Ye-One Rhie ist seit 2021 Mitglied im Bundestag für die SPD. Als studierte Kommunikations- und Politikwissenschaftlerin macht sie sich im Bereich Wissenschaftspolitik sowie Mobilitäts- und Verkehrspolitik stark. Welche Rolle ihre Familiengeschichte dabei spielt, dass sie heute politisch aktiv ist und wie es ihr ein Jahr nach der Bundestagswahl geht, erzählt sie uns im Interview.
Ye-One Rhie studierte Sprach- und Kommunikationswissenschaft sowie Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen University. Von 2013-2015 arbeitete sie im Wahlkreisbüro von Ulla Schmidt, MdB. Von 2014-2022 war sie Mitglied im Rat der Stadt Aachen und seit 2014 mobilitätspolitische Sprecherin der SPD-Ratsfraktion. Seit 2015 ist sie Referentin im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW. Von 2020 bis 2022 war sie stellvertretende Vorsitzende der SPD-Ratsfraktion Aachen. Seit 2021 ist sie Mitglied des Bundestags für die SPD.
Ngoc Bich Tran: Wie sah dein Alltag aus, bevor du Bundestagsabgeordnete wurdest?
Ye-One Rhie: Vor meinem Mandat habe ich in Düsseldorf im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen gearbeitet. Als ich für den Bundestag kandidierte, war das ja mitten in der Pandemie und da gab es nicht viel Alltag. Ich war sehr viel im Homeoffice und ehrenamtlich in der Kommunalpolitik im Bereich Mobilitätspolitik aktiv. Ich persönlich – und ich weiß, dass viele das nicht hören können – fand den Lockdown gar nicht so schlimm. Ich konnte mir dadurch im Homeoffice meine Zeit selbst einteilen, agiler arbeiten und mich mehr mit Achtsamkeit beschäftigen, das war großartig für mich. Das war mein Alltag bis zum Wahlkampf und seit September 2021 bin ich nun im Bundestag.
Mit welchen Themen bist du bei der Bundestagswahl vor einem Jahr angetreten?
Ich hatte zwei Aspekte: Der eine Aspekt war, dass ich sehr viel in Richtung Wissenschaftspolitik gemacht habe, weil ich mich ja beruflich damit beschäftigt habe und Aachen auch eine sehr große Wissenschaftsstadt ist. Damit verbunden ist auch die Verkehrspolitik, die mein kommunalpolitischer Schwerpunkt ist. Der zweite Aspekt ist meine Person selbst. Ich bin angetreten als Öcherin, Sozialdemokratin und Politikerin. Die Betonung lag auf das „in“, das auch auf Wahlplakaten immer extra unterstrichen war, um zu verdeutlichen, dass da eine junge Frau ist, die kandidiert. Ich bin in Aachen geboren und fühle mich als Aachenerin und wollte deutlich machen, dass der Heimatbegriff nichts damit zu tun hat, ob man schon seit Generationen hier lebt.
Würdest du sagen, dass deine familiäre Geschichte auch eine Rolle dabei spielt, dass du heute in der Politik bist?
Ich kenne ganz wenige Politiker*innen mit Migrationsgeschichte, die sagen, dass ihre eigene Geschichte überhaupt nichts damit zu tun hat, dass sie politisch aktiv geworden sind. Wenn du als Person of Color in die Politik gehst, hat es meistens auch was mit deiner Herkunft zu tun. Als ich elf war, sollten wir abgeschoben werden, nachdem meine Eltern einige Jahre zuvor zu Studienzwecken nach Deutschland gekommen waren. Nach der Promotion meines Vaters sah der Staat diesen Zweck als erfüllt und wir sollten deshalb wieder zurück. Zu dem Zeitpunkt war ich erst zweimal in Korea gewesen und fand das Land unglaublich fremd. Für mich war Deutschland immer mein Zuhause. Mir war bis dahin ja noch gar nicht klar, dass man sich seine Heimat nicht einfach so aussuchen konnte.
Letztendlich hatten wir sehr viel Glück und bekamen eine Aufenthaltsduldung und später auch die Niederlassungserlaubnis, weil wir durch unsere Nachbarinnen den Tipp bekamen, an Politiker*innen zu schreiben und eine Petition gegen unsere Abschiebung einzureichen. Meine Eltern sprachen zwar super Deutsch, aber man hielt es für eine gute Idee, dass ich die Briefe aus der Kindsperspektive schreibe. Damals war in Aachen Ulla Schmidt Bundestagsabgeordnete für die SPD und ich verfasste u.a. an sie einen sehr langen, handgeschriebenen Brief. Sechs Jahre später traf ich Ulla Schmidt auf der Straße und es stellte sich heraus, dass sie sich noch an mich und meinen Brief erinnern konnte und sie sich den Brief sogar noch immer aufgehoben hatte. Durch sie bin ich dann auch bei den Jusos gelandet, nachdem ich ihr davon erzählte, dass ich gern politisch aktiv sein möchte. Ulla Schmidt hat letztes Jahr als Bundestagsabgeordnete aufgehört und ich bin nun ihre Nachfolgerin.
Im Endeffekt ist also Ulla Schmidt dafür verantwortlich, dass du in die Politik gegangen bist?
Absolut. Fairerweise muss ich sagen, dass es ein bisschen Zufall war, dass ich bei der SPD gelandet bin, weil für mich in Aachen auch die Grünen super waren, aber in meinem Fall war es wirklich Ulla Schmidt, die dann den Ausschlag gegeben hat, zur SPD zu gehen.
Welche Bilanz ziehst du nach einem Jahr im Bundestag? Wie hat sich dein Leben verändert?
Ich bin manchmal selbst erschrocken darüber, wie viel Spaß mir der Job macht. Ich hoffe immer, dass ich mich als Person weniger verändert habe, denn mein Leben hat sich insofern um 180 Grad gedreht, als dass ich früher immer alles selbst auf die Kette bekommen habe. Aber bei der Termindichte und der Komplexität in meinem Leben habe ich gelernt, dass ich meinem Team das Leben nur noch schwerer mache, wenn ich versuche, irgendwie noch eine Hand am Lenkrad zu halten, was diese ganze Organisation angeht. Ich kann eine unheimlich knatschige Person sein und mein Team weiß inzwischen schon, dass ich superschnell hangry werde und planen deshalb immer zwischen meinen Terminen überall Mittagspausen mit ein, damit ich bloß nicht zu lange ohne Lunch bleibe und mich besser den Anliegen der Menschen widmen kann. Das war mir am Anfang super unangenehm und dafür bin ich meinem Team sehr dankbar.
An welchen Themen arbeitest du aktuell, beziehungsweise was möchtest du in der laufenden Legislaturperiode verändern oder bewirken?
Ich war an der Gründung der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) beteiligt, bei der wir versuchen, die anwendungsorientierte Forschung, die wir in den ganzen Hochschulen haben, besser in die Wirtschaft und der Gesellschaft in den Regionen zu verankern. Was mir außerdem besonders wichtig ist, ist den Studierenden eine Stimme zu geben. In den letzten zwei Jahren mussten diese nämlich echt viel wegstecken, was man u.a. bei den ganzen Entlastungspaketen gesehen hat, bei denen vor allem Studierende häufig vergessen oder vernachlässigt wurden. Darunter fällt auch die BAföG-Reform. Und was mir ansonsten als Mobilitätspolitikerin unglaublich am Herzen liegt, ist die Nachfolgeregelung für das 9-Euro-Ticket.
Verstehst du dich als Vorbild für marginalisierte Gruppen, wie zum Beispiel BIPOCS?
Das ist eine sehr spannende Frage. Als ich kandidiert habe, habe ich in erster Linie für mich kandidiert. Erst während der Wahlkampagne, als diese riesigen Wahlplakate von mir hingen, ist mir u.a. über Instagram bewusstgeworden, welche Auswirkung meine Kandidatur zum Teil auf andere hatte. Ich bekam so viele Nachrichten von Leuten, denen das so viel bedeutete, dass eine asiatisch gelesene Frau kandidiert, das hätte ich gar nicht gedacht. Und das hat sich auch während meines ersten Jahres so durchgezogen, dass mir Leute auch noch heute dieses Feedback geben, wie viel ihnen mein Mandat bedeutet.
Mein Team hat mal recherchiert und tatsächlich bin ich auch die erste ostasiatisch gelesene Abgeordnete im Bundestag. Das hatten wir gar nicht so auf dem Schirm. Als Vorbild verstehe ich mich vielleicht nicht, aber ich fände es schön, wenn sich einige mich als Beispiel nehmen, um sagen zu können: Wenn Ye-One und all die anderen, die jetzt im Bundestag sind, das können, dann kann ich das auch. Und dann ist es mir egal, ob jemand sagt, Deutschland sei nicht bereit dafür. Deutschland ist absolut bereit dafür.
Hast du, abgesehen von den positiven Rückmeldungen, auch schon Gegenteiliges erfahren?
Ehrlich gesagt, ist es so wenig, dass ich es ignorieren kann. Klar kommt es schon mal vor, dass ich auf Twitter Kommentare wie „Geh doch dahin zurück, wo du herkommst“ bekomme, aber wenn ich sehe, was andere Abgeordnete so erleben, habe ich echt Glück. Da spielen zum Teil auch gewisse Stereotype mit rein, dass (ost-)asiatisch gelesene Menschen in den meisten Fällen erstmal positiver bewertet werden. Aber auch positiver Rassismus kann eine Belastung sein.
Hast du einen Rat für junge Menschen of Color, die sich politisch engagieren möchten?
Darüber habe ich auch schon mit anderen Kolleg*innen of Color gesprochen. Wir sind uns alle darüber einig, dass wir gerne dafür bereitstehen, diese Menschen mehr zu unterstützen. Wenn Leute das Gefühl haben, Politik könnte wirklich etwas für sie sein, gibt es immer Wege, durch Praktika etc. in die Parlamente reinzuschnuppern. In dem Fall können sie gerne auf uns zukommen. Viele Abgeordnete of Color sind in dem Punkt auch wirklich sensibel und ich würde mir wünschen, dass wir in Zukunft mehr Projekte für BIPOCS aufziehen, gerne auch in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung, um offener und diverser zu werden. Das fände ich großartig.
Vielen Dank!