Schwarze Kinder, weiße Perspektiven. Wie divers ist die Kinderbuchbranche?

Analyse

Die deutsche Kinderbuchbranche steht an einem Wendepunkt: Um in einer zunehmend hyperdiversen Gesellschaft relevant zu bleiben, braucht es diversitätsorientierte Öffnungsprozesse und die Auseinandersetzung mit bestehenden strukturellen Ausschlüssen. Viele Buchschaffende of Color setzen hierfür entscheidende Impulse. 

Street Art Bild auf dem eine Reihe von Kindern nach oben blickt

Rocket. So heißt die Protagonistin des Kinderbuchs Look up! (Puffin, 2019) des Schwarzen britischen Autoren-Illustratoren-Duos Nathan Bryon und Dapo Adeola. Ihr Bruder Jamal meint, das rührt daher, dass ihr Atem so feurig ist wie der Antrieb einer Rakete. Ihre Mutter erklärt: Genau am Tag ihrer Geburt startete ein Raumschiff seine Reise ins All. Und genau dort liegt auch Rockets große Leidenschaft und folglich der Fokus des Buches – Rocket will einmal genau so eine herausragende Astronautin und Forscherin werden wie Mae Jemison, die erste Schwarze Frau im Weltall. 

Große Weiten und ferne Welten macht das Buch für Schwarze Kinder auf und verankert sie zugleich im Alltäglichen. Es erlaubt der Schwarzen Protagonistin zu träumen, mannigfaltige Zukünfte für sich selbst zu imaginieren und zeigt sie als aktive, selbstbestimmt handelnde Akteurin, die ihre ganze Nachbarschaft zum Bestaunen eines Meteorschauers mobilisiert. Eine Darstellung, die in der Kinderliteratur selbstverständlich sein sollte und vielfach ist – nur leider nicht in Hinsicht auf marginalisierte Charaktere. 

„Ich sehe derzeit viele Bücher auf dem britischen Kinderbuchmarkt“, erklärt der Illustrator Dapo Adeola, „die für die Diversität ihrer Darstellungen gepriesen werden. Oftmals sind das aber Bücher, bei denen die Figuren wortwörtlich nur eingeschwärzt wurden.“ Was ihm häufig fehlt, ist ein Bezug zu kulturellen Verortungen und Bezügen der Protagonist*innen, zur Komplexität der jeweiligen Identität und der damit verbundenen Vielschichtigkeit.

Eine Illustration in Look up! zeigt Rocket, wie sie zwischen den Beinen ihrer Mutter sitzt, während diese ihr Haar flechtet. Adeola erklärt, dass es ein Bild ist, das keinen direkten Textbezug besitzt und zugleich auf starke Resonanz bei Schwarzen Lesenden stößt – allein weil es ganz nebenbei eine Lebenswelt widerspiegelt, die nur selten in ihrer Alltäglichkeit referenziert wird. 

Spiegel und Fenster 

Adeolas Ansatz kann als künstlerische Umsetzung genau dessen verstanden werden, was die Schwarze US-amerikanische Professorin Rudine Sims Bishop bereits 1990 umriss: das Verständnis von Büchern als Spiegel und Fenster für Kinder. Bücher sollten dementsprechend Kindern nicht nur Zugänge zu den Erfahrungen anderer ermöglichen (Fenster), sondern auch bestärkende Momente in Form von positiven Vor- und Selbstbildern gerade für unterrepräsentierte und (mehrfach) marginalisierte Kinder (Spiegel) bieten.

Fehlen solche narrativen und visuellen Identifikationsangebote oder werden Kindern primär negative Bezüge zur eigenen Identität eröffnet, lernen sie hier eine wirkmächtige Lektion über ihre Position im gesellschaftlichen Machtgefüge und über den ihnen zugeschriebenen Platz in der Welt. 

Für die Schwarze deutsche Professorin und Erziehungswissenschaftlerin Maisha Auma spricht auch dieser Aspekt für eine Stärkung Schwarzer Perspektiven und von Perspektiven of Color in der narrativen und visuellen Produktion von Kinderbüchern: „Angesichts der Realität von rassistisch geprägter Exklusion, Marginalisierung und Dehumanisierung ist es besonders wichtig, kontinuierlich die Stimmen und die Weltauslegungen der rassistisch Marginalisierten selbst zu rezentrieren.“ Das betrifft auch den Kinderbuchmarkt mitsamt seinen wirkmächtigen Bildern und Narrativen. 

Schwarzes Kind steht vor einem Bücherregal

Andrea Karimé, libanesisch-deutsche Autorin und Poesiepädagogin, veröffentlicht seit 2006 Kinderbücher, die genau eine solche Rezentrierung konstant vornehmen. Kinder of Color mit Flucht-, Migrations- und/oder Rassismuserfahrung werden hier in ihrer Individualität dargestellt, mit ganz eigenen Familiengeschichten, Interessen und Fähigkeiten.

In King kommt noch (Peter Hammer, 2017) zeigt sie etwa, was es bedeutet, von Flucht empowernd aus der marginalisierten Perspektive zu erzählen. Der junge Ich-Erzähler wundert sich nach seiner Ankunft in Deutschland über Leute, die jeden Tag Hundekacke in Tüten schaufeln, und über Mülltonnen, die in Käfige gesperrt werden. Und er vermisst seinen Hund, den er zurücklassen musste.

Themen von Freundschaft und Verlust liefern einen roten Faden, den viele Kinder aufgreifen können, genaue Beobachtungsgabe, altersgerechte, poetische Sprache sowie feinsinniger Humor, der ohne Stereotypisierungen als Schenkelklopfer auskommt, lassen dieses Buch aus der Vielzahl fluchtzentrierter Erzählungen herausstechen. King kommt noch belegt damit eindrücklich, wie sich Narrative verändern, wenn sich Perspektiven verschieben und Objekt-Subjekt-Relationen neu definiert werden. 

Zu komplex fürs Kinderbuch? 

Karimé wurde für ihr Werk sowohl mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis als auch mit dem Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet, hält Poetik-Vorlesungen und leitet Schreibwerkstätten – und stößt mit ihren Geschichten immer wieder auf Unverständnis und Ablehnung bei Verlagen. Ihr Blick auf die derzeit stark zunehmende Debatte um Diversität in der Literatur fällt ernüchternd aus:

„Das Interesse an Kinderbüchern mit Kindern of Color in der Hauptrolle unterliegt starken Wellenbewegungen. Nach Merkels ‚Wir schaffen das!‘ gab es plötzlich viele Bücher über Flucht, die meisten aber von weißen Autor*innen, die sich zuvor wenig mit der Thematik beschäftigt hatten, was den Büchern oft anzumerken ist. Auch jetzt ist die Entwicklung sehr ähnlich – Kinderbücher sollen diverser werden, die Menschen, die sie schreiben, aber nicht unbedingt. Von Forderungen, wie sie #ownvoices (1) stellt, sind wir in der deutschen Kinderbuchbranche noch weit entfernt.“

Eine 2019 veröffentlichte britische Studie kam zum Ergebnis, dass weniger als 2 % der veröffentlichten Kinderbuchautor*innen und -illustrator*innen selbst Brit*innen of Color waren. In Deutschland können wir nur mit viel Optimismus von ähnlichen Zahlen ausgehen. Problematisch findet Karimé dies vor allem, weil es zeigt, wie wenig Interesse an glaubwürdigen Kulissen besteht, welche die Lebenswelten migrantischer und migrantisierter Kinder und Jugendlichen in ihrer Vielschichtigkeit aufgreifen.

„Vor kurzem habe ich zu einem Manuskript über ein hochsensibles Kind die Rückmeldung bekommen, die arabisch-deutsche Familienkonstellation des Kindes und die damit verknüpften Themen seien einfach ein paar Themen zu viel. Dabei sind für mich meine eigenen, auch biografisch geprägten Poetologien, meine Verbindungen zur arabischen Sprache und zum arabischen Kultur(en)raum, stets so etwas wie singende Vögel im Hintergrund all meiner Geschichten, keine hinzugefügte Themenschicht, die wieder abgekratzt werden kann.“ 

Die Komplexität migrantischer Erfahrungen als Überfrachtung des Textes und Überforderung von (weißen) Kindern? Eine solche Perspektive auf Diversität erklärt nicht nur die hohe Dichte an Stereotype reproduzierenden Werken auf dem deutschen Kinderbuchmarkt, wenn es um Kinder of Color geht, sondern auch die Barrieren, die PoCs dabei begegnen, sich als Autor*innen und Illustrator*innen zu etablieren und als Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelten zu positionieren. Gerne wird abwiegelnd die Kraft der Imagination zitiert.

Und ja, das Imaginieren Schwarzer und of-Color-Erfahrungen durch weiße Buchschaffende kann vieles sein, auch kraftvoll, empowernd, bejahend. Dennoch bleibt es eine Annäherung an die eigentliche Erfahrung basierend auf dem eigenen Wissen, aber auch der eigenen Sozialisierung und den damit verbundenen Werten und Normen, Vorurteilen und Bewertungen. Weitere Perspektiven, die auf anderen gesellschaftlichen Positionierungen basieren, würden die deutsche Kinderliteratur nachhaltig bereichern. 

Mehr Sprachen, mehr Visionen 

Für Fitsame Teferras Arbeit als Gründerin des Verlags Habte Books liefert die eigene äthiopische, migrantische Erfahrung wichtige Impulse und lässt sie Leerstellen auf dem Buchmarkt klar benennen:

„Wenn wir über Diversität und Repräsentation sprechen, sollten wir auch unterrepräsentierte Sprachen mitdenken. Bilinguale Kinderbücher mit europäischen Zweitsprachen gibt es zahlreiche.Aber ebensolche Bücher mit Sprachen wie Hausa oder Kiswahili, die von vielen afrikanischen und afrodiasporischen Menschen gesprochen werden, sind in Deutschland nahezu inexistent.“

Auch sie hatte sich mit einem Buchkonzept, das eine Schwarze Person mit Migrationserfahrung zentrierte, erst an deutsche Verlage gewandt. Nachdem sie dort auf Ablehnung stieß,  publiziert sie seit 2015 selbst mehrsprachige Kinderbücher mit und in afrikanischen Sprachen. Ihre Bildwörterbücher werden dabei nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in den USA von afrodiasporischen Communities stark nachgefragt.

„Ein Kind auf den Buchseiten vorzufinden, das ihnen äußerlich ähnelt, und dabei die Sprache zu lesen oder vorgelesen zu bekommen, die sonst oftmals nur in familiären Kontexten Wertschätzung erfährt, erleben viele Schwarze Kinder bei unseren Büchern zum allerersten Mal.“

Die Illustratorin Jasmina El Bouamraoui, die als EL BOUM die visuelle Gestaltung von NGOs und Institutionen in Deutschland aus queerer Perspektive of Color derzeit entscheidend mitgestaltet, möchte dazu beitragen, dass solche Erfahrungen keine Ausnahmen mehr bleiben. Seit 2019 gestaltet sie das Projekt DRIN (Diversität. Repräsentation. Inklusion. Normkritik.) zu diverser Kinderliteratur des Goethe-Instituts Finnland mit und fokussiert sich hierbei vor allem auf die Stärkung marginalisierter Akteur*innen auf dem Kinderbuchmarkt.

„Schon in der Recherche zum Projekt ist mir aufgefallen, dass wir als Autor*innen und Illustrator*innen of Color zusammenfinden müssen und Netzwerke brauchen, um uns gegenseitig zu stärken und von unseren unterschiedlichen Erfahrungen und Know-how zu lernen, aber auch um für mehr Sichtbarkeit zu sorgen. Wir sind hier, wir schreiben und illustrieren – wenn der Kinderbuchmarkt diverser werden will, muss die Buchbranche uns noch viel stärker miteinbeziehen.“ 

Inspiration findet EL BOUM dabei zum Beispiel beim finnischen Kollektiv von Frauen* of Color Ruskeat Tytöts, welches zusammen mit einem finnischen Verlag Nachwuchsförderung betreibt. In den UK richtet sich der erstmals 2017 verliehene FAB Prize ausschließlich an rassistisch marginalisierte Autor*innen und Illustrator*innen, die britische Literaturorganisation Speaking Volumes stellt im Projekt Breaking New Ground 100 britische Kinderbuchautor*innen und -illustrator*innen of Color vor. Ähnliche Entwicklungen wünscht EL BOUM sich auch hierzulande – und arbeitet im Rahmen von DRIN bereits an der Umsetzung solcher Visionen. 

Verlage in der Verantwortung

Viele Buchschaffende of Color setzen derzeit wichtige Impulse für die Buchbranche. Nun liegt es an ihr selbst und ihren Verlagen, Diversität als mehr zu definieren als nur einen ästhetisch-visuellen Trend und Teilhabe sowie gerechte Beteiligung in den eigenen Strukturen zu verankern. „Es ist essenziell“, erläutert Professorin Maisha Auma, „dass die Barrieren anerkannt werden, die mit Marginalisierung aufgrund von Othering einhergehen, also mit der Platzierung im Verhältnis zur hergestellten Norm und dem Verdrängen an den Rand von Narrativen, Strukturen, Gesellschaften. Hierzu braucht es konkrete Verpflichtungen und einen konkreten Plan, wie diese Barrieren sukzessiv behoben werden können.“

Dabei geht es nicht um Zensur, nicht um Einschränkung, sondern um Erweiterung. Genauer um die Erweiterung der Akteur*innengruppe in der Kinderliteratur. Damit die Vielfalt derjenigen, die Kinderbücher in Wort- und Bildsprache gestalten, die Vielfalt derer abbildet, die sie rezipieren – die der Kinder selbst. 

 


 (1) Der Hashtag #ownvoices wird seit 2015 v.a. auf Twitter verwendet, um die Perspektiven marginalisierter Autor*innen in der Kinder- und Jugendliteratur zu fördern und auf Bücher aufmerksam zu machen, in denen die marginalisierte Positionierung der Hauptprotagonist*innen die der Autor*in widerspiegelt.