Wagner Carvalho ist von Brasilien nach Deutschland gekommen, um politisches Theater zu machen. 2013 wurde er Intendant des Ballhaus Naunynstraße und damit die erste Schwarze Person, die in Deutschland ein Theaterhaus leitet. Aber was bedeutet es, als Schwarzer Mann Theater in einer Gesellschaft zu machen, die immer mehr nach rechts rückt?
Djamilia Prange de Oliveira: Wie hat deine Geschichte mit dem Theater begonnen, Wagner?
Wagner Carvalho: Als ich angefangen habe, Theater zu machen, war Brasilien noch eine Militärdiktatur. Deshalb war das Theater für mich schon immer politisch. Ich habe mit 12 Jahren in der Peripherie von Belo Horizonte angefangen, zu tanzen und zu schauspielern. Damals habe ich mich besonders für das Theater von Bertolt Brecht interessiert, weil es revolutionär ist und sozialen Wandel anstrebt. Mit diesem Gedankengut bin ich aufgewachsen. Über meine Arbeit in Belo Horizonte ist das Goethe-Institut auf mich aufmerksam geworden und hat mir ein Stipendium zum Deutschlernen angeboten. Also habe ich 1989 angefangen, einmal die Woche Deutsch zu lernen. 1991 bin ich mit dem Goethe-Institut zum ersten Mal nach Deutschland gereist, um mein Deutsch zu verbessern und um das Theater von Brecht kennenzulernen. Und im Sommer 1992 bin ich nach Deutschland umgezogen.
Was bedeutet Theater für dich?
Theater ist für mich nicht nur ein Prozess des Widerstands (resistência), es ist ein Prozess der Existenz (existência). Ich existiere im Theater. Ich nutze es als Mittel, um meine eigene Existenz in der Welt zu markieren. Hier erzähle ich meine Lebensgeschichte. Deshalb sage ich immer wieder, dass das Theater mich politisiert hat. Es hat mir das Bewusstsein meiner Identität als Schwarzer Mann in der brasilianischen Gesellschaft gegeben. Ohne Theater hätte ich dieses soziale und künstlerische Bewusstsein nicht.
Was meinst du damit?
Alles, was ich hier mache, habe ich durch das Theater in Brasilien gelernt. Zum Beispiel, eine Nähmaschine zu bedienen und meine eigenen Kostüme zu nähen. Das hat mir meine Tante Célia beigebracht, als ich 17 Jahre alt war. Brasilien hat mich auf eine Reise vorbereitet, von der ich niemals gedacht hätte, dass ich sie antreten würde. Ich habe nie daran gedacht, Belo Horizonte zu verlassen. Und dann habe ich das Stipendium des Goethe-Instituts bekommen. Als ich in Deutschland angekommen bin, habe ich in der Theaterlandschaft so viele Dinge gesehen, die ich schon aus Brasilien kannte. Deshalb bin ich selbst aktiv geworden und habe als Student der Theaterwissenschaften an der FU Berlin das Festival brasil move berlim konzipiert und danach im Jahr 2003 die erste Ausgabe des Festivals veranstaltet. Dieses Festival hat mir mehr Sichtbarkeit und Berlin mehr Diversität verschafft.
Das Ballhaus Naunynstraße hat das postmigrantische Theater ins Leben gerufen. Was bedeutet diese künstlerische Praxis?
Im postmigrantischen Theater bringen wir Geschichten auf die Bühne, die bisher noch nicht erzählt wurden – und zwar aus einer nicht-weißen Perspektive. Die meisten Geschichten sind Schwarze Geschichten. Aber wir erzählen auch nicht-schwarze Geschichten.
Welche Rolle spielt Nachwuchsförderung im postmigrantischen Theater?
Wir verstehen uns als eine Plattform für Nachwuchsförderung. Deshalb haben wir Angebote wie die akademie der autodidakten, mit der wir aktiv Menschen zwischen 16 und 27 Jahren die Möglichkeit geben, sich an Produktionen im Haus zu beteiligen. Wir ermutigen Performer*innen aber auch, selbst Neues auszuprobieren, so wie im Fall von Bishop Black. They hat hier im Haus mit dem Festival Permanente Beunruhigung 2017 deren erste künstlerische Performance produziert, gefolgt von der Solo-Arbeit Becoming My Body 2019 und der Performance Flight of the Canaries, bei der Bishop erstmals Regie geführt hat. Wir haben Vertrauen in die neuen Künstler*innen und begleiten sie in allen Schritten. Für uns hat das postmigrantische Theater diese Eigenschaft, dass es neue Geschichten zum Leben erweckt. Wir stellen einen Raum zur Verfügung, in dem neue Geschichten erzählt werden können, mit Perspektiven, die die jungen Generationen stärken.
Migration ist ja nie wirklich vorbei. Ist der Begriff postmigrantisches Theater noch passend?
Der Begriff postmigrantisches Theater wurde von der ehemaligen Ballhaus-Intendantin Shermin Langhoff ins Leben gerufen, um mehr Sichtbarkeit und Teilhabe für Zugewanderte und ihre Nachkommen zu schaffen. Bei dem Konzept von Postmigration geht es nicht darum, ob Migration vorbei ist. Es geht darum, Aufmerksamkeit für das zu schaffen, was schon seit Jahrzehnten da ist – das waren zu Zeiten Shermins vor allem die Geschichten von Deutsch-Türk*innen, Deutsch-Kurd*innen, Deutsch-Armenier*innen usw. Durch postmigrantisches Theater haben diese Menschen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft dazu gehören, die Möglichkeit, von der Rolle des Antagonisten, des Zweitrangigen, in die Rolle des Protagonisten zu wechseln und zu zeigen: Wir sind auf der Bühne und erzählen unsere Geschichten. Das bringt die Bevölkerung zum Nachdenken.
Was ist das Ziel des postmigrantischen Theaters?
Mein Wunsch ist es, dass das postmigrantische Theater irgendwann mal überflüssig ist. In dem Sinne, dass es nicht mehr notwendig sein wird, postmigrantisches Theater zu machen. Wir machen dann einfach nur Theater. Das ist das Theater, das ich für die Zukunft sehe: ein Theater, in dem man jede Geschichte mit jeder Person auf der Bühne erzählen kann – unabhängig vom Aussehen. Diese Vielfalt ist unser Ziel.
Welche Bedeutung hat dieses Ziel angesichts des politischen Rechtsrucks, den wir gerade erleben?
Es zeigt, wie wichtig es ist, eine vielfältige Gesellschaft zu haben. Die AFD möchte Menschen mit einem sogenannten “Migrationshintergrund” aus Deutschland vertreiben. Sie möchte Deutschland den Deutschen lassen, die für sie deutsch genug sind – was auch immer das bedeuten soll. Wenn wir alle zugewanderten Menschen und alle Produkte aus anderen Kulturen, die von ausländischen Arbeitskräften produziert wurden, aus der Gesellschaft entfernen – was bleibt dann noch übrig? Wir müssen nicht die zugewanderten Menschen aus unserer Gesellschaft vertreiben, sondern den Rechtsruck. Menschen, die andere Menschen vertreiben wollen, sind kriminell und müssen hinter Gitter gebracht werden. Wir wissen, was in diesem Land passiert ist und die Geschichte darf sich nicht wiederholen.
Glaubst du, dass die Geschichte sich wiederholt?
Was sich gerade wiederholt, sind die Angriffe auf marginalisierte Menschen. Aber mittlerweile sitzen die Neonazis auch wieder in den Parlamenten. Viele von ihnen sind sehr intelligent. Das bereitet mir Sorge, denn das sind gebildete Menschen, die ihre Bildung zum Schlechten nutzen. Und solange Rechtsextreme das Ende meiner Existenz wollen, kann ich keinen Dialog mit ihnen führen. Angesichts dieser politischen Entwicklungen empfinde ich unsere Arbeit als umso wichtiger, denn hier findet Widerstand statt, hier werden Geschichten von neuen Generationen erzählt, die unsere Existenz sicherstellen.
Das Ballhaus Naunynstraße wurde gerade mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet, der mit 200.000 € dotiert ist. Was bedeutet dieser Preis für dich?
Eine ganze Menge. Der Theaterpreis hat eine große symbolische Bedeutung für uns, ein kleines Theater in einem Kreuzberger Hinterhof. Er verleiht uns vor allem mehr Sichtbarkeit und das ist wichtig. Gleichzeitig ist es eine Anerkennung unserer Arbeit. 200.000 € – das ist viel Geld für uns. Damit können wir Projekte realisieren, die schon lange geplant waren, für die aber das Geld gefehlt hat – nämlich eine Werkstatt für Quereinsteigende. Insofern bedeutet der Preis sehr viel für uns, da er uns etwas ermöglicht, das wir sonst aus finanziellen Gründen hätten aufgeben müssen.
Herzlichen Glückwunsch dazu! Trotz Preis ist das Ballhaus Naunynstraße aber immer wieder unterbesetzt. Was braucht das Haus, um weiterhin zu überleben?
Das Geld ist fundamental. Aber wir brauchen auch Menschen mit Erfahrung. Das Ballhaus ist eine Plattform für Nachwuchsförderung. Menschen, die hier herkommen, probieren sich aus und werden zu Profis. Deshalb passiert es häufig, dass andere Häuser diese Menschen abwerben. Und sie gehen, weil andere Häuser ihnen mehr zahlen können. Das können wir nicht vermeiden. Deswegen müssen wir nach Möglichkeit versuchen, unseren Mitarbeitenden und Performer*innen mehr zu zahlen. Viele von ihnen sind hier nicht wegen des Geldes, denn wäre es wegen des Geldes, wären sie längst nicht mehr hier.
Idealismus ist nicht gut bezahlt …
Deswegen bin ich dem ganzen Team, von der Kasse bis zur Technik, sehr dankbar. Das, was wir auf der Bühne sehen, ist nur ein kleiner Teil vom Ganzen. Heute werden wir hier alle nicht vor Mitternacht nach Hause gehen. Auch mein Privatleben ist eingeschränkt, weil ich mich voll und ganz dem Theater widme, und ich bin froh, dass ich das kann. Aber ich frage mich immer wieder, wie lange noch? Ich habe noch keine Antwort auf diese Frage. Trotzdem würde ich gerne langsam an andere Perspektiven denken. Ständig frage ich mich: Wie mache ich, was Shermin damals mit mir gemacht hat? Ich habe eine lange Geschichte mit diesem Theater. Eine meiner ersten Performances in den 1990ern war hier. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, auf dieser Bühne zu stehen. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Haus eines Tages leiten werde.