkeit – auf die Tagesordnung gesetzt. In Europa nahezu unbemerkt, brachten zeitgleich mit der Pariser Erklärung BIPoC-Theaterschaffende (Black, Indigenous People of Color) in den USA ein ähnliches Manifest mit dem Titel «We See You, WhiteAmericanTheatre» auf den Weg.3 Auf 31 Seiten werden «BIPoC Demands for White American Theatre» und «Principles for Building Anti-Racist-Theatre Systems» formuliert. Auch die Sphinx Organization mit ihrer Mission «Transforming Lives through the Power of Diversity in the Arts» hat seit 2020 einen großen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen, den sie durch die neu entfachte Rassismusdebatte und die für Communities of Color überproportional starken Auswirkungen von Corona erklären: «Communities of color have been affected in a disturbingly disproportionate manner and countless artists have been silenced due to loss of work.»4

So wichtig diese Impulse aus den BIPoC-Communities Nordamerikas und die US-amerikanischen gesellschaftspolitischen Diskurse sind, braucht es darüber hinaus eine eigene nationale Debatte und diskursive Standortbestimmung. Modelle, die im US-amerikanischen Kulturraum entstehen und z.B. an der Metropolitan Opera in New York City angedacht werden, können nur selten 1:1 auf deutsche oder französische Kontexte übertragen werden. Zu unterschiedlich sind die Ausgangssituationen – die historischen Wurzeln und Entstehungszusammenhänge der Institutionen; die Geschichte und Beschaffenheit von nationalem Kanon und Repertoire; die Aufführungstraditionen, -praktiken und -ästhetiken; die institutionellen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Häuser; die Sehgewohnheiten, Interessen und Bedürfnisse des Publikums; die gesellschaftlichen Verhältnisse und Dynamiken; die Demographie.

In Managementhandbüchern heißt es, dass Diversitätsentwicklung am besten funktioniert, wenn sie top down gestaltet und von der Geschäftsführung mitgetragen wird. Wenn allerdings der Kampf von marginalisierten Gruppen um Anerkennung und Repräsentation, um Teilhabegerechtigkeit, um Dekolonisierung und Antirassismus plötzlich zur Chefsache wird, dann droht auch immer Vereinnahmung, Instrumentalisierung, Verfälschung, tokenism. Alexander Neefs Entscheidung ist eine Managemententscheidung, die das Begehren und die Forderungen von BIPoC aufgreift und deshalb immer eine Gratwanderung zwischen bottom-up und top-down sein wird. Es heißt nun für die Leitungsebene der Oper, von oben Unterstützung, Ressourcen, Frei- und Deutungsräume zur Verfügung zu stellen und sicher zu gewährleisten. Damit sich unter der Deutungshoheit der marginalisierten Gruppen die neuen Wissensbestände, Themen, Stoffe, Narrative, Ästhetiken entfalten können. Für diese Prozesse braucht es vor allem Reflexionsräume und Ausdauer [zum (Ver-)Lernen des Althergebrachten und (Er-)Lernen neuen Diskurs- und Handlungswissens].

«Diversity is being invited to the party; inclusion is being asked to dance,» hat es die Aktivistin und Kulturmanagerin Verna Myers einst beschrieben.5 Tatsächlich bedeutet Diversität nicht nur Teilhabe, sondern auch Mitbestimmung und Repräsentation: Die neu hinzukommenden Menschen und Gruppen sollen nicht nur dabei sein und mittanzen, sondern auch gleichberechtigt mitbestimmen können, welche Musik gespielt, zu welcher Musik getanzt wird. Und sich dabei wohlfühlen. Deshalb ergänzen Aktivist*innen das herkömmliche Begriffspaar D&I (Diversity and Inclusion) seit neuestem um zwei weitere Buchstaben und Begriffe: DEIB = Diversity, Equity, Inclusion and Belonging.

Was meinen Sie genau, wenn Sie von Diversität sprechen?

In den Medien, in Öffentlichkeit und Gesellschaft herrscht ein reduziertes Verständnis von Diversität als ethnisch-kulturelle Vielfalt und Hautfarbe. Dabei umfasst Diversität laut Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sechs Kerndimensionen: Geschlecht, Alter, Race/Hautfarbe, Ethnizität/Nationalität, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierungen, Behinderungen/Beeinträchtigungen. All diese Dimensionen kennzeichnen gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, Benachteiligungen, Diskriminierungen. Ist es sinnvoll, den Blick auf eine einzige Kategorie zu beschränken? Oder braucht es nicht vielmehr intersektionale Zugänge?

Und wie geht man um mit den diversen Diversitätsstrategien? Denn auch hier gibt es mehr als einen Ansatz. Es gibt zum einen ein wirtschaftliches, marktorientiertes Verständnis von Diversität, in dem es primär um Profitmaximierung, Wettbewerbsfähigkeit und zukünftige Märkte und Kund*innen geht. Dann gibt es den Fairness-und-Anti-Diskrimierungs-Ansatz, der allen Menschen gleichberechtigten Zugang zu den Kultureinrichtungen ermöglichen möchte. Und es gibt den Lern- und Effektivitäts-Ansatz, der auf einen Werte- und Kulturwandel in Organisationen abzielt und eine gelebte Praxis der Toleranz, Aufgeschlossenheit und Vielfalt in der Organisationskultur zu verankern sucht. Und dann gibt es, zu allem Überfluss, einen systemtheoretischen Ansatz, der die verschiedenen Ansätze, Ebenen, Formen, Zielsetzungen von Diversität zu integrieren versucht. Sehr umfassend – und komplex, abstrakt, theoretisch, überfordernd.

Mit den Handlungsempfehlungen von Rivière und Ndiaye wird für die Opéra de Paris eine programmatische politische Stoßrichtung vorgegeben: Abbau rassistischer und kolonialer Praktiken und Kulturen im Haus; Dekonstruktion und Dekolonisierung des Repertoires; Behebung von Unterrepräsentanz von BIPoC in Personal, Programm, Publikum; rassismuskritische Besetzungsverfahren und Empowerment von BIPoC-Nachwuchs-Künstler*innen; Förderung und Etablierung von neuen Themen, Stoffen, Narrativen; Normalisierung von Diversität.

Dennoch dürfen die anderen Ansätze nicht aus dem Blickfeld geraten. Sie werden in den kommenden Jahren den Fokus vermutlich immer wieder verschieben. Ein rein politisches Bekenntnis zur Rekrutierung von unterrepräsentierten BPoC-Künstler*innen reicht nicht aus – es braucht professionelle manageriale Instrumentarien und Prozesse und transparente Verfahren, um die gesetzten Ziele – ja, auch die wirtschaftlichen – zu erreichen. Machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie Ihre spezifische Definition und Strategie von Diversität revidieren, verändern, präzisieren, anpassen und einer mitunter sehr kritischen Öffentlichkeit wiederholt erklären müssen. Ach ja, und werden Sie bitte nicht müde, den Unterschied zwischen Internationalisierung und Diversifizierung zu erläutern.

Klar ist: Es gibt keine Schablonenlösungen. Jeder Kulturbetrieb muss eine ganz spezifische, auf die Historie, die Strukturen, die Belegschaft, die Bedarfe, die Interessen des Hauses, die stadtgesellschaftlichen Zielgruppen maßgeschneiderte Strategie finden, learning by doing, mit ganz viel trial and error. Und selbst wenn diese Strategie gefunden ist, wird Diversitätsentwicklung dadurch noch nicht zum Selbstläufer. Eine Idee, ein Ideal, eine Utopie wird erst dann umsetzbar, wenn sie in Instrumente, organisationale Verfahren, Abläufe, Strukturen überführt wird – Verfahren, die bleiben und wirken, selbst wenn die Intendanz wechselt.

Wie werden Sie als Einrichtung finanziert?

Gibt es staatliche, kulturpolitische oder sonstige Zielvereinbarungen, die Sie erfüllen müssen? Trotz staatlicher Subventionierung stehen viele Opern- und Theaterbetriebe unter einem großen ökonomischen Produktivitätsdruck. Die Fördermittelgeber*innen und Sponsor*innen geben in den jährlichen Zielvereinbarungen vor, wieviel Output generiert und was erreicht werden soll: Zahl der Aufführungen und Produktionen, Auslastungsvorgaben, Höhe der Eigeneinnahmen, Themenschwerpunkte, neue Zielgruppen. Organisationaler Wandel im Zeichen von Diversitätsentwicklung ist, wenn er in allen Handlungsfeldern, auf allen Ebenen und nachhaltig erfolgen soll, sehr ressourcenintensiv und bindet Kapazitäten. Deshalb sollten sich Kulturbetriebe, die einer diversitätsorientierten Organisationsentwicklung nachgehen, zuallererst mit der Frage nach den Kapazitäten beschäftigen: Es braucht Geld, Zeit, ins System integrierte Lernprozesse, divers besetzte Beiräte, Jurys, Arbeitsgruppen (z.B. ein «Critical Friends»-Gremium mit externen BIPoC-Berater*innen und Expert*innen), diversitätsorientierte Auswahl- und Besetzungs- verfahren und divers besetzte Auswahlgremien im Personalrecruitment, Pflege rassismuskritischer Arbeitskulturen und -strukturen.

Sind diese Kapazitäten vorhanden bzw. können sie bereitgestellt werden? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg? Das gilt leider nicht für Hochleistungsbetriebe wie Theater und Opernhäuser, in denen von morgens 6:00 Uhr bis 0:00 Uhr jede Stunde effektiv und effizient bereits Monate und Jahre vorausgeplant und in einem eng getakteten Dispositionsplan festgehalten ist. Um das Diversitätsvorhaben nicht nur als add on, sondern als fest verankertes Querschnittsthema umzusetzen, muss es im Kern der Kapazitäten- und Ressourcenfrage mitgedacht werden, auf allen Ebenen: Wie viel Diversität können und möchten wir uns leisten? Welche der bereits disponierten Kapazitäten sind wir bereit bzw. können wir riskieren, zu Diversitätszwecken umzuverteilen? Können wir dem Ensemble einen ganzen Tag probenfrei geben, um einen Workshop in Rassismuskritik zu ermöglichen? Oder gar eine längere Prozessbegleitung, ein Teambuilding für das Ensemble? Führen wir Mozarts «Zauberflöte» auf, einen Kassenschlager mit hoher Erfolgsgarantie? Oder wagen wir das Experiment, das Konzert eines unbekannten afrodiasporischen Komponisten am Samstagabend auf die Hauptbühne zu bringen?6

Können wir ganz auf ein noch nicht vorhandenes, zukünftiges diverses Publikum setzen oder sollten wir zur Sicherheit die Programminteressen der loyalen Abonnent*innen berücksichtigen? Der Arts Council England macht es mit dem Creative Case for Diversity vor und fördert nur Einrichtungen, die Diversität auf allen Ebenen und in allen Handlungsfeldern als Querschnittsaufgabe und -ziel berücksichtigen und umsetzen, mit messbaren Zielgrößen, Equality Data, Controlling der Prozesse und Ergebnisse. Diversität ist hier unhinterfragter Teil des künstlerischen Qualitätsmanagements.

Haben Sie eine Kommunikations- und Medienstrategie?

Jede organisationale Diversitätsstrategie sollte nach außen anders kommuniziert werden als nach innen. Es braucht für die Öffentlichkeit eine Anti-Tokenism-Strategie: Die frisch rekrutierten BIPoC-Kolleg*innen sollten nicht zu Werbezwecken instrumentalisiert werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Diversitätsvorhaben ernstgenommen und nicht als reines Alibi- oder Trendthema abgetan wird (Stichwort: Diversity-Washing). Und dass die BIPoC-Künstler*innen, die Sie gern rekrutieren würden, das Haus als ernsthaft diversitätsorientiert und -interessiert wahrnehmen. Reines Diversitätsmarketing, ohne gelebte Praxis im Innern, spricht sich in Künstlerinnenkreisen schnell herum (in diesen Fällen wäre eine Umbenennung des Vorhabens angeraten, vielleicht passt «Zukunftsstrategie» besser?).

Idealerweise wird das Feuilleton auf das veränderte Haus, die neuen Künstler*innen, das innovative Programm aufmerksam und berichtet darüber. Doing Diversity statt Talking about Diversity. Und Doing Diversity folgt ganz der Devise: Nichts, was ohne uns über uns bestimmt wird, ist für uns. (Die Forderung Nothing about us, without us, is for us ursprünglich entstanden im Kontext der Behindertenrechtsbewegung, wurde in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt auch von anderen politisch, sozial und ökonomisch marginalisierten Gruppen anverwandelt.) Eine Beteiligung von BIPoC-Künstler*innen und Expert*innen in frühen Konzeptionsphasen stellt sicher, dass nicht an den Bedarfen, Bedürfnissen, Interessen der Gruppen, um die es geht, vorbei entwickelt wird. Und die bestehenden rassistischen, kolonialen Deutungshoheiten und -paradigmen nicht unbewusst reproduziert werden.

Wie sichern Sie eine institutionelle Verankerung und Verstetigung all der Dinge, die Sie verändern möchten?

Viele Häuser tappen in die «Projektitis»-Falle: ein Frauenprojekt, ein Projekt für Behinderte, ein Projekt für migrantische/migrantisierte Menschen. Und dann wird das Kapitel geschlossen. Und wenn die Intendanz dann weiterzieht, an ein neues Haus, kann es durchaus passieren, dass die erprobten Ansätze ad acta gelegt werden. Engagieren Sie neben der/dem Diversitätsbeauftragten ein Team zur Organisationsentwicklung, das Sie dabei unterstützt, Ihre Ideen, Ansätze, Strategien strukturell zu verankern und durch die Einrichtung dauerhafter Stabsstellen und Verfahren zu verstetigen. Und geben Sie diesem Prozess mindestens zehn Jahre Zeit, um die Belegschaft mitzunehmen auf diese gemeinsame Reise in die Zukunft.

Bis zu 100 unterschiedliche Berufe sind an Opern und Theatern zu finden, und jede Abteilung, jedes Team braucht mitunter ganz spezifische diversitätsfördernde Personalentwicklungsmaßnahmen, zugeschnitten auf die konkreten Aufgaben, Herausforderungen, Bedarfe des Arbeitsfelds. Die Dramaturgie braucht ganz andere Schulungen und Sensibilisierungen als z.B. das Orchesterkollektiv, die Tischlerei, die Verwaltung oder die Kommunikationsabteilung. Auch hier: keine Schablonenlösungen. Die «Beharrungskräfte» und Widerstände gegen den organisationalen Wandel sind mindestens genauso divers wie die Diversität und reichen von produktions- und ablaufbedingten Widerständen bis hin zu wider- ständigen Selbstverständnissen. Es ist manchmal wie verhext: Gerade Menschen, die sich selbst als künstlerisch-kritisch-progressive Freigeister sehen, tun sich bisweilen schwer, neue Wissensbestände zuzulassen.

Ich stimme Alexander Neef voll und ganz zu, wenn Sie sagen: «Ce rapport n'est pas la conclusion d'un processus, c'est le début» – der Bericht über Diversität an der Pariser Oper ist nicht das Ende eines Prozesses, sondern sein Beginn.


Quellen

  1. Siehe: «Rapport sur la diversité à l'Opéra national de Paris»
  2. Siehe: Statistik des Deutschen Musikrats zu den Opern mit den meisten Aufführungen in Deutschland
  3. Siehe: Webseite von «We See You, WhiteAmericanTheatre»
  4. Siehe: Sphinx Response to the National Crisis
  5. Siehe: Vernā Myers beim Women's Leadership Forum 2015
  6. Siehe: Opernstatistik 2018/19 des Online-Magazins klassik.com

Theater und Macht – Beobachtungen am Übergang

«Machtmissbrauch» scheint derzeit das Dauerthema, wenn es um Theater geht. Skandale allerorten? Nicht nur. Kreativer Wandel ist vielerorts bereits im Gange, und im Gefüge des Betriebs verschiebt sich etwas. Was genau passiert und was sich verändert – dem will diese Publikation nachgehen. Die Beiträge zeigen einige der Machträume, in denen sich das Theater bewegt, und benennen Beispiele für korrekte Führung, einbeziehende Leitung und empathisches Zusammenarbeiten. Hier können Sie den Sammelband bestellen und als PDF downloaden.

Unter redaktioneller Leitung von Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Elena Philipp und Christian Römer, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de in Zusammenarbeit mit weltuebergang.net