
Als Vater eines der beiden Mädchen, deren mutige Intervention 2013 eine deutsche und internationale Debatte über Sprache, Rassismus und Zugehörigkeit auslöste, erzählt Mekonnen Mesghena von kindlicher Zivilcourage, solidarischer Öffentlichkeit und der Kraft gelungener politischer Einmischung.

Was als kindliche Frage begann, wurde zu einem Impuls für eine breitere, tiefere Auseinandersetzung über rassistische Kontinuitäten in Alltag, Kultur und Sprache. Mekonnen Mesghena hat diese Intervention, die zur sogenannten Kinderbuchdebatte führte, von Anfang an begleitet, unterstützt und auf internationale Bühnen getragen. Dieser Text wurde für den Solidarischen Migrationsgipfel der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfasst. Er erschien im Rahmen zahlreicher Beiträge, die gelungene politische Praxis, wirkungsvollen Aktivismus und empowernde Interventionen sichtbar machen – Geschichten des Gelingens, des Widerstands und der solidarischen Veränderung.
Winter 2013. In Deutschland bricht eine kollektive Hysterie aus – nicht etwa wegen sozialer Ungleichheit, rechter Gewalt oder rassistischer Diskriminierung im Alltag. Nein: Ein siebenjähriges Schwarzes Mädchen wagt es, eine rassistische Begriffe in einem Kinderbuch zu hinterfragen. Das reicht, um die selbsternannte Kulturnation in Aufruhr zu versetzen.
Was folgt, ist ein altbekanntes Repertoire weißer Abwehrmechanismen:
„Das war doch nie so gemeint.“
„Ich bin damit groß geworden – und mir hat’s nicht geschadet.“
„Ich habe das nie als rassistisch empfunden.“
Vielleicht ist genau das aber das Problem.
Die Medien schlagen Alarm: „Zensur!“, „Sprachpolizei!“, „Cancel Culture!“ Das Feuilleton diskutiert hitzig – fast ausschließlich unter weißen Stimmen – ob Schwarze Kinder sich von rassistischen Begriffen beleidigt fühlen dürfen. Man redet über sie, nicht mit ihnen. Man beurteilt ihre Wahrnehmung und ihr Empfinden, statt ihnen zuzuhören. Was früher gesagt wurde, darf offenbar nicht hinterfragt werden – selbst wenn es Menschen ausschließt, entwürdigt oder verletzt.
Doch der eigentliche Skandal für diese empörte Bildungsschicht war: Otfried Preußler selbst, Autor der Kleinen Hexe, stellte sich auf die Seite des Kindes. Ohne großes Aufsehen, ohne Abwehr – er ließ die Begriffe streichen. Menschlich, klug, empathisch. Ein leiser Akt, der lauter war als all die schäumende Empörung.
Zwei Schwarze Kinder – sieben und neun Jahre alt – hielten dieser Gesellschaft einen Spiegel vor. Die eine mit ihrem Brief an den Verlag, die andere mit ihrem offenen Brief gegen die rassistische Berichterstattung der Leitmedien. Mit Klarheit, Mut und Haltung entlarvten sie eine Debatte, in der sich eine privilegierte Mehrheit als Opfer stilisierte, weil sie nicht mehr allein bestimmen darf, was als diskriminierend gilt. Zwei Kinder zeigten mehr demokratische Reife als so mancher Feuilletonist oder Schriftsteller.
Die Solidarität ließ nicht auf sich warten. Aus allen progressiven Teilen der Gesellschaft, aus migrantischen Communities, von internationalen Stimmen. Während deutsche Leitmedien den Kulturkampf beschworen, nannten internationale Zeitungen das Kind beim Namen: „Germany’s Racist Hysteria“. Und sie meinten nicht die Kinder, sondern die alten weißen Männer und Frauen, die die sprachlichen Anpassungen an die moderne Gesellschaft als erschütternden Kulturkampf empfanden.
Diese Episode zeigt: Sprache prägt Realität. Und wer sich gegen rassistische Sprache wehrt, greift nicht die Freiheit an – sondern verteidigt sie.
Was es braucht? Mehr Zuhören. Mehr Empathie. Und mehr Mut, alte Privilegien abzubauen.
Wer die Gefühle und Intelligenz eines Kindes als Bedrohung seiner Kultur versteht, hat weder Kultur noch Anstand verstanden.
Timnit Mesghena in der Werkstatt der Kulturen
Brief von Ishema Kane