Im Wahlkampf ist jedes Mittel recht(s)

heimat.kolumne

Während Friedrich Merz weiter an der Brandmauer nach rechts zündelt, fordert Bundeskanzler Olaf Scholz Abschiebungen „im großen Stil“. Dass Migration vor oder nach Wahlen zum Problem erklärt wird, ist nicht neu – doch gefährlich bleibt es trotzdem. Denn wer in braunen Gewässern nach Wählerstimmen fischt, ebnet rechtsradikalen Parteien den Weg in die bürgerliche Mitte.

Foto eines umgedrehten Wahlplakats der AfD, auf dessen Rückseite "Rassismus ist keine Alternative!" geschrieben wurde, im Hintergrund ein Polizeiwagen.
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Wahlkampf in Hamburg, 2020

Die großen deutschen Volksparteien haben aktuell wieder ihr Lieblingsthema neu entdeckt: die Migration und ihre Folgen. Wobei Migration wie so oft als Synonym für ein Ereignis steht, das problembehaftet ist und dessen negative Folgen überwiegen. Das Thema Migration ist der Notgroschen aller strauchelnden Volksparteien. Steht eine Landtags- bzw. Bundestagswahl an, fürchten Politiker*innen die Niederlage und den damit einhergehenden Machtverlust, wie der Teufel das Weihwasser. Und um das zu verhindern, scheint jedes Mittel recht(s) zu sein. So ist es mittlerweile zum Usus geworden, den Sorgen und Nöten der recht(s)schaffenden „besorgten Bürgern“ das Ohr zu leihen und den wahlentscheidenden Volkszorn zu besänftigen bzw. so zu kanalisieren, dass es sie keine Wählerstimmen kostet und im optimalsten Fall sogar welche einbringt. Hierfür greift man tief in die populistische Trickkiste, denn jede Volkspartei, die etwas auf sich hält und im Vorfeld von Wahlen akribische Feldforschung betreibt, weiß genau, bei welchen Themen sich die Gemüter erhitzen. So wird generell, geradezu reflexartig, vor jeder Wahl oder nach der Erhebung von Umfragewerten den Ergebnissen entsprechend, eine härtere Gangart gegen Migrant*innen gefordert.

Migrationsfeindliche Debatten passen sich dem Zeitgeist an

Was ab den 1980er Jahren mit Forderungen gegen die Gastarbeiter*innen begann, sich später, in den 1990ern, gegen Ausländer*innen und sogenannten „Asylant*innen“ fortsetzte, ist aktuell bei den Geflüchteten oder „integrationsunwilligen“ Migrant*innen angelangt. Das Spektrum der negativen Merkmale, quasi der Zündstoff für die brodelnde Volksseele, die mit migrantischen Menschen im Zuge dieser Debatten assoziiert werden, ist facettenreich und passt sich dem jeweiligen Zeitgeist und dem aktuellen innenpolitischen Diskurs entsprechend an: Mal ist es die Belastung des Sozialstaats, mal sind es die “Scheinasylanten“ und Kulturfremden, zwischendurch eine Prise Wirtschaftsflüchtlinge und Clankriminalität bis hin zu den aktuellen Vorwürfen des Antisemitismus gegenüber einer gesamten Religionsgemeinschaft. Dass der Antisemitismus in den letzten Jahren, nicht zuletzt durch das Erstarken der rechtsradikalen Partei AfD, stetig wächst und sich durch alle Bevölkerungsschichten der deutschen Gesellschaft zieht, rückt hierbei in den Hintergrund.

Wie viel angenehmer ist es da, gesellschaftliche Probleme zu verlagern, quasi outzusourcen, und wie glücklich kann sich eine Gesellschaft schätzen, wenn sie alle aktuellen und akuten gesellschaftlichen Probleme, wie zum Beispiel Wirtschaftskrisen oder den zunehmenden Antisemitismus auf eine marginalisierte Bevölkerungsgruppe, die muslimischen Migrant*innen, abwälzen kann. Der frühere Innenminister Seehofer sprach nicht die Wahrheit aus, als er die Migration die Mutter aller Probleme nannte. Vielmehr sah er und sehen aktuell viele Politiker*innen innerhalb der CDU/CSU das Problem der Migration als Garant dafür, Wahlen zu gewinnen, denn wo es ein Problem gibt, lässt sich als Macher oder Problemlöser profilieren: Ausweisen! Abschieben! Zumachen! Damit lassen sich schon seit den frühen neunziger Jahren Landtags- bzw. Bundestagswahlen gewinnen.  

Zwischen Zahnarzt und Abschiebung

Dabei scheint keine Partei vor diesem gefährlichen Populismus abzuschrecken. Wie sonst ließe sich erklären, dass nach den desaströsen Wahlergebnissen der SPD in den Landtagswahlen 2023 in Hessen und Bayern Bundeskanzler Olaf Scholz im Wochenmagazin Spiegel Abschiebungen „im großen Stil“ fordert oder die Bundesministerin des Innern und für Heimat, Nancy Faeser, „effektivere Abschiebungen“ ankündigt. Frei nach dem Motto: nach der verlorenen Wahl ist vor der nächsten Wahl.

Töne, die man sonst von dem politischen Gegner gewohnt ist, deren Parteivorsitzender Friedrich Merz sehr gerne von Sozialtouristen aus der Ukraine spricht, oder von kleinen Paschas, wenn er arabischstämmige bzw. muslimische Kinder meint. Doch Friedrich Merz ist nicht nur Parteivorsitzender der CDU und selbsternannter Kanzlerkandidat. Er weiß auch ganz genau, warum es mit der Grundversorgung der deutschen Zähne hapert. Die Schuld für die knappen Zahnarzttermine sieht er bei geflüchteten Menschen, die sich angeblich auf Kosten des deutschen Sozialstaates gratis die Zähne sanieren lassen. Einmal in Fahrt gekommen, setzt er noch zum Thema Antisemitismus einen drauf und drängt auf ein Israel-Bekenntnis bei Einbürgerungen. Geschickt, gewollt und wohl kalkuliert lässt er somit außer Acht, dass die meisten antisemitischen Straftaten der letzten Jahre eindeutig von Rechtsextremisten verübt wurden und löst, bewusst oder unbewusst, die Erinnerungskultur ab, indem er eine Verdrängungskultur für die bürgerliche Mitte etabliert. Wer jetzt noch nach der von Friedrich Merz versprochenen Brandmauer gegen Rechts sucht, sucht vergebens. Auf kommunalpolitischer Ebene scheint sie hier und da bereits trotz des vermeintlichen Widerstands des Bundesvorstands zu bröckeln.

Erinnerungen an die Baseballschlägerjahre

Als Jugendlicher habe ich die Baseballschlägerjahre der frühen neunziger Jahre erlebt. Auch damals war die Stimmung innerhalb der deutschen Gesellschaft vergiftet. Von „Wir“ und die „Anderen“, den „Fremden“ war die Rede. Auch damals hatten deutsche Politiker*innen keine Hemmungen, aus strategischen und wahltaktischen Gründen populistisch zu zündeln. Dass die Gesellschaft sich zunehmend spaltete und der Hass auf „die Fremden“ von Tag zu Tag wuchs, spielte keine Rolle. Viel wichtiger waren Wählerstimmen in bevorstehenden Wahlen.

Als dann die ersten Brandanschläge mit Todesfolgen verübt wurden, war die Überraschung groß. Erst in Mölln, wenig später folgte Solingen. Diese Mordanschläge waren eine Zäsur für alle Migrant*innen in Deutschland. Als Türke, als Kind von Gastarbeitern, war ich unmittelbar betroffen und als gebürtiger Duisburger war Solingen in unmittelbarer Nähe. Gemeinsam mit Freunden fuhren wir wenige Tage später nach Solingen, um an einer Demonstration und der anschließenden Mahnwache teilzunehmen. Als ich inmitten der Menschenmenge vor dem abgebrannten Haus stand und in die weinenden und wütenden Gesichter der Menschen um mich blickte, fühlte ich, wie tief gespalten die Gesellschaft mittlerweile war und welch irreparablen Schaden dieser Mordanschlag an einer gemeinsamen Zukunft in Deutschland angerichtet hatte. Neben der kollektiven Trauer, Ohnmacht und Wut, die wir alle an diesem Tag empfanden, war ein Gefühl ganz besonders prägend und traumatisch: der Vertrauensverlust. Wir vertrauten dem Staat und seinen Sicherheitsbehörden nicht mehr. Wir fühlten uns von der deutschen Gesellschaft im Stich gelassen. Wir waren nicht mehr willkommen und von diesem Tage an war ein Rettungsseil in der Nähe des Balkons fester Bestandteil des Inventars in jedem türkischen Haushalt.

Wer in braunen Gewässern fischt

Hat die Politik ihre Lehren aus diesen Ereignissen gezogen? Haben die Trauermärsche, die Lichterketten, die Solidaritätsbekundungen und die Aufrufe zum Kampf gegen Rassismus zu einem Gesinnungswandel in der Politik und Gesellschaft geführt? Haben die rechtsterroristischen Anschläge und Morde des NSU, die Opfer der Attentate von Hanau oder Halle Politiker*innen die Erkenntnis gebracht, dass es verantwortungslos und gefährlich ist, wenn man Dolche und Schwerter redet? Betrachtet man die Wahlkämpfe und die innenpolitischen Debatten der folgenden Jahre kurz nach den Anschlägen, muss man leider verneinen.

Auch im Jahre 2023 werden Wahlkämpfe auf dem Rücken der migrantischen Community ausgefochten, ohne sich auch nur im Geringsten über die Folgen und Konsequenzen unbedacht gewählter Worte Gedanken zu machen. Volksparteien, die dem Irrglauben verfallen, mit Ressentiments zu spielen sei eine erfolgsversprechende Strategie, um in braunen Gewässern nach Stimmen zu fischen, werden nichts anderes tun, als rechtsradikalen Parteien und rassistischem Gedankengut den Weg zur bürgerlichen Mitte zu ebnen. Wenn das Klima weiterhin vergiftet bleibt und einige Politiker*innen zündelnd das Kochen ihres eigenen Süppchens dem gesellschaftlichen Frieden vorziehen, wird sich ein brauner Schatten über das zarte Pflänzchen der Demokratie legen, und diese Schuld wird man dann nicht mehr den Migrant*innen in die Schuhe schieben können. Dieser Kelch wird an uns vorübergehen.

Die heimat.kolumne ist ein neues Format auf Heimatkunde. Hier mischen sich die Publizistin Liane Bednarz und der Schriftsteller Hakan Akçit regelmäßig in aktuelle Debatten rund um den Kampf gegen rechts und die Verteidigung der offenen, pluralen Gesellschaft ein. Liane Bednarz schreibt aus einer liberal-konservativen Perspektive mit Fokus auf die Abgrenzung von konservativem und neurechtem Denken, Hakan Akçit schreibt aus einer postmigrantischen Perspektive mit einem Fokus auf die Einwanderungsgesellschaft und den Kampf gegen Rassismus.