Jasmin Blunt hat in ihrer Schulzeit selbst Rassismus erlebt. Als Lehrerin ist sie Jahre später mit einer Pflichtlektüre konfrontiert, in der rassistische Sprache massiv reproduziert wird – und wehrt sich dagegen. Was sich aus ihrer Sicht im deutschen Bildungssystem ändern muss, damit Rassismus und Diskriminierung keinen Platz in der Schule haben und warum dafür das Engagement aller Schulbeteiligten zentral ist, diskutiert sie in ihrem Bericht.
In Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan. Als sogenannte migrantisierte Menschen haben wir nach und nach innerhalb der Gesellschaft eine zunehmende Sensibilisierung für unsere Lebensrealitäten erreicht. Zeit, dass wir auch im Bildungssystem beginnen, klare Forderungen nach Rassismuskritik zu stellen.
Es ist mittlerweile gute Praxis geworden, dass rassismuserfahrene Menschen oft selbst auf die Schieflagen hinweisen, die es in Deutschland immer noch gibt. Wir bringen unsere Expertise ein, werben für antirassistische Bildung, klären über strukturellen, institutionellen, interpersonellen und internalisierten Rassismus auf. Der Afrozensus 2020, die UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft sowie die Ergebnisse der DeZIM-Studie 2023 zu gesundheitlichen Auswirkungen rassistischer Erfahrungen dienen uns als dringend notwendige Grundlagen eines tieferen Verständnisses der Wirkmächtigkeit von Rassismus.
Aber gerade die Bestrebungen, über Ungleichheitsverhältnisse aufzuklären und deren zahlreichen Manifestationsformen entgegenzuwirken, koinzidieren mit einem steigenden Potential realer Bedrohungen für rassismus- und diskriminierungserfahrene Menschen. Zunehmend zeigen sich die Ausmaße von Rassismen und Diskriminierungen aller Art deutlich in der deutschen Gesellschaft: in der Zustimmung für die AfD, in den Aussagen von Politiker*innen etablierter Parteien zu Menschenrechtsfragen, in Abschottungs- und Deportationsfantasien, in den Ergebnissen der Vergleichsstudie zu Anti-Schwarzem Rassismus in der EU sowie in der Mitte Studie 2023, die zeigt, dass rechtsextreme und demokratiefeindliche Aussagen in Deutschland vermehrt Zustimmung erhalten.
Das sich zuspitzende Klima der Menschenfeindlichkeit hat viele Aktivist*innen sowie Privatleute inzwischen dazu bewegt, sich Notfallpläne zurechtzulegen, falls der Aufenthalt in diesem Land einmal nicht mehr ohne Gefahr für Leib und Leben möglich sein sollte. Denn nach wie vor ist es leider so, dass Deutschland zwar gerne Rassismus bedauert, bislang aber mit wirkungsvollen Maßnahmen dagegen zurückhaltend agiert.
Wir brauchen ein diskriminierungskritisches Bildungssystem
Unter dieser Prämisse gilt es, einen besonders kritischen Blick auf das Bildungssystem zu werfen, denn Bildungskonzepte als Ausdruck sozialpolitischer Ideale stehen in der Verantwortung, rassistischen und diskriminierenden Denk- und Verhaltensmustern entgegenzuwirken, die plurale Demokratie zu verteidigen, Strategien zur Auflösung von Unterdrückungsverhältnissen zu entwickeln und die Solidargesellschaft nachhaltig zu stärken. Schulische Aufgabe ist Erziehung und Bildung. Wo, wenn also nicht in der Schule, müssen wir in besonderem Maße darauf beharren, dass Antidiskriminierung gelebt wird, dass durch Systemveränderungen und Strukturwandel Benachteiligung beseitigt wird, dass rassistische Vorurteile nicht reproduziert und verstärkt werden und ein diskriminierungskritisches Bildungssystem somit zum Recht aller wird?
Da die Zeit institutioneller (Aus-)Bildung eine Zeit darstellt, in der es zu einem Anstieg an Vergleichssituationen zwischen rassifizierten und weißen Menschen kommt, ist dies auch eine Zeit, in der hierarchisch konstruierte Machtgefälle zwischen diesen Gruppen vermehrt erlebt werden. Das Leben migrantisierter Schüler*innen ist geprägt von Differenzkonstrukten und negativen Zuschreibungen. Evidenz für die nachhaltigen Auswirkungen dieser Erlebnisse auf Selbstwert und Lernleistung findet sich in Studienergebnissen aus sozialpsychologischer und erziehungswissenschaftlicher Forschung.
Auch ich bin nicht ausgenommen von prägenden rassistischen Schulerfahrungen und möchte nachfolgend gerne eine Situation schildern, die mir in deutlicher Erinnerung geblieben ist, weil sie unmittelbar auf jenes Spannungsfeld zwischen Machtverhältnissen und Rassifizierungsprozessen verweist, die unweigerlich mit Fragen nach Identität und der eigenen Stellung in der bundesdeutschen Gesellschaft einhergehen.
„Römer und Sklaven“: Blackfacing in der Schule
Anfang der 1990er Jahre, ich war in der fünften Klasse des Gymnasiums, sollte unsere Klasse an einem städtischen Umzug teilnehmen. Das Thema: Römer und Sklaven. Die für die Organisation zuständige Lehrkraft teilte mich—Überraschung! —der Gruppe der Sklavinnen und Sklaven zu.
In der Vorbereitung wurde über Kostüme und Requisiten beratschlagt, und natürlich sollten die Sklaven und Sklavinnen auch schwarz geschminkt werden – immerhin kamen diese ja aus Afrika. Am Tag des Umzugs wurde also allerhand Blackfacing betrieben und meinen weiß-deutsch gelesenen Mitsklaven und Mitsklavinnen eine gute Portion schwarze Farbe ins Gesicht geschminkt und auf Armen und Beinen verteilt, die unter ihren Sklavenleibchen hervorragten.
Als schließlich klar wurde, dass die für das Schminken zuständigen Eltern mich von dieser „Maskierung“ ausnehmen wollten, überkam mich eine Schockwelle der Erkenntnis und das allumfassende Gefühl fehlender Zugehörigkeit. Sollte ich etwa nicht – genau wie die anderen – nur eine Rolle spielen? Sahen sie in mir tatsächlich eine Sklavin, die ohne Maske zwischen sich und der Welt als echte Unterdrückte in einem Straßenumzug mitlaufen sollte? Mein Leben war doch anders als das der Verschleppten und Versklavten im alten Rom! Ich war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, so überwältigt war ich von all den Gefühlen, die plötzlich in mir hochkamen. Ich wollte nicht mitlaufen, konnte dies aber nicht äußern, weil es mir schwerfiel, mich in diesem Moment den weißen Menschen um mich herum zu erklären. Gleichzeitig wollte ich mich nicht erklären müssen, fühlte mich von niemandem verstanden und unfassbar allein. In einem Versuch der drohenden Ausgrenzung zu entkommen, verlangte ich letztendlich mit erstickter Stimme, ebenfalls geschminkt zu werden, obwohl mir klar war, dass dies weder Lösung noch Ausweg sein konnte, dies keinen Schutz und kein Entkommen bot.
Widerwillig, denn niemand wollte so recht verstehen, weshalb ich als Schwarzes Mädchen denn nun zusätzlich schwarze Farbe im Gesicht haben wollte, wurde ich also angemalt, dies auch sehr viel dezenter als die anderen, denn meine Haut sei ja schon dunkel genug, so hieß es, und während des Straßenumzugs erlebte ich dann, wie mich weiße Mütter auslachten. Sie riefen mir lautstark zu, ich hätte gar keine Schminke gebraucht, denn ich sei ja schon Schwarz. Sie verhöhnten mich, während ich tapfer und stumm neben meinen Freund*innen herlief und hoffte, dass niemand so genau hinhörte, was die Leute über mich sagten.
Meinen Eltern habe ich nach dem Umzug nichts davon erzählt, mit meinen weißen Freund*innen habe ich nicht darüber geredet. Auch mit meinen Lehrer*innen habe ich das nie thematisiert.
Warum nicht? Aus Scham. Aus dem Wissen heraus, dass meine Lehrkräfte nicht einen Augenblick daran gedacht hatten, mich davor zu schützen als Sklavin durch unsere Kleinstadt laufen zu müssen. Im Gegenteil, sie fanden es mehr als passend, dass ich eine Sklavin verkörpern könnte. Wie hätte ich als elfjähriges Mädchen aber über die Entsubjektivierung und Viktimisierung, die ich in diesem Moment erlebte, sprechen sollen?
Mein Instinkt war damals, mich zu verstecken, zu versuchen, der Exponiertheit zu entgehen, abzutauchen, weil ich als Einzelperson nicht die Kraft, nicht das Wissen, nicht die Worte, nicht den Mut hatte, mich gegen das, was in den folgenden Stunden veranstaltet werden sollte, zu wehren. Genau wie meine Mutter, die sich ebenfalls nicht gewehrt hatte, als ihr von der Schule aufgetragen worden war, den Stoff für meine Sklaventoga zu kaufen, hatte ich mich der Situation gefügt und resigniert.
Eine doppelte Abwertung
Rückblickend erkenne ich, dass ich in dieser Situation einer doppelten Abwertung ausgesetzt war – einer historischen und einer gegenwärtigen. Historisch war die Abwertung, weil allein die Idee dieses Straßenumzugs den eurozentrischen Blick auf die kolonialrassistische Vergangenheit deutlich macht, und gegenwärtig, weil diese kolonialrassistische Vergangenheit untrennbar mit der Gegenwart verknüpft ist, in der Schwarze Menschen nach wie vor marginalisiert und herabgesetzt werden, Anfeindungen und physischen Übergriffen ausgesetzt sind.
Nun leben wir nicht mehr in den 1990er Jahren und vieles wurde bereits verändert oder ist in Veränderung begriffen, aber bis heute zeigen sich im schulischen Umfeld noch immer Strukturen und Praktiken, die unser Leben und unsere Körper entsubjektivieren und als minderwertig darstellen.
Die Worte, die die Autorin Natasha Brown in ihrem Debutroman Assembly für die Herabwürdigung Schwarzer Menschen findet, erscheinen nur allzu passend, wenn ich an die Verstrickungen denke, in denen wir uns im Bildungssystem nach wie vor befinden. In deutscher Übersetzung lautet ihre Feststellung wie folgt1:
"Denn sie beobachten (uns). Man hat ihnen in der Schule beigebracht, wie das geht. Man hat ihnen beigebracht, unsere Körper als Objekt zu betrachten. Bis in alle Ewigkeit werden ihnen diese Darstellungen wieder und wieder in Klassenräumen gezeigt. Bis es Axiom wird, die ununterbrochene Linie vom Objekt zu uns.“
Pflichtlektüre „Tauben im Gras“ – hundert Mal das N-Wort
Die hier beschriebene Subjekt-Objekt-Konstruktion fand ich letztes Jahr in extremster Form in der neuen Pflichtlektüre für berufliche Gymnasien in Baden-Württemberg vor. Der Roman „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen, in dem auf ungefähr 200 Seiten über hundert Mal das N-Wort vorkommt und in dem ein rassistisches, stereotypes Menschenbild Schwarzer Personen vermittelt wird, stellte den Diensteid, den ich vor 13 Jahren geschworen hatte, mehr als auf die Probe, denn Ressentiments zu schüren, Dehumanisierung und Marginalisierung Vorschub zu leisten, entspricht nicht dem diskriminierungsfreien Bildungsauftrag, dem wir Lehrkräfte unterliegen.
Mein Einspruch gegen den Roman als Schullektüre wurde zunächst nicht gehört, dann zurückgewiesen, mir wurden Schwäche und Empfindsamkeit zugeschrieben, Kolleg*innen waren überfordert und haben sich abgewandt. Andere, wenngleich auch nur wenige, mit denen ich über ein Jahrzehnt zusammengearbeitet hatte, haben mich unterstützt und versucht, Zweifler und Kritiker durch Argumentation und Vernunft dazu zu bringen, zuzuhören und zu lernen.
Die Petition gegen den Roman wurde letztendlich von mehr als 12.000 Menschen unterstützt, von Rassismusforscher*innen, Didaktiker*innen, Schwarzen und migrantischen Initiativen getragen.
In der Folge konnte zumindest ein Etappenziel erreicht werden. Ab dem Abiturjahrgang 2025 gibt es nun eine Alternative zu „Tauben im Gras“, eine Aufforderung an die Lehrkräfte, rassistische Sprache nicht zu reproduzieren und keine Benachteiligung bei der Notengebung entstehen zu lassen, sollten Schüler*innen sich weigern, das N-Wort in der Prüfungsarbeit zu verwenden.
Damit scheinen auf den ersten Blick viele Fragen geklärt zu sein. Was natürlich nicht geklärt ist, ist die Frage, warum man einen Prüfungsnachteil für Schwarze Schüler*innen herbeiführt und von ihnen erwartet, dass sie sich über alle emotionalen Verletzungen, die durch den Text entstehen, einfach hinwegsetzen und in der Prüfung die von ihnen erwartbare Leistung erbringen. Es stellt sich auch die Frage, warum man Re-Traumatisierung im Klassenzimmer zulässt, wenn doch durch Studien belegt ist, dass rassistisches Unterrichtsmaterial unmittelbar zu rassistischen Handlungen im Klassenzimmer führt.2 Auch die Frage, warum nicht allein menschliche Überlegungen zu einer anderen Buchauswahl geführt haben, bleibt offen.
Die Antworten auf all diese Fragen könnten darin begründet liegen, dass ein Großteil der Gesellschaft Rassismuserfahrungen immer noch ausschließlich als explizite Angriffe betrachtet, die dem rechtsextremen Spektrum entstammen. Dabei ist Rassismus Sozialisation und kulturelles Erbe und damit ein komplexes gesamtgesellschaftliches Phänomen, das uns alle betrifft. Wir müssen aufhören, Hinweise von Betroffenen auf diskriminierende Verhaltensweisen und internalisierte Rassismen als Angriff auf die eigene Person zu werten und zurückzuweisen. Wir müssen kritische Selbstreflexion als Lernaufgabe begreifen, die nachhaltige Veränderung und echte Solidarität überhaupt erst möglich macht.
Was sich im Bildungsapparat ändern muss
Für den Bildungsapparat ist es in diesem Zusammenhang besonders wichtig zu verstehen, dass auch im Bestreben über Rassismen aufzuklären und Diskriminierung zu verhindern die Gefahr der Vermittlung und Reproduktion rassistischer Wissensbestände liegt. Deshalb ist es unabdinglich, die vermeintliche Deutungshoheit abzugeben, Privilegien zu reflektieren und diskriminierungserfahrene Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen, um mit ihnen zusammen wirkungsvolle diskriminierungskritische Praxen zu implementieren. Nur so kann die Unterbrechung von Kontinuitätslinien und eine diversitätssensible und machtkritische Auseinandersetzung mit Rassismus ermöglicht werden.
Um Ressentiments, Stereotype und Phantasmen über rassifizierte Menschen hinter uns lassen zu können, ist die Institutionalisierung diskriminierungskritischer Bildungsansätze bereits in der universitären Lehrkräfteausbildung eine Notwendigkeit. Auch Erkenntnisse der Schulbuchstudien müssen endlich in unseren Schulbüchern umgesetzt werden, sodass diversitätssensibler und sprachkritischer Unterricht in der Folge erleichtert wird. Es braucht eine generelle Dekolonisierung der Bildungspläne, die nach wie vor migrantisches Wissen ausblenden und koloniale Gewaltverbrechen de-thematisieren. Wir brauchen unabhängige Beschwerdestellen für Kitas und Schulen, die eine gesicherte Aufklärung diskriminierender Vorfälle im Bildungssystem gewährleisten.
Was wir aber auch brauchen, ist das Engagement aller Schulbeteiligten mit und ohne Diskriminierungserfahrungen, die sich in Menschenrechts- und Gleichbehandlungsfragen nicht spalten lassen. Es braucht Menschen, die sich einmischen, Ausgrenzung und Benachteiligung benennen und am Schulleben partizipieren, im Streben nach Chancengerechtigkeit und multiperspektivischer Erweiterung sozialpolitischer Diskurse. Es braucht Menschen, die Rassismuskritik und Antidiskriminierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen, aber vor allem auch in der Schule, zur täglichen Praxis machen, um die Grundlage für unser Zusammenleben zu bewahren.
Literaturhinweise
1 Brown, Natasha (2021): Assembly. Penguin Random House. UK
2 Vgl. Autor*innenKollektiv Rassimuskritischer Leitfaden. (2015): Rassismuskritischer Leitfaden zur Reflexion bestehender und Erstellung neuer didaktischer Lehr- und Lernmaterialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit zu Schwarzsein, Afrika und afrikanischer Diaspora. Hamburg/ Berlin. Projekt Lern- und Erinnerungsort Afrikanisches Viertel (LEO) beim Amt für Weiterbildung und Kultur des Bezirksamtes Mitte von Berlin und Elina Marmer (Hsg.).
Abrufbar unter: https://www.elina-marmer.com/wp-content/uploads/2015/03/IMAFREDU-Rassis…