Vielfalt in der Politik: "Die Parlamente hängen der gesellschaftlichen Entwicklung Jahre hinterher"

Interview

Mirrianne Mahn ist seit 2020 Stadtverordnete für Bündnis 90/Die Grünen in Frankfurt am Main. Als politische Aktivistin und Theatermacherin engagiert sie sich schon seit langem für mehr Diversität, Inklusion und gegen Diskriminierung. Im Interview spricht sie über ihren Weg in die Kommunalpolitik, Herausforderungen, denen sie sich als Schwarze Politikerin stellen muss und die Bedeutung von Vielfalt und Repräsentation für die deutsche Politik.

Portraitfoto von Mirrianne Mahn
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Mirrianne Mahn engagiert sich schon lange für mehr Diversität, Inklusion und gegen Diskriminierung

Mehret Haile-Mariam: Liebe Mirrianne, du bist seit 2020 Stadtverordnete für Bündnis 90/Die Grünen in Frankfurt am Main. Was hat dich dazu bewogen, kommunalpolitisch aktiv zu werden?

Mirrianne Mahn: Ich habe 2014 als Klimaaktivistin angefangen und verstehe mich auch immer noch als Aktivistin. Ich habe aber schnell gemerkt, dass ich als Schwarze Person noch mehr Bedürfnisse hatte als viele andere Aktivist*innen um mich herum. Denn für mich gibt es keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit. Und ohne eine intersektionale Bekämpfung von Diskriminierung gibt es auch keine soziale Gerechtigkeit. Dann geschah im Februar 2020 das Attentat von Hanau, woraufhin die Stadt Frankfurt im Juni 2020 den „Aktionsplan zur Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus“ vorstellte. Ich las den Aktionsplan und hatte den Eindruck, dass keine einzige Person mit Expertise in dem Bereich Antidiskriminierung und Rassismus an ihm mitgewirkt hatte. Es standen Dinge in dem Plan, die uns zum Teil Jahre in der Antirassismusarbeit zurückwarfen. Also entschied ich mich dazu selbst zu kandidieren.

Warum glaubst du, sind Menschen, die genau diese Erfahrungen machen – ob Menschen mit Migrationsgeschichte, ohne akademischen Abschluss oder Geflüchtete, so stark unterrepräsentiert, sei es auf Bundes-, Landes- oder kommunaler Ebene? Wie ließe sich das verändern, vor allem in der Kommunalpolitik?

Ein großes Problem ist, dass Ehrenämtler*innen nicht vergütet werden. Ich gehöre in dieser Hinsicht zu den Privilegierten, auch wenn es mir nie so vorgekommen ist. Denn ich schaffe es einer Vollzeittätigkeit nachzugehen und mein ehrenamtliches Mandat auszuführen. Das ist auch ein Grund dafür, dass überwiegend Rentner*innen in der Kommunalpolitik tätig sind. Hinzukommt der Rassismus. Ich habe lange Ausreden dafür gesucht. Mittlerweile muss ich aber klar sagen, dass Rassismus auch hier ein riesengroßes Problem ist. Die Parlamente hängen der gesellschaftlichen Entwicklung Jahre hinterher. Gleichzeitig herrscht eine große Intransparenz. Die Zugänglichkeit zu den Parlamenten ist allein schon dadurch erschwert, dass viele Menschen gar nicht wissen, wie man sich zur Kandidatur aufstellen lässt. Die fehlende Repräsentation ist auch ein Problem. Wenn du dich von den Kommunalpolitiker*innen um dich herum nicht repräsentiert fühlst, dann siehst du dich auch selten selbst in dieser Rolle. Mir ging es da nicht anders vor meiner Kandidatur.

Deinen Weg in die Kommunalpolitik hast du über dein aktivistisches Engagement gefunden. Warum hast du dich den Grünen angeschlossen?

Ich selbst habe schon immer die Grünen gewählt. Trotzdem habe ich mich von keiner Partei hundertprozentig repräsentiert gefühlt. Den Grünen bin ich dann beigetreten, weil ich das Gefühl hatte, die verschiedenen Themen, die mir wichtig sind – soziale Gerechtigkeit, Antidiskriminierung und Klimaschutz – zusammenbringen zu können. Hier sah ich die Möglichkeit gesellschaftliche Probleme aus einer intersektionalen Perspektive anzugehen. Trotzdem muss man unterscheiden zwischen dem, was im Parteiprogramm steht und dem, was in der Praxis geschieht. Die politische Praxis lebt letztendlich von den gewählten Vertreter*innen, die an der Macht sind und die Entscheidungen treffen.

Du hast angesprochen, dass auch du dich nicht von den Politiker*innen um dich herum repräsentiert gefühlt hast. In Hinblick auf die Unterrepräsentation marginalisierter Menschen in der Politik, insbesondere der Kommunalpolitik, geht es vielen Menschen ähnlich. Verstehst du dich als ein Vorbild für diese Menschen?

Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob ich mich als Vorbild für andere sehe. Ich hoffe aber, dass Menschen sich von mir repräsentiert fühlen. Trotzdem müssen die, die sich politisch engagieren wollen, ihren eigenen Weg finden. Es ist nicht unbedingt leicht, vor allem für marginalisierte Menschen. Ich selbst frage mich immer wieder, ob es die Sache auch wirklich wert ist. Denn es kostet mich extrem viel Kraft und auch Würde. Gleichzeitig glaube ich, dass wir Menschen brauchen, die diese gläsernen Decken und geschlossenen Türen aufbrechen, um anderen den Weg zu ebnen. Am Ende des Tages braucht es, um erfolgreich Politik zu betreiben, parlamentarische Mehrheiten. Um sich Mehrheiten zu organisieren, müssen mehr Leute für genau diese Themen sensibilisiert werden und verstehen, dass Vielfalt keine Gefahr ist, sondern eine Bereicherung.

Du bist Teil des Buch-Projekts "People of Deutschland", in dem es genau darum geht: Neue Narrative zu Fragen von Vielfalt, Zugehörigkeit und Identität zu schaffen. Inwiefern spielt deine eigene Migrationsgeschichte eine Rolle in deiner Arbeit als Kommunalpolitikerin?

Meine Biografie hat mir die erste unfreiwillige Expertise mitgegeben. Trotzdem habe ich mich sehr lange nicht als Person mit „Migrationsgeschichte“ definiert. Mein Vater ist weiß und deutsch. Zudem habe ich eine deutsche Geburtsurkunde. Ich habe mich also nicht als eine Person mit Migrationsgeschichte verstanden. Identität hat in dem Sinn eine große Rolle in meiner Arbeit gespielt, weil ich anfangs verunsichert war. Wie viele andere, habe ich mich gefragt: Bin ich jetzt Gast in diesem Land? Ich habe mich irgendwann dann aktiv dazu entschieden zu sagen: Ich bin kein Gast. Ich kenne kein anderes Land, denn Deutschland ist mein Zuhause und das meiner Kinder. Das führt wiederrum in meiner alltäglichen Arbeit zu Diskriminierung.

Der 2. Teil der Vielfaltsstudie zu „Anfeindungen und Aggressionen in der Kommunalpolitik“ hat ergeben, dass 60 % der Kommunalpolitiker*innen in Großstädten schon Anfeindungen erlebt haben. Auch du hast für deine Intervention bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2021, viel Lob bekommen, aber auch Anfeindungen erlebt. Wie gehst du damit um?

Ich habe die Studie gelesen und ich finde sie sehr wichtig. Nach meiner Intervention in der Paulskirche z.B. wurde ich auf offener Straße angegriffen. Ich hätte mir in dieser Situation mehr Unterstützung von den politischen Strukturen, derer ich als Kommunalpolitikerin teil bin, gewünscht.

Wir haben für jede Kleinigkeit Handreichungen, aber es gibt kein Protokoll oder Leitfaden für den Umgang mit lebensbedrohlichen Situationen. Es liegt auch daran, dass sich Kommunalpolitik gerade in den Großstädten gewandelt hat. Allein durch die sozialen Medien hat sich der Umgang miteinander extrem verändert. Es fehlt der persönliche Kontakt, stattdessen heizt sich die Stimmung sehr schnell auf und entlädt sich eben auch im Alltag. Das ist ein Grund dafür, dass ich die städtische Verwaltung darum gebeten habe, meine Adresse nicht zu veröffentlichen.

Allein das hat sich als großer Kampf herausgestellt. Mir war es aber sehr wichtig, weil ich weiß, dass ich als Schwarze Kommunalpolitikerin eine andere Sichtbarkeit habe. Ich erhalte auch weiterhin viel Post, darunter auch Drohungen, aber zumindest nicht an meine Privatadresse. All das ist Teil des Problems und zeigt, welchen Herausforderungen wir uns als Kommunalpolitiker*innen stellen müssen. Ich bin da nur ein Beispiel von vielen. Tareq Alaows, ein syrischer Geflüchteter, musste seine Bundestagskandidatur 2021 sogar zurückziehen, weil er und seine Familie so starke Anfeindungen erlebten. Es fehlen schlichtweg die Strukturen, um Kommunalpolitiker*innen, gerade die, die sowieso schon marginalisiert sind, zu schützen. Dabei wissen wir spätestens seit Walter Lübcke, wie groß die Gefahr für Politiker*innen tatsächlich ist.

Welche weiteren Maßnahmen braucht es, um Barrieren und Diskriminierung abzubauen und eine vielfältige Kommunalpolitik voranzubringen?

Allen voran das Wahlrecht für alle. Wenn ich meinen Lebensmittelpunkt seit mehreren Jahren in einer Kommune habe, dann sollte ich auch die Politik dort mitgestalten dürfen. Außerdem sollten Kommunalpolitiker*innen vergütet werden. Hauptamt statt Ehrenamt. Durch die Vergütung werden Ressourcen frei. Marginalisierte Menschen haben seltener eine Lobby und führen ehrenamtliche Tätigkeiten häufiger unter prekären Bedingungen aus. Selbst wenn sich Menschen also politisch engagieren, ist es häufig so, dass viele aufgrund ihrer Lebensumstände nicht das Privileg haben sich so einzubringen, wie sie es möchten. Deshalb brauchen wir bessere Strukturen, wie z.B. familienunterstützende Kinderbetreuungsangebote. Gerade Alleinerziehende haben es besonders schwer. Es sind so viele Mütter mit Kleinkindern im Frankfurter Parlament wie noch nie zuvor. Das zeigt sich schon daran, dass immer wieder Kinder mit in den Ausschusssitzungen sind. Wir müssen darüber reden, denn wenn wiederrum keine Mütter mit Kindern in den Parlamenten sitzen, fehlen auch ihre Lebensrealitäten. Dann werden auch die Strukturen niemals so verändert, dass sie in diesem System bestehen können.

An welchen Themen arbeitest du gerade? Was sind in deiner Arbeit aktuell die größten Herausforderungen?

Als Vorsitzende des Kulturausschusses der Stadt Frankfurt arbeite ich an der Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus. Auf den ersten Blick denken viele, es hätte nicht viel mit den Schwerpunkten des Ausschusses zu tun. Wenn wir uns aber z.B. den Frankfurter Zoo anschauen, dann haben wir mit ihm nicht nur einen der berühmtesten Zoos Deutschlands, sondern auch eine Kultureinrichtung, die noch vor weniger als 100 Jahren an der „Ausstellung“ von Schwarzen Menschen beteiligt war. Deshalb habe ich durchgesetzt, dass der Zoogesellschaft 300.000 Euro zur Verfügung gestellt werden, damit sie ihre Vergangenheit in Hinblick auf die Völkerschauen wissenschaftlich aufarbeiten und ein Reparationskonzept erarbeiten kann.

Mirrianne Mahn ist politische Aktivistin, Theatermacherin und freiberufliche Referentin für Diversitätsentwicklung. Seit 2020 ist sie Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Als Stadtverordnete in Frankfurt am Main ist sie Vorsitzende des Ausschusses für Kultur, Wissenschaft und Sport, Mitglied im Ausschuss für Bildung und Schulbau, sowie im Ausschuss für Wirtschaft, Recht und Frauen. Ihre Themenschwerpunkte sind Diversität, Antidiskriminierung, Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe.

Ein anderes Projekt ist der Neubau von Oper und Schauspiel in Frankfurt für 1,6 Milliarden Euro. Ich habe ein großes Interesse daran, dass wir Kultur neu denken und dekolonialisieren. Orte wie Oper und Schauspiel, die historisch gesehen elitär und dementsprechend exklusiv waren, müssen neu konzipiert werden. Wenn wir kulturelle Teilhabe neu denken, stellen sich ganz andere Fragen: Ist das Gebäude nur abends geöffnet oder kann es auch über den regulären Betrieb hinaus als Kulturzentrum genutzt werden? Wie hoch sind die Ticketpreise und wer kann sich das leisten? Diese Aspekte müssen wir bei dem Neubau dieser Projekte mitdenken, sodass alle von ihnen profitieren können. Schließlich werden sie auch durch die Steuergelder aller finanziert.

Ein weiterer Punkt ist der Kampf gegen die AfD. Es gibt in keinem Parteiprogramm, außer bei den Linken, eine aktive Strategie gegen rechts. Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass Rechtsradikale am Erstarken sind. Wir müssen dagegenhalten. Mit gegenhalten meine ich aber nicht einfach eine Kritik der Partei, sondern die Entwicklung handfester Strategien. Ich bin z.B. Teil der Initiative "#AfDNee" und erarbeite im Rahmen dessen ein Aufklärungsprogramm, das sich das Parteiprogramm der AfD vornimmt. In diesem Programm erläutern wir, welche Konsequenzen Forderungen wie z.B. die Abschaffung des Mindestlohns tatsächlich für die Wähler*innen hätten. Die wenigsten Menschen würden von dem Wahlerfolg der AfD profitieren, das gilt vor allem für die Menschen, die sowieso schon unterrepräsentiert sind.

Welchen Rat hast du für junge Menschen, die sich kommunalpolitisch engagieren möchten?

Sucht euch Verbündete, und zwar echte Verbündete. Ich sage immer, ich brauche keine allies, ich brauche accomplices. Mittäter*innen statt Verbündete. Deshalb arbeite ich über Parteigrenzen hinweg und schließe mich mit anderen marginalisierten Menschen zusammen. In der Hinsicht profitieren vor allem unterrepräsentierte Gruppen von den sozialen Medien, weil natürlich neben dem Hass im Netz, von dem ich vorhin gesprochen habe, dort auch eine viel größere Repräsentanz gesellschaftlicher Gruppen herrscht. Schließt euch mit Gleichgesinnten zusammen und tretet Parteien bei. Die Umfragewerte der AfD zeigen, wie notwendig es gerade jetzt ist, auch in diese Räume zu gehen und die großen Forderungen zu stellen. Wir müssen klarmachen: Wir sind nicht unsere Eltern, nicht unsere Großeltern, nicht unsere Ahnen. Wir sind eine Generation, die hier ist, um zu bleiben und wir gehen nirgendwohin.

Illustration von bunten Silhouetten von Köpfen und Gesichtern, die sich teilweise überlagern. Darauf steht in weißer Schrift Vielfaltsstudie über zwei Zeilen, beide Zeilen sind mit einer Klammer verbunden.

Eine vielfältige Gesellschaft braucht vielfältige Repräsentation! Doch sind die Kommunalparlamente genauso vielfältig besetzt wie die demografische und soziale Realität der Städte tatsächlich ist? Die dreiteilige "Vielfaltsstudie", eine Zusammenarbeit der Heinrich-Böll-Stiftung, der Universität Duisburg-Essen und der FernUniversität Hagen, gibt Antworten auf diese Frage. Am 12. Oktober ist der dritte Teil der Studie unter dem Titel "Vielfalt sucht Repräsentation. Amts- und Mandatsträger*innen in der Kommunalpolitik" erschienen.

Die Portraitreihe zur Vielfaltsstudie stellt engagierte Kommunalpolitiker*innen mit vielfältigen Perspektiven aus dem Bundesgebiet vor.