Das "einzige Schwarze Theater Deutschlands" schafft einen Raum, in dem marginalisierte und ausgegrenzte Menschen ihre eigenen Geschichten erzählen können. Schwarze und queere Perspektiven stehen dabei im Vordergrund. 2023 wurde das Berliner Ballhaus Naunynstraße mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet. Für Intendant Wagner Carvalho ist es in Zeiten wie diesen aber vor allem eins: ein Ort des Widerstands.
Wagner Carvalho sitzt an einem weißen Schreibtisch und telefoniert. Vor ihm liegen ein Haufen Zeitungen, Dokumente, ein MacBook und eine Lesebrille; hinter ihm reihen sich schwarze Aktenordner in einem Regal aneinander. Es ist 15 Uhr an einem Freitagnachmittag im Berliner Bezirk Kreuzberg. Wagner Carvalho, der Intendant des Theaters Ballhaus Naunynstraße, steht unter Strom: Heute Abend finden gleich zwei Veranstaltungen im Haus statt. Nur noch drei Stunden bis zur Ausstellungseröffnung und fünf bis zur Uraufführung der heutigen Tanz-Performance.
Ein Intendant mit vielen Jobs
“Ich habe noch eine Million Dinge zu tun”, sagt Carvalho, während er gedanklich bei unbeglichenen Rechnungen ist. Als Intendant ist Carvalho eigentlich für die künstlerische Leitung des Hauses zuständig, aber er macht auch Überweisungen, Reparaturen, schreibt Anträge und schwingt ab und zu auch mal den Staubsauger. “Manchmal nervt es mich sogar”, gibt er zu. “Aber ich mache eben, was gemacht werden muss”. Und solange das Budget für eine Buchhaltung nicht ausreicht, macht Carvalho das Online-Banking eben selbst.
Vielleicht hängen auch deshalb an der Wand gegenüber scheinbar unendliche Reihen von Zetteln – ein Kalender für Fördermittel. Carvalho hat sie fest im Blick. Fast täglich steht eine Deadline für einen Antrag an. Das Ballhaus Naunynstraße, ein kleines Theater in einem Altbaugebäude eines Kreuzberger Hinterhofs, ist von Fördermitteln abhängig. “Es kommt vor, dass wir mal sehr viele Fördermittel bekommen und viele Projekte finanzieren können, und dann wieder fast gar keine – und dann müssen wir zusehen, wie wir klarkommen”, sagt Carvalho.
Er benutzt den brasilianischen Ausdruck “se virar”, ein Begriff, der dem Problemlösen ein gewisses Improvisationstalent zuschreibt. “Se virar” – frei übersetzt – “klarkommen” oder “einen Weg finden” ist ein typisch brasilianisches Talent. Es ist genau dieses Talent, das Carvalho aus der Peripherie der brasilianischen Metropole Belo Horizonte zum Theater und nach Berlin brachte. “Alles, was ich hier mache, hat mit dem zu tun, was ich in Brasilien gelernt habe”, sagt er.
Von Brecht zum Ballhaus, von Belo Horizonte nach Berlin
Als Carvalho beginnt, Theater zu machen, ist Brasilien noch eine Militärdiktatur. In dieser Zeit, 1964 bis 1985, wurde jeder Widerstand brutal unterdrückt. Carvalho ist Anfang zwanzig, als ihm klar wird, dass Theater politisch ist. Zu dieser Erkenntnis führt ihn das Theater von Bertolt Brecht, das gesellschaftliche Hierarchien hinterfragt und die Perspektiven der Marginalisierten sichtbar macht. “Mit diesem Gedankengut bin ich aufgewachsen”, sagt Carvalho.
Man könnte sagen, es ist das gleiche Gedankengut, das auch das Ballhaus Naunynstraße prägt. Denn so wie Brechts Theater sich einst den gesellschaftlichen Wandel zur Aufgabe machte, so ist auch das Ballhaus Naunynstraße gewissermaßen ein Mikrokosmos, in dem die Geschichten von marginalisierten Menschen eine Bühne bekommen. Postmigrantisches Theater – so nennt sich die künstlerische Praxis, für die das Ballhaus Naunynstraße heute steht.
Das einzige Schwarze Theater Deutschlands
Gekürt wurde sie von der ehemaligen Intendantin Shermin Langhoff, die das Ballhaus 2008 zum postmigrantischen Theater erklärte. Damals holte Langhoff vor allem die Geschichten von zugewanderten Menschen und deren Nachkommen auf die Bühne. Seit Carvalho 2013 die Leitung des Hauses übernommen hat, werden hier vor allem Schwarze und queere Perspektiven gezeigt.
Die Tageszeitung taz nannte es deshalb 2019 das “einzige Schwarze Theater Deutschlands”. Carvalho und die Afrodeutsche Julia Wissert, die seit 2020 das Theater Dortmund leitet, sind bis heute die einzigen Schwarzen Intendant*innen in Deutschlands Theatern. Ein Blick auf eine Übersichtskarte von Theaterintendant*innen von ZEIT Magazin macht deutlich: In unserer Theaterlandschaft mangelt es an Diversität. Die überwiegende Mehrheit der Intendant*innen in Deutschland ist nach wie vor weiß und männlich.
Deshalb sind Orte wie das Ballhaus Naunynstraße oder das Theater Dortmund nicht nur Theater, sondern Orte des Widerstands. Passend dazu trägt Carvalho ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift “Black Berlin Black – Widerstand” – so heißt auch ein jährlich im Ballhaus Naunynstraße stattfindendes Theaterfestival. “Für mich ist das Theater ein Ort der Existenz und des Widerstands – resistência e existência”, sagt Carvalho. “Das Theater hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.”
Ein Labor für Schwarze Künstler*innen
16 Uhr. Noch vier Stunden bis zur Uraufführung von Fernanda Costas Performance “Caminho das Águas – unaufhaltsames Fließen”. Zeit für einen Blick hinter die Kulissen. Vom Flur aus sind laute Beats hörbar. Auf der Bühne wärmen sich die Tänzerinnen bereits auf, pastellfarbene Wasserkrüge und weiße Tücher schmücken das Set. Das Datum der Uraufführung, der 2. Februar, ist kein Zufall: Es ist der Feiertag der afrobrasilianischen Göttin Iemanjá, die Mutter der Meere.
An diesem Feiertag gibt die afrobrasilianische Tänzerin Fernanda Costa ihr choreografisches Debüt. So wie Costa haben auch viele andere Schwarze Künstler*innen im Ballhaus Naunynstraße die Möglichkeit bekommen, Neues auszuprobieren. Das Ballhaus ist eine Plattform für Nachwuchsförderung, in der junge Künstler*innen auch ohne viel Erfahrung eine Bühne bekommen. Thelma Buabeng, Bishop Black oder Magda Korsinsky sind nur einige der Künstler*innen, die hier ihre Karriere begonnen haben.
“Egal, wer an einem Stück mitarbeitet – ob Performer*innen, Bühne, Kostüm, oder Technik – die müssen nicht perfekt ausgebildet sein. So bin ich ja auch selbst hier reingekommen, frisch aus dem Studium”, sagt die Choreografin Magda Korsinsky, die heute auch für die Premiere gekommen ist.
Korsinsky verbindet eine lange Geschichte mit dem Ballhaus Naunynstraße. Als sie vor über zehn Jahren mitbekommt, dass eine Schwarze Person in Deutschland ein Theaterhaus leitet, ist sie begeistert und sucht den Kontakt zu Carvalho. Schon ein Jahr später feiert ihre erste Performance, Gazes that matter, Premiere im Ballhaus. Es folgen viele weitere Performances, wie die Erfolgsproduktion Stricken oder Patterns. Mittlerweile ist Korsinsky ein fester Bestandteil der Ballhaus-Familie.
Und da sie selbst einst als frische Uni-Absolventin zum Ballhaus kam, weiß Korsinsky, wie wichtig es ist, erstmal eine Chance zu bekommen. “Deswegen habe ich für meine Produktionen Open Calls etabliert. Dann können interessierte Personen einfach kommen und wir machen einen Auswahlworkshop”, erklärt sie.
Mit niedrigschwelligen Formaten hebt sich das Ballhaus Naunynstraße von anderen Institutionen ab, indem es gezielt den migrantischen Nachwuchs anspricht. So auch in der 2007 von Shermin Langhoff ins Leben gerufenen akademie der autodidakten, die insbesondere Schwarzen, queeren und migrantischen Menschen zwischen 16 und 27 Jahren Möglichkeiten zur Teilnahme an Produktionen im Haus bietet.
Ausgezeichnet im Umbruch
“Dass niedrigschwellige Zugänge eine Chance sind, sieht man auch am Theaterpreis”, sagt Korsinsky. “Denn wenn man mit jungen Menschen arbeitet, oder mit Menschen, die einen Quereinstieg machen, kommen auch andere Ideen rein.” Für dieses Engagement und die Diversität, für die das Ballhaus Naunynstraße steht, wurde das Haus gerade mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet, der mit 200.000 € dotiert ist.
“Diese Auszeichnung zeigt, wie wichtig eine diverse Gesellschaft ist”, sagt Carvalho. Der Preis bedeutet aber auch deshalb so viel für Carvalho, weil er in einer Zeit kommt, in der Rechtsradikale zugewanderte und nicht-weiße Menschen aus Deutschland vertreiben wollen. “Es ist wichtig, dass es einen Ort wie diesen gibt, in dem Menschen, die über Jahrhunderte nie die Hauptrolle spielen durften, ihre eigenen Geschichten erzählen können”, sagt er.
18 Uhr. Carvalho sieht man jetzt nur noch mit Bauchtasche und genoppten Handschuhen. Wir gehen in den Keller, wo sich die hauseigene Bar und ein Empfangsraum befinden. Mit Handschuhen gewappnet packt Carvalho an. Er verstellt Bänke und organisiert den Raum neu. Bevor die ersten Gäste kommen, stößt das Team miteinander an. Mehr als 30 Personen sind heute hier, um die Performance auf die Bühne zu bringen. Jetzt haben sie einen Moment, sich zu feiern, bevor es losgeht. Carvalho zieht seine Handschuhe aus und beginnt, Sekt- und Orangensaftgläser zu füllen.
Das Licht im Raum wird gedimmt. Die ersten Gäste trudeln ein, die Premiere ist ausverkauft. Die Diversität des Hauses spiegelt sich auch in den Besucher*innen wider: Menschen verschiedener Altersgruppen und Herkünfte kommen hier zusammen. Um Punkt 20 Uhr werden die Gäste persönlich von Carvalho abgeholt, auf Englisch begrüßt und in den Saal gebracht.
Odoyá Iemanjá
Anders als im klassischen Theater, wo die Blickrichtung vorgegeben und die Sitze fest sind, ist die Bühne im Ballhaus Naunynstraße jedes Mal anders. Diesmal füllen weiße Tücher den Raum, von schwarzen Stühlen blicken die Zuschauenden auf die Bühne herab, als säßen sie über dem Meeresspiegel. Blaue Lichter und Meeresrauschen lassen keinen Zweifel daran, wo das Stück spielt: Am Meer, dem Ort der Göttin Iemanjá. Sie gilt in den afrobrasilianischen Religionen Candomblé und Umbanda als Königin der Meere und Mutter aller Götter, symbolisiert Fruchtbarkeit und Überfluss.
Drei Tänzerinnen in weißen Kleidern treiben im Meer, um sie herum sind pastellfarbene Krüge, mit denen sie Wasser schöpfen. Im Spiegelbild des Wassers suchen sie nach neuen, selbstbestimmten Bildern für ihre Identitäten als Schwarze Frauen. Die Präsenz der Frauen und ihre Körper auf dieser Bühne sind politisch, denn in dieser Performance sind sie mehr als Tänzerinnen. Mit ihren Körpern erzählen sie Schwarze, afrobrasilianische Geschichten.
Nach der Performance kommt Carvalho, der selbst seit seiner Kindheit die afrobrasilianische Religion Candomblé praktiziert, auf die Bühne und sagt: “Today I’d like to say: Odoyá Iemanjá”. Mit den traditionellen Grußworten widmet Carvalho der Meeresgöttin Iemanjá diese Performance und bringt ein kleines Stück Brasilien nach Berlin.
21 Uhr. Die Anspannung und Hektik des Tages sind nach der Performance abgeklungen. Heiteres Gerede, brasilianische Musik und das Geräusch klingender Gläser füllen die Bar, wo Gäste und Mitwirkende den Abend ausklingen lassen. Die Performer*innen bedanken sich an dieser Stelle nochmal persönlich, Carvalho verteilt Blumensträuße und eröffnet das Buffet.
Es dauert nicht lange, bis die ersten tanzen. Carvalho ist zufrieden, auch wenn die Reaktionen aus dem Publikum teilweise gemischt ausfallen. Doch das ist für ihn nicht so wichtig, denn er hat erneut einen Raum für Schwarze Nachwuchskünstler*innen geschaffen, in dem sie ihre eigenen Geschichten erzählen können. Und er wünscht sich, dass Räume wie dieser als Orte des Widerstands für Schwarze Kunstschaffende erhalten bleiben.
Aber noch mehr als das, wünscht Carvalho sich, dass sich das Ballhaus Naunynstraße irgendwann selbst überflüssig macht. “In dem Sinne, dass es nicht mehr notwendig ist, postmigrantisches Theater zu machen, weil jede Person jede Geschichte erzählen und jede Rolle spielen kann – unabhängig vom äußerlichen Erscheinungsbild.”
Wagner Carvalho, geboren 1966 in Belo Horizonte, Brasilien, ist ausgebildeter Tänzer, Schauspieler, Sprecherzieher und seit 2013 Intendant des Ballhaus Naunynstraße in Berlin.