Onur Özata war Nebenklagevertreter unter anderem im Stutthof-Prozess, 2024, im Verfahren gegen den Attentäter von Halle, 2020 und gegen die Täter*innen des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU, 2018. Esther Dischereit hat mit ihm über die Verfahren und die Rolle von den Perspektiven von Opfern und Betroffenen gesprochen.
Stutthof, Halle, NSU – Sie waren in diesen Verfahren Nebenklagevertreter. Die Revision im Strafverfahren gegen eine Sekretärin im KZ Stutthof ist abgewiesen und damit das Itzehoer Urteil bestätigt worden.
Der Bundesgerichtshof hat das Urteil gegen Irmgard Furchner zu Recht bestätigt. Ich habe Ende Juli an der Revisionshauptverhandlung in Leipzig teilgenommen und in meinem Plädoyer auch darauf hingewiesen, dass nur ein winzig kleiner Teil der NS-Täterinnen und Täter überhaupt vor ein Gericht gestellt worden ist. Dieses Versagen der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz hat dazu geführt, dass fast alle anderen davongekommen sind und in der Bundesrepublik weitermachen konnten – z.B. als Richter, Beamte oder Ärzte. So als wäre nie etwas gewesen.
Den Blick auf die Vergangenheit wollen auch heute gewisse gesellschaftliche und politische Kräfte in unserem Land trüben und verwischen. Sie wollen das Menschheitsverbrechen der Shoah vergessen machen. Das unausgesprochene Kalkül dabei: Wer die alten Verbrechen aus der Erinnerung tilgt, ebnet neuen Verbrechen den Weg.
Es kommt nicht von Ungefähr, dass der rechtsextreme Attentäter von Halle die Shoah leugnete. Seinen Versuch an Jom Kippur vor fünf Jahren in die dortige Synagoge einzudringen und seinen Angriff auf ein Döner-Restaurant bezahlten zwei Menschen mit dem Leben. Ich konnte als Anwalt zweier Überlebender selbst mitverfolgen, wie der Attentäter bis zuletzt im Gerichtssaal seine rassistischen und menschenverachtenden Thesen verbreitete und den Juden unterstellte, dass sie mit Hilfe der Muslime die weiße Rasse ausrotten würden. Auschwitz kann in dieser Erzählung keinen Platz haben.
Sowohl Stutthof als auch Halle gründen auf einem gemeinsamen ideologischen Bezug.
Im politischen Raum gibt es diesen Widerspruch, dass sich einerseits die politische Rechte aus dem Geruch der NS-Lastigkeit zu befreien versucht, andererseits reaktiviert sie diese Bezüge andauernd, zum Beispiel in der „Vogelschiss-Debatte“ wie sie Alexander Gauland vertrat, eine Nähe, die von Björn Höcke ganz bewusst immer wieder aufgerufen wird. Also einerseits wird mit Nachdruck versucht, sich vom Stigma der NS-Nähe zu befreien, aber andererseits wird diese Nähe immer wieder gesucht. Rassismus und Antisemitismus gehen einher mit einer Ablehnung und konstanten Verächtlichmachung der Demokratie, mit der Ablehnung von Minderheiten und Minderheitenrechten und der Glorifizierung einer Führerfigur. Stattdessen wird die Vorstellung einer möglichen gesellschaftlichen Homogenität genährt. Diese Konzepte beziehen sich auf eine Blut- und Boden-Ideologie.
Warum werden Verfahren wegen Morden, die während der Nazi-Diktatur verübt wurden, jetzt geführt? Mit welchen Ergebnissen? Ich erinnere mich an eine Bemerkung des Schriftstellers Doron Rabinovici, dessen Mutter im KZ Stutthof gewesen war und den Beginn des Verfahrens gegen den KZ Wachmann Bruno D. nicht mehr erlebte. Rabinovici überlegt, was sie gesagt hätte, wenn sie von dem Urteil noch erfahren hätte, das im Jahr 2020 auf zwei Jahre Jugendstrafe „auf Bewährung“ gelautet hatte. Rabonovici mutmaßt, sie hätte sich wohl sarkastisch geäußert und die Frage gestellt: „Was soll ‚auf Bewährung‘ heißen? Der Angeklagte geht frei, so er im nächsten Tausendjährigen Reich nicht zum Täter wird?“
Irmgard Furchner war gerade erst 18 Jahre alt geworden, als sie ihre Stelle im KZ Stutthof als Stenotypistin des Lagerkommandanten antrat. Man muss sich immer vor Augen halten, dass sie noch sehr jung war. Für sie kam daher das Jugendstrafrecht zur Anwendung. Es ging der überwiegenden Zahl der Nebenklä¬gerinnen nicht um Rache oder um die Höhe des Strafmaßes. Es ging ihnen viel¬mehr darum, dass dieses Verfahren überhaupt vor einem deut¬schen Gericht unter Ausschöpfung aller rechtsstaatlichen Mittel stattfand. Die Nebenklägerinnen wollten durch ihre Teilnahme zur Aufklärung der Taten beitragen, Zeugnis ablegen und nicht vergessen werden. Der Holocaustüberlebende Elie Wiesel sagte: „Die Toten zu vergessen, würde bedeuten, sie ein zwei¬tes Mal umzubringen.“ Diese Verfahren sind wichtig, wenn man bedenkt, welche schrägen Vorstellungen noch immer in den Köpfen zu den Arbeitsbedingungen in den Konzentrationslagern vorherrschen. Die SS-Leute waren freiwillig in diesen Lagern tätig und sie konnten sich jederzeit versetzen lassen. Es ist kein Fall bekannt, wonach es bei Versetzungswünschen zu Repressalien gekommen wäre. Diejenigen, die hier sein wollten, wussten, was dort vor sich ging. Das gleiche galt für Irmgard Furchner. Sie war wissentlich und willentlich Teil der Mordmaschinerie und hierfür wurde sie nun auch letztinstanzlich verurteilt.
In Bezug auf Halle sprach ich in der Nachbetrachtung des Prozesses, der im Jahr 2020 stattgefunden hatte, von mangelndem Ermittlungseifer, der die Mit-Täter*innen unerkannt und ungestraft davonkommen lässt.
Wenn wir zurück zum Halle-Prozess gehen, stellt sich sicher die Frage: Gab es Mittäter? Gab es Unterstützer? Es lässt sich beobachten, dass es bei rechtsmotivierten Straftaten häufig voreilig heißt, diese seien von isolierten Einzeltätern begangen worden. Rechts motivierte Mord und Gewalttäter greifen jedoch vielfach, in der analogen wie in der digitalen Welt, auf bestehende Bestätigungs- und Unterstützungsstrukturen von Gleichgesinnten zurück. Der Attentäter von Halle hat sich auch online in der Gaming-Szene herumgetrieben. Die Ermittlungen in diesem Bereich stellten sich jedoch als durchaus defizitär dar. Generell vermittelten die Beamten, die die Online-Aktivitäten untersuchen sollten, im Prozess nicht den Eindruck, viel von diesen Dingen zu verstehen. Man darf sich hier keinen Illusionen hingeben. Eine nachlässige Aufklärung kann weitere Ermittlungschancen vereiteln. Hierdurch verhinderte Erkenntnisgewinne laufen in letzter Konsequenz Gefahr, die effektive Bekämpfung von Kriminalität oder von rechten Strukturen zu konterkarieren.
Unabhängig davon ist positiv hervorzuheben, wie viel Raum den Geschädigten im Verfahren eingeräumt wurde, ihre Wahrnehmungen, ihr Empfinden und die Tatfolgen im Prozess zu artikulieren. Ganz und gar ungewöhnlich war es z.B., dass Ezra Waxman, der als Besucher des Gottesdienstes in der Synagoge von Halle den Anschlag überlebte, den Täter selbst befragte. Seine Fragen und seine Zielrichtung unterschieden sich naturgemäß von der eines Juristen. Er hat auf diese Weise Antworten erhalten, die weder das Gericht noch die Nebenklage in ihrer Rolle erhalten haben. Das war sehr sinnvoll; ein Akt der Selbstermächtigung, der zu verfahrensrelevanten Aussagen durch den Täter führte. Der gesamte Umgang mit den Überlebenden seitens der Vorsitzenden Richterin am OLG Naumburg war vorbildlich.
Dieser Umstand hat unter anderem einem meiner Mandanten, Ismet Tekin, dabei geholfen, mit der Tat und den Folgen besser umzugehen. Zunächst hatte er überhaupt schon damit zu kämpfen, als Nebenkläger zum Verfahren zugelassen zu werden. Ismet Tekin, der in dem Imbiss „Kiez-Döner“ arbeitete, suchte vor den neben ihm einschlagenden Projektilen hinter einem geparkten Fahrzeug Schutz. Die Bundesanwaltschaft bewertete die in Tötungsabsicht abgegebenen Schüsse aus einer streuenden Schrotflinte als Mordversuch an den dort eingesetzten Polizeibeamten und -beamtinnen, nicht jedoch an Ismet Tekin, obwohl dieser sich circa 40 Meter näher am Mündungsfeuer des Attentäters befand als die mit Schutzwesten ausgerüsteten Polizeibeamten und -beamtinnen. Überdies hätte seine Ermordung dem Tatplan des Attentäters entsprochen, der es sich nach dem gescheiterten Versuch, in die Synagoge einzudringen, zum Ziel setzte, so viele Muslime wie möglich zu töten. Das OLG Naumburg ließ Ismet Tekin auf seinen eigenen Antrag hin, jedoch gegen den Willen der Bundesanwaltschaft, als Nebenkläger zu, verurteilte den Attentäter im Ergebnis allerdings nicht wegen eines solchen versuchten Mordes. Der Senat folgte in seiner Urteilsbegründung der obigen Auffassung der Bundesanwaltschaft. Hiergegen hat Ismet Tekin Revision eingelegt, welche allerdings zurückgewiesen wurde.
Eine Gerichtsentscheidung kann so oder so ausfallen. Das ist Teil des Rechtsstaats. Dass der Staat aber Opfer und Überlebende terroristischer Akte im Stich lässt, hat meine Mandanten schwer getroffen. Der Imbiss war ein Tatort, dort wurde ein Mensch ermordet. Das Attentat hatte also auch geschäftsschädigende Auswirkungen. Eine entsprechende Unterstützung von staatlicher Seite blieb aus. Es waren Teile der Zivilgesellschaft, die meinen Mandanten unter die Arme griffen.
Die Tat war böse. Die Morde an Jana S. und Kevin L. waren niederträchtig und grausam. Demgegenüber war der Eindruck, den der Mörder im Gerichtssaal hinterließ, frappierend gegensätzlich. Auf der Anklagebank nahm eine nahezu kindlich wirkende blasse Figur Platz, welche noch bis vor kurzem im eigenen Kinderzimmer hauste. Ein rassistischer Mörder, der aber auch gleichzeitig einräumte, dass er, wäre er in einer Beziehung zu einer Frau gewesen, vermutlich nicht zum Täter geworden wäre. Das ist so banal, dass einem unweigerlich Hannah Arendts Text über die Banalität des Bösen in den Sinn kommen muss.
Was heißt: das Mindset ändern?
Der Strafprozess ist kein Selbstzweck. Er dient der Ermittlung der materiellen Wahrheit und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Dabei muss es immer auch darum gehen, wie die Opfer vor Retraumatisierungen geschützt werden können. Dem kann zum Beispiel dann entgegengewirkt werden, wenn die Betroffenenperspektive nicht außer Acht gelassen wird. Das Erleben und Empfinden der Opfer sowie die vielfältigen Auswirkungen der Tat werden jedoch häufig nicht in hinreichender Weise thematisiert. In solchen Fällen werden einer angemessenen Einbeziehung von Opfererfahrungen prozessökonomische Erwägungen bei Durchführung der Hauptverhandlung gegenübergestellt. Dass Opfererfahrungen aber von wesentlicher Bedeutung für die Wahrheitsfindung sind: für Betroffene, aber auch für den gesellschaftlichen Diskurs und Kontext, in dem Strafverfahren stattfinden, – das hat man sowohl im Stutthof- als auch im Halle-Verfahren gesehen. Nicht die formellen Möglichkeiten müssen hier verändert werden, – es gibt sie –, sondern das Mindset muss ein anderes werden.