Für eine vielfältige Erinnerungskultur

Die Debatte nach dem 7. Oktober verstellt den Blick auf die langen Linien des deutschen Antisemitismus und seine enge Verbindung mit Rassismus. Auch der Holocaust ist ein komplexes Gewaltgeschehen mit antisemitischen und rassistischen Praktiken des Massenmordes. Die Anerkennung extremer kolonialer Gewalt nimmt ihm nichts von seinem Schrecken.

Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas
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Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Rom*nja und Sinti*zze Europas im Berliner Tiergarten

Der Terroranschlag der Hamas und der damit neu aufgeflammte Krieg im Nahen Osten beeinflusst auch die Auseinandersetzung in Deutschland, wie Antisemitismus bekämpft und wie an den Holocaust und Nationalsozialismus erinnert werden soll. Das Entsetzen über die Hamas-Gewalt, die Sorge um das Leben der Geiseln, die Trauer um die Toten auf israelischer wie auf palästinensischer Seite und das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza betreffen nicht nur Jüdinnen und Juden und Menschen mit palästinensischen Wurzeln in Deutschland, sondern ebenso nicht-jüdische und nicht-arabische Deutsche. Krieg spaltet und entfacht Hass, aber auf allen Seiten finden sich auch Empathie für alle zivilen Opfer und das Bemühen um ein Ende der Gewalt.

Es liegt nahe, dass die Gewalt im Nahen Osten die Nachrichten hierzulande beherrscht und die Debatte um Antisemitismus sich derzeit vor allem um die Haltung zu Israel dreht. Doch dieser Blickwinkel verdeckt, dass in Deutschland wie auch überall in Europa eine massive und nachhaltige Verschiebung des politischen Gewichts nach rechts zu beobachten ist, mit der Hass gegen Migrant:innen, insbesondere Muslim:innen, gegen Frauen und queere Menschen ebenso wie eine Diskreditierung des Holocaust-Gedenkens, Antisemitismus und Rassismus verbunden sind. Antisemitismus wird nicht „importiert“, wie von rechter Seite behauptet wird, sondern existiert seit langem in der Mitte der deutschen Gesellschaft. 

Der Terroranschlag von Hanau 2020, die Morde des NSU zwischen 2000 und 2006 oder die tödlichen Brandanschläge auf Wohnhäuser von Migrant:innen in Ost- wie Westdeutschland zeigen ebenso wie der antisemitische und rassistische Anschlag in Halle 2019 das Ausmaß rechtsterroristischer Gewalt in Deutschland. Die vom Redaktionskollektiv Correctiv aufgedeckte heimliche Runde in einem Potsdamer Hotel im November 2023, in der Rechtsradikale, unter anderem aus AfD und Werteunion, über die Zwangs-Deportation von Migrant:innen, selbst mit deutscher Staatsbürgerschaft, nach Nordafrika fabulierten, belegt wiederum, in welchem Ausmaß hierzulande mittlerweile die Gewaltphantasien wuchern. Wer daher vom Antisemitismus hierzulande spricht, darf von Rassismus nicht schweigen, denn diese Phänomene sind eng verbunden.

Der Holocaust als komplexes Gewaltgeschehen

Dem Zusammenhang von Antisemitismus und Rassismus, wobei das eine nicht im anderen aufgeht, entspricht auch die historische Referenz der nationalsozialistischen Massenverbrechen, die begründen, warum Deutschland eine besondere Rolle in der Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus zukommt. 

Den Kern des Holocaust bildet der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Zugleich setzte schon mit Kriegsbeginn auch der systematische rassistische, mit Kohlenmonoxid begangene Massenmord an kranken und behinderten Menschen ein, der weit über 100.000 Menschen das Leben kostete. Als die Unruhe in der deutschen Bevölkerung über das Schicksal von Familienangehörigen zunahm, beendete Hitler im Sommer 1941 nach außen hin die „Euthanasie“-Aktion. Die Techniker des Massenmordes mit Gas wurden nach Polen versetzt, um dort die Vernichtungsstätten in Bełżec, Sobibór und Treblinka aufzubauen. Nicht die Gaskammern dort waren präzedenzlos, sondern diejenigen in den Tötungsanstalten von Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar, die bereits 1940 in Gasmordanstalten verwandelt wurden.1

Der Krieg um „Lebensraum im Osten“ entfesselte die genozidale Gewalt des deutschen Siedlungskolonialismus. Die annektierten westpolnischen Gebiete sollten „germanisiert“, d.h. die polnische und jüdische Bevölkerung von dort vertrieben werden. Zudem organisierten SS und Polizei im Frühjahr 1940 die Deportation von Rom:nja und Sinti:zze aus dem Deutschen Reich ins besetzte Polen. Polnische Jüdinnen und Juden wurden seit 1939 in Ghettos gesperrt, die in riesige Zwangsarbeitsstätten umgewandelt wurden, weil sie sich selbst finanzieren sollten. Alle diejenigen, die den Deutschen als „arbeitsunfähig“, als „überzählige Esser“ erschienen, vor allem kranke, alte Menschen und Kinder, wurden „selektiert“ und ermordet. 

Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, der im Juni 1941 begann, richtete sich in besonderer Weise und mit besonderer Absicht gegen die Zivilbevölkerung. Kalt konstatierte eine Staatssekretärsbesprechung in Berlin bereits im Mai, dass „zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird“2.  Großstädte wie Leningrad sollten ausgehungert werden; die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden ohne ausreichende Versorgung ihrem Schicksal überlassen. Über zwei Millionen von ihnen starben bis zum Frühjahr 1942. 

Der rassistische Vernichtungswille traf ebenso Rom:nja und Sinti:zze, die wie die jüdischen Opfer bis ins letzte Glied verfolgt und getötet wurden. Nach dem Massenmord an den ungarischen Jüdinnen und Juden in Auschwitz-Birkenau von Mai bis Juli 1944 wurde auch das „Familienlager“ mit Rom:nja und Sinti:zze aufgelöst und die letzten Insassen, Männer, Frauen, Kinder, in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet.3 Es gibt zu Recht wegen der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden eine besondere Verantwortung Deutschlands für den Schutz jüdischer Menschen, gleiches sollte für die Rom:nja und Sinti:zze in Europa gelten.

Resümiert man die Forschung der vergangenen Jahrzehnte, dann bildet der Begriff der „Singularität“, allein bezogen auf den Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, dieses komplexe, miteinander verflochtene, sich wechselseitig radikalisierende Gewaltgeschehen erkennbar nicht mehr ab. Im Zentrum der nationalsozialistischen Politik einer rassistischen Neuordnung Europas stand die Vernichtung des aus antisemitischer Perspektive gefährlichsten Feindes: der Juden. Dazu gehörte jedoch ebenso die restlose Vernichtung anderer im rassistischen Sinn als „gefährlich“, „minderwertig“ definierter Gruppen, einschließlich der Vorstellung eines rassisch reinen deutschen „Volkskörpers“, der sich der „Ballastexistenzen“ zu entledigen habe.

Vielfältige Erinnerungskultur

Es waren nach 1945 in Westdeutschland – auf die anders gelagerte Erinnerungskultur in der ehemaligen DDR wird hier nicht eingegangen – in erster Linie zivilgesellschaftliche Initiativen − die Verbände der ehemaligen Häftlinge der Konzentrationslager und die neu gegründeten jüdischen Gemeinden − die an die Opfer und die Stätten der Massenverbrechen des NS-Regimes erinnerten und zum öffentlichen Gedenken aufriefen. Das passierte oftmals gegen den erbitterten Widerstand lokaler Honoratioren und Politiker. So traten im April 1980 zwölf Sinti in der KZ-Gedenkstätte Dachau in den Hungerstreik, um auf die rassistische Verfolgung in der NS-Zeit und die Diskriminierung auch nach 1945 aufmerksam zu machen. In Hamburg bedurfte es großen öffentlichen Drucks seitens der Überlebendenverbände und einer Bürger:inneninitiative, damit der Senat in den 1990er Jahren den Weg freimachte, um auf dem Gelände des ehemaligen KZ Neuengamme eine Gedenkstätte zu errichten. Mit dem Einigungsvertrag 1990 übernahm die Bundesrepublik Deutschland, nicht zuletzt auf Drängen der Sowjetunion, die Verpflichtung, für die „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten“ der ehemaligen DDR zu sorgen, was im geeinten Deutschland nun auch die staatliche Förderung der NS-Gedenkstätten im Westen nach sich zog. Öffentliche Erinnerung geriet zur staatlichen Aufgabe, ohne dass deswegen das zivilgesellschaftliche Engagement weniger wichtig geworden wäre wie beispielsweise das Denkmal für verfolgte Homosexuelle in Berlin zeigt. Was für die Gedenkstätten eine Sicherung ihrer kontinuierlichen Arbeit bedeutete, hieß aber zugleich, dass nun der Staat die Erinnerungspolitik lenkte. 

Heute sind die NS-Gedenkstätten zu staatlichen Einrichtungen der Erinnerungskultur geworden, die mitunter in Gefahr stehen, ihre Tätigkeit als hoheitliche Aufgabe zu verstehen, und zu vergessen drohen, dass sie ähnlich wie gegenwärtige Initiativen zur Dekolonisierung selbst aus zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen entstanden sind. Der Umgang mit der Geschichte bedeutet stets gesellschaftliche Konflikte, die sich verändern, wie sich die Gesellschaft verändert. Und auch gegenwärtig sind es Initiativen aus der Gesellschaft, die Veränderungen in der Erinnerungskultur einfordern.

Heute prägen viel mehr Menschen mit migrantischem Familienhintergrund die deutsche Gesellschaft und erheben zu Recht Anspruch darauf, mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen zu werden. Zudem ist Deutschland Teil einer globalisierten Welt, in der Menschen und Staaten des Globalen Südens von Europa Respekt, Anerkennung und Entschädigung verlangen. Vergangenheitsbezüge werden neu ausgehandelt. Aus einem nichteuropäischen Blickwinkel besitzt der Topos vom „Zivilisationsbruch“, um die Zäsur des Holocaust in der Geschichte zu markieren, eine eigene Dimension. Das massenmörderische Handeln der europäischen Kolonisatoren, die Landstriche verwüsteten, Städte niederbrannten, ganze Zivilisationen in Nord- und Südamerika, in Afrika und Asien auslöschten, indigene Völker vollständig vernichteten, bedeutete für die Opfer ebenso die Erfahrung eines unüberbrückbaren Bruchs. 
Nichts verliert der Holocaust von seinem Schrecken, wenn er in den Kontext einer europäischen und globalen Geschichte der Gewalt gestellt wird. Das „kognitive Entsetzen“, wie es Dan Diner treffend genannt hat, ist angesichts von Bełżec, Sobibór, Treblinka, Auschwitz, angesichts der Massenerschießungen in den besetzten Gebieten stets gegeben. Es steht nun an, gleichermaßen die Schreckenszeugnisse und das Ausmaß europäischer Massengewalt in der nichteuropäischen Welt zur Kenntnis zu nehmen. Wissen wir denn schon alles über diese Gewalt? Zum Beispiel über den so genannten „Maji-Maji-Aufstand“ im von der Kolonialmacht Deutschland besetzten Ostafrika, bei dessen brutalen Niederschlagung zwischen 1905 und 1907 geschätzt bis zu 300.000 Menschen den Tod fanden? Bevor wir vorschnelle Urteile über den Charakter der verschiedenen Massengewalt fällen, sollten wir erst einmal hinschauen, uns Wissen aneignen, vor allem den Stimmen der Opfer und ihrer Nachfahren zuhören – und uns bewusst machen, dass bis heute die Verwüstungen und Massenmorde der Kolonialgewalt nicht entschädigt wurden, ja, ein ganzer Kontinent wie Afrika unter den nachwirkenden Strukturen des Kolonialismus immer noch Gewalt, Vertreibung und Not erleidet.

Gerade vor dem Hintergrund der intensiven Debatten seit dem 7. Oktober gilt es, sich nicht von Diskursen der Opferkonkurrenz und Opferhierarchie einfangen zu lassen und Massenverbrechen gegeneinander aufzurechnen. Anstatt Erinnerungskulturen in einen Gegensatz zu stellen, wie es derzeit in Deutschland mit dem Gedenken an NS- und koloniale Massenverbrechen droht, wäre es vielmehr wichtig, die historischen Verflechtungen und Bezüge dieser Gewaltgeschehen, ebenso die ideologischen Zusammenhänge von Rassismus und Antisemitismus, zu erkennen, ohne sie gleichzusetzen oder ineinander aufgehen zu lassen. Und nicht zuletzt sollten wir ernst nehmen, was die Überlebenden des Holocaust uns Nachgeborenen ausdrücklich aufgetragen haben: überall für Menschenrechte, für Gleichheit und Freiheit von Menschen einzutreten.
 

Footnotes
  • 1

    Vgl. Jürgen Osterloh, Jan Erik Schulte (Hg.), „Euthanasie“ und Holocaust. Kontinuitäten, Kausalitäten, Parallelitäten, Paderborn 2021.

  • 2

    Aktennotiz über Ergebnis der heutigen Besprechung mit den Staatssekretären über Barbarossa, 2.5.1941, in: Internationaler Militärgerichtshof, Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Band 31, Nürnberg 1947, S. 84 (2718-PS).

  • 3

    Einen umfassenden Überblick über die Verfolgung und Ermordung der Sinti:ze und Rom:nja während des Nationalsozialismus bietet die neuerschienene digitale Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa: https://encyclopaedia-gsr.eu/