Der 9. Oktober – wie jetzt darüber sprechen?

Zeugnisse

Zum fünften Jahrestag des Anschlags in Halle am 9. Oktober 2019 hat Esther Dischereit Erinnerungen von Synagogenbesucher*innen zusammengetragen. Sie erzählen auch davon, wie der 7. Oktober 2023 die Wunden von Halle wieder aufriss.

Auf einer Kundgebung zum Gedenken an die Opfer des Anschlags von Halle 2019 ist ein großes Transparent mit folgender Aufschrift zu sehen: May Memories Make Us Resilient.
Teaser Bild Untertitel
Gedenken an den Anschlag in Halle, aufgenommen im Oktober 2023

Valentin Velvel Lutset, überlebte den Anschlag auf die Synagoge 

Portrait von Valentin Velvel Lutset
Valentin Velvel Lutset

Alles, was für mich mit dem Thema zu tun hat, hat mit dem Aspekt des Hörens zu tun! Wenn ich an diesen Tag zurückdenke, tauchen … die Bilder und Klänge auf, die sich tief in mein Unterbewusstsein gegraben haben. Was mich verfolgt, ist der Anblick des Friedhofs der Halleschen Synagoge, erfüllt von den Vibrationen der Explosionen. 
 

Dieses Warten, dieses Zuhören – führte uns in das Gebet. Wie ein unsichtbarer Faden wurden die äußeren Geräusche in innere Offenbarungen verwandelt wie ein Schlüssel zu einem tiefen Verständnis des Gebets. Mit der Zeit begann diese Erfahrung zu verblassen und nahm allmählich ab. Im vierten Jahr spürte ich kaum noch etwas von dieser Kraft, und jetzt, im fünften Jahr, bleibt nur eine ferne, schwache Erinnerung. Und dennoch: diese Kraft des Hörens wird nicht aus der Angst und der Gefahr genährt, sondern durch die tiefe Dankbarkeit und Liebe für diese wundersame Welt und das fragile, kostbare Leben, das keineswegs selbstverständlich ist. Sie ist unser Kompass, besonders jetzt, in diesen unsicheren Zeiten, und besonders an Yom Kippur, dem Tag, an dem das Buch des Lebens offen vor uns liegt.


Mollie Sharfman, Teilnehmerin des Gottesdienstes in der Synagoge, überlebte

Portrait von Mollie Sharfman
Mollie Sharfman

I plan to come to Berlin for the 5th anniversary and will come to the Festival of Resilience and for the Sukkot Holiday. I never imagined that, five years on, we would once again witness such immense suffering and hate. I think of the tragic fate of Ben Uri, 31, who bravely battled PTSD following his army service. (2014, Anm. d. Verf.) Known for his unwavering determination to heal and reclaim his peace, Ben’s life was tragically cut short by Hamas on October 7th. His relentless fight for mental health until the very end, even in the face of overwhelming challenges, inspires me to continue that same fight in my own battle with PTSD.” PTSD (Posttraumatic Stress Disorder, d. Verf.)

Deutsche Übersetzung:

Ich habe vor, zum 5. Jahrestag nach Berlin zu kommen und werde zum Festival of Resilience und zum Sukkot-Fest kommen. Ich hätte nie gedacht, dass wir fünf Jahre später wieder so großes Leid und Hass erleben würden. Ich denke an das tragische Schicksal des 31-jährigen Ben Uri, der nach seinem Militärdienst tapfer gegen eine posttraumatische Belastungsstörung kämpfte. (2014, Anm. d. Verf.) Ben war für seine unerschütterliche Entschlossenheit bekannt, zu heilen und seinen Frieden wiederzufinden, sein Leben wurde am 7. Oktober von der Hamas auf tragische Weise beendet. Sein unermüdlicher Kampf um seine psychische Gesundheit bis zum Ende, selbst angesichts überwältigender Herausforderungen, inspiriert mich denselben Kampf in meinem eigenen Ringen gegen die posttraumatische Belastungsstörung fortzusetzen. (Übers. Harald Kielmann) 

Marguerite Esther Marcus, besuchte den Prozess 2020

Portrait von Marguerite Marcus
Marguerite Marcus

2019 fand ich die Idee gut, den Versöhnungstag einmal nicht in Berlin zu verbringen. Meine Söhne waren im Ausland und ich dachte, warum nicht eine solche intensive Gruppenerfahrung zum höchsten jüdischen Feiertag erleben. Ich überlegte, ob ich in Halle mit der Gruppe, die eher orthodox orientiert ist, zusammen sein oder ob ich mich für eine Reformgemeinde entscheiden sollte. Ich wählte die Reformgemeinde.

Heute nach dem Anstieg des Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 erlebe ich diesen Schock von Halle wieder anders. Schon damals habe ich gedacht, wie gut, dass meine Mutter diesen Moment nicht erleben muss, dass jüdische Menschen bedroht werden, die sich zu einem Gottesdienst versammelt haben. Aber für mich selbst hatte ich mich damit beruhigt zu glauben, dass das eine rassistische und antisemitische Bedrohung durch einen einzelnen Menschen sei; Menschen, denen ich im Alltag nicht begegnete. So habe ich zunächst den Prozess erlebt. Dann aber trat auch im Prozess selbst eine derartige „Deutschheit“ zutage. Ein „Othering“ fand hier statt, ein Ausschluss des nicht in Deutschland geborenen oder vorgeblich nicht verwurzelten Menschen. Es wurde vom Gericht so geredet, als ob wir als Juden, egal wie verwurzelt wir sein mögen, offenbar prinzipiell zu „Anderen“ gehörten. 

Anastassia Pletoukhina, sie überlebte den Anschlag auf die Synagoge

Manchmal denke ich: Wir haben zu diesem Thema schon alles gesagt. Es fühlt sich gelegentlich so an, als ob es uns lähmen wird, wenn wir weiter im Narrativ der Betroffenen bleiben. Lange Zeit hat es uns und mich angetrieben, in die Welt geradezu hineinzuschreien, was uns widerfahren ist. Wir kämpfen für Sichtbarkeit und Verständnis. Das tun wir immer noch, und trotzdem will es mir so vorkommen, als sei es jetzt unangemessen, uns in diesem Maß öffentlich zu machen. Dieser Gedanke kam mir unmittelbar nach Kriegsbeginn gegen die Ukraine. Was wir erlitten haben, wird überschattet von diesen anderen Leiden, von Schlimmerem, was mich auch betrifft, auch familiär. 

Ich konnte nach der Tat von Halle eine therapeutische Betreuung finden, die mir half, sodass ich mich nicht mehr so stark beeinträchtigt fühlte. Dann geschah der 7. Oktober: das Massaker der Hamas in Israel. Das hat die Perspektive, die ich habe, verschoben. Jetzt gibt es den Zustand, nicht nur 5 Jahre nach Halle, sondern 1 Jahr nach dem Massaker in Israel. Und das, obwohl ich nicht in Israel lebe, obwohl ich nicht stark dort verwurzelt bin und obwohl ich nicht vorhabe, nach Israel zu ziehen. Es ist ein Gefühl, das uns alle betrifft, wenn ich damit lebe, dass es Aufrufe gibt, Jüd*innen und Juden weltweit zu jagen, auch der Vorgang in München. Das Gefühl, nirgendwo sicher zu sein. Diese Situation hat zu einer Retraumatisierung geführt. In den ersten Wochen danach wurde ich regelrecht von einer Paranoia heimgesucht, wir kauften Sicherheitsschlösser. Das Gefühl: jetzt stünde jemand vor unserer Tür. Die Wunden von Halle wurden wieder aufgerissen. Jahr um Jahr werden wir zurückgeworfen auf die Rolle eines Opfers. Wir verarbeiten das, wir müssen es annehmen und äußern diese Tatsache.

Ich stelle mir die Frage: Fünf Jahre sind vergangen, was bringen die nächsten fünf Jahre? Einige wurden Aktivist*innen und fanden hierin eine Antwort. Aber es gibt auch die Erschöpfung, das Gefühl der Einsamkeit, des Sich-Nicht-Verständlich-Machen-Könnens darüber, was das Massaker in Israel auch für Nicht-Israelis bedeutet. Es geht in seiner Bedeutung über Israel hinaus.

Wenn das Massaker geleugnet oder umgedeutet wird, wenn die sexuellen Taten verharmlost werden… Wie soll ich ständig erklären müssen, was ich damit zu tun habe. Das macht einsam. … Es fehlen die Räume und die Kraft, darüber zu diskutieren. Statt einer Gesprächskultur treffe ich auf Parolen auf TikTok-Niveau. Nach dem 9. Oktober ist nach dem 7. Oktober. Meine Gedanken sind voller Bilder, die ich mir nicht anschaute: gewaltsames Eindringen in Häuser, die Verwüstung eines sicheren Ortes. Es breitete sich eine Angst aus, wir könnten vom Attentäter wieder aufgesucht werden. Die Sorge um mein neugeborenes Kind … Ich wollte es nicht jeden Tag mit traurigen Augen anschauen, ich habe eine Verantwortung und muss aus diesem Zustand herauskommen. Darf ich überhaupt traurig sein? Würde ein Aktivismus das beantworten?

Die beständige Frage nach der Sicherheit des Landes, wie sie gestellt wird, belastet mich: das Erstarken radikaler Kräfte; diese fast penetrante Unzufriedenheit über fast alles: Job, Heizung, Rente und die Zuschreibung aller Missstände auf das Konto von Migrant*innen, als ob sie alle Islamist* innen oder Frauenvergewaltiger* wären. Das ist ja eine absolute Falle, in die die Populisten die Leute treiben, und es ist falsch.

Ich wünsche mir eine stärkere Position der islamischen Communitys und dass ihre und unsere Existenz in anderem Maße als Selbstverständlichkeit wahrgenommen würde. Es sind immerzu „die Anderen“, denen eine Schuld oder Versagen angelastet wird. Wir sind doch eine heterogene Gesellschaft. Dass Gewalt verurteilt gehört, das müsste selbstverständlich sein und ich frage mich, sind wir noch zusammen in dieser Frage? Was bedeutet das? Gemeinsames Gedenken, solidarisches Gedenken: Es wird überlappt durch den 7. Oktober und trotzdem müssen wir eine gemeinsame Gesprächsbasis finden. Wenn sich Allianzen gegen rechte Gewalt nicht auch gegen die Träger*innen von Palästinenser-Tüchern mit Mordfantasien an Juden richten, – das ist schwer erträglich für mich. Nicht weil ich sagen würde, der Krieg, der jetzt in Gaza geführt wird, müsse sein, sondern weil für mich da drin steckt „Macht auch Deutschland judenfrei“. Diese Wendung wird nicht mitgetragen. Das ist für mich sehr schwer.
 

Ezra Waxman, überlebte den Anschlag auf die Synagoge 

Portrait von Ezra Waxman
Ezra Waxman

When confronted by the enormity of today's problems, it can sometimes be difficult to hold onto hope. My preferred response is thus to channel my energies into modest, achievable, goals that can make a small, yet meaningful, difference. Incremental progress - that, for me, is a great source of hope. Remember: "it is not incumbent upon you to complete the work; but neither are you at liberty to desist from it" (Ethics of Our Fathers, 2:21)

Deutsche Übersetzung:

Angesichts der enormen Probleme unserer Zeit kann es manchmal schwierig sein, die Hoffnung nicht aufzugeben. Daher ist meine bevorzugte Reaktion, meine Energien in bescheidene, erreichbare Ziele zu stecken, die einen kleinen, aber bedeutsamen Unterschied machen können. Schrittweiser Fortschritt – das ist für mich eine große Quelle der Hoffnung. Denke daran: „Es ist nicht Deine Pflicht, das Werk zu vollenden; aber Du hast auch nicht die Freiheit, davon abzulassen“ (Ethik unserer Väter, 2:21). (Übers. Harald Kielmann) 

 

Das Festival of Resilience  wurde von jüdischen Überlebenden des Anschlags in Halle ins Leben gerufen. Veranstaltungsorte sind: Halle und Berlin unter dem Titel NachHall(e) 13.10.2024 bis 27.10.2024. Halle: Freylinghausen-Saal, Frankesche Stiftungen, Haus 1, Frankeplatz 1, 06110 Halle (Saale) 13.10. Gespräch ab 16:15, Konzert ab 18:45; Konzertprogramm: Camilo Bornstein Resilience / Helical Changes, 2024, Ursula Mamlock, Rückblick, 2002, Farzia Fallah Spaces of Deep Silence, 2021; Berlin: 14.10. Festsaal Kreuzberg ab 18 Uhr * Bitte anmelden