von Helen Baykara-Krumme
Generationenbeziehungen sind konstitutiv für das menschliche Zusammenleben, und die Familie stellt für ältere Menschen eine wichtige Unterstützungsressource dar. Die Hilfe für Ältere durch ihre Kinder kann verschiedene Formen annehmen. Sie reicht von emotionaler Unterstützung und sozialem Austausch über die Begleitung zum Arzt, instrumentelle Hilfsleistungen im Haushalt oder bei den alltäglichen Verrichtungen sowie verschiedenen Formen der Pflege, bis hin zu finanziellen Unterstützungsleistungen in unterschiedlichem Umfang. Nicht allein die faktische Hilfe ist für Ältere von Bedeutung, sondern auch das Potential, auf diese Hilfen bei Bedarf (jederzeit) zurückgreifen zu können.
Die Besonderheit der Familie ergibt sich aus den besonders nahen Beziehungen, die Eltern zu ihren Nachkommen haben, der lebenslangen, aufgrund biologischer Verbundenheit letztlich nicht aufkündbaren, Verbindung und dem Reziprozitätsgedanken: Die Eltern haben sich um die Kinder gekümmert, als diese klein waren, im Alter dreht sich die Verteilung von Hilfebedarf und Hilfegabe dann oft um. Besonders in Ländern mit wenig ausgebautem Wohlfahrtssystem stellt die Familie für die Risikoabsicherung im Alter die zentrale Ressource dar, während in Ländern mit umfassenderen Wohlfahrtssystemen und Sozialen Diensten für Ältere der Staat beziehungsweise die Gemeinschaft wichtige Funktionen für die Überwindung von Risikolagen übernommen haben.
Einseitige Bilder von einheimischen und Migrantenfamilien
Viele EinwanderInnen in Deutschland kommen aus Ländern mit stark familienorientierten Wohlfahrtssystemen und eher kollektivistisch orientierten Herkunftskulturen. Die normative Verankerung der Generationensolidarität ist hier stärker ausgeprägt als in stärker individualistischen Gesellschaften, zu denen die industrialisierten Staaten Westeuropas zählen. Die Annahme, dass EinwanderInnen ihre kulturellen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen in das Einwanderungsland transferieren, hat die Vorstellung vom Altern in der Migration lange geprägt. Nachdem klar geworden war, dass die ArbeitsmigrantInnen auch nach Übergang in den Ruhestand nicht endgültig in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden, ging man davon aus, dass sich die Familien der Älteren schon um diese kümmern würden. Verbreitet war das Bild der Großfamilie im Mehrgenerationenhaushalt, in deren Strukturen die Älteren – im Gegensatz zu den Einheimischen – versorgt würden. Demgegenüber stand das Bild der zerstrittenen und zerrütteten Migrantenfamilien, wonach die Kinder den Erwartungen der Eltern nicht mehr gerecht werden können und wollen. Veränderte Lebensmodelle in der zweiten Generation und die im Verlauf ihres Akkulturationsprozesses in der Schule, in Ausbildung und Beruf übernommene individualistischere Einstellung der Mehrheitsgesellschaft, die eine starke familiale Integration der Älteren (angeblich) nicht vorsieht, führten stärker noch als bei Einheimischen zu einer intergenerationalen Entfremdung und Vereinsamung beziehungsweise Vernachlässigung der Älteren.
Komplexe Realität statt stereotyper Vorstellungen
Die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion hat diese konträren und einseitigen Sichtweisen in den vergangen Jahren weitestgehend überwunden. Einerseits konnte vielfach belegt werden, dass die Familie durch einen gut ausgebauten Wohlfahrtsstaat keineswegs verdrängt wird. Die These vom Verfall der Familie bei Einheimischen trifft nicht zu: Die Generationenbeziehungen sind eng und Pflege findet auch hier ganz überwiegend im familialen Kontext statt.
Andererseits ist in den vergangenen 20 Jahren mit der gewachsenen Aufmerksamkeit für die soziale Gruppe der älteren EinwanderInnen auch das Bewusstsein für ihre Heterogenität in Hinblick auf ihre kulturelle Herkunft, ihre Migrationsmotivationen, ihre rechtliche Situation, die familiale und soziale Lebenssituation und die Individualität ihrer Lebensentwürfe im Alter gestiegen. Thematisiert werden zunehmend die unterschiedlichen Bedürfnisse der Älteren und ihrer Kinder. Studien konnten dabei viele Ähnlichkeiten in der familialen Einbindung mit Einheimischen zeigen. Entwickelt wurden erste gesellschaftlich-politische Antworten; das Phänomen des Alterns in der Migration wird heute nicht mehr ignoriert. Die Systeme der Altenhilfe, des Gesundheits- und Pflegesystems stellen sich zunehmend den Aufgaben der „nachholenden Integration“ (Zeman 2009). Die Beschäftigung mit älteren EinwanderInnen ist dabei auch über das Stadium der Defizitperspektive hinausgekommen: Hervorgehoben werden unter anderem die intergenerationalen Unterstützungsleistungen der Älteren in ihren Familien, ihre Aktivitätsformen und -potentiale. Es gibt eine Vielzahl von Initiativen und Projekten, die sich älteren EinwanderInnen widmen. Und doch bestehen nach wie vor große Wissenslücken, und von einer angemessenen kultursensiblen (Regel-)Versorgung im Alter kann nach wie vor nicht gesprochen werden.
Familienstruktur und Koresidenzmuster
Im Folgenden wird auf ausgewählte empirische Befunde zu den Generationenbeziehungen älterer EinwanderInnen eingegangen. Als Basis dienen vor allem Auswertungen von Hubert et al. mit dem „Gender and Generation Survey“ (2009), kurz GGS, sowie eigene Analysen mit verschiedenen Datenbasen. Darüber hinaus existieren bisher kaum umfassendere und komparative Auswertungen. Auch die bisher vorhandenen Daten erlauben lediglich Ausschnitte des Themenkomplexes nachzuzeichnen, ein umfassendes kohärentes, geschweige denn differenziertes Bild können sie nicht geben.
Familienstrukturen im Vergleich
Nach Daten des Mikrozensus ist die Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Mittel etwa 11 Jahre jünger als die einheimische Bevölkerung. Die Geschlechterproportionen im Alter (hier definiert als 65 Jahre und älter) sind ausgeglichener als bei den Einheimischen, bei gleichzeitig deutlichen Unterschieden zwischen den einzelnen Herkunftsgruppen. Bei den ehemaligen ArbeitsmigrantInnen findet sich bis heute ein Männerüberschuss, bei den (Spät-)AussiedlerInnen, vor allem aus Rumänien, Russland und Polen, dagegen eine höhere Frauenquote. Beim Familienstand zeigen sich bei Betrachtung der Älteren mit beziehungsweise ohne Migrationshintergrund, also ohne eine weitergehende Differenzierung nach Herkunftsland oder höherem Alter, kaum Unterschiede. Von den Männern ist die große Mehrheit verheiratet (80,3 Prozent der Migranten und 78,2 Prozent der Nichtmigranten). 10,4 Prozent der EinwanderInnen und 12,7 Prozent der Einheimischen sind verwitwet, jeweils gut 5 Prozent sind ledig und weitere 5 Prozent sind geschieden.
Deutlicher sind bei ähnlicher Tendenz die Differenzen zwischen den Frauen: Einwanderinnen sind etwas häufiger verheiratet als Frauen ohne Migrationshintergrund (45,3 bzw. 50,0 Prozent), seltener ledig (4,0 zu 5,8 Prozent) und seltener verwitwet (39,6 beziehungsweise 43 Prozent, vgl. dazu Menning & Hoffmann 2009). Im Hinblick auf Kinder zeigen sich in den Daten des Alterssurveys von 2002 zwischen älteren deutschen und ausländischen Staatsangehörigen nur insofern bedeutsame Differenzen, als dass ausländische Staatsangehörige im Schnitt mehr Kinder haben. Das Vorkommen von Kinderlosigkeit ist mit ca. 15 Prozent über alle Altersgruppen (40 bis 85 Jahre) ähnlich verteilt (Baykara-Krumme & Hoff 2006, 481). Zu diesen Befunden kommen auch Hubert et al. in ihren Auswertungen der türkischen GGS-Stichprobe (50 bis 79 Jahre). Jeweils gut 20 Prozent der deutschen und der türkischen Staatsangehörigen haben keine Kinder.
Wohnformen und Unterstützungspotenzial im Vergleich
Ein zentraler Befund verschiedener komparativer Studien zu älteren EinwanderInnen sind die durchschnittlich etwas größeren Haushalte und die geringere Häufigkeit von Ein-Personen-Haushalten im Vergleich zur der einheimischen Bevölkerung. Allerdings sind die Unterschiede zu Einheimischen geringer als oft erwartet. Vor allem die Vorstellung, dass ältere EinwanderInnen häufig in Haushalten lebten, die drei oder mehr Generationen umfassen, sollte längst ad acta gelegt worden sein. Insgesamt liegt der Anteil dieser Wohnform im einstelligen Prozentbereich, und ist damit äußerst selten.
Einen deutlichen Unterschied findet man allerdings im Hinblick auf das Zusammenleben mit Kindern. Nicht allein aufgrund der jüngeren Altersstruktur leben viele EinwanderInnen häufiger als Einheimische mit einem Kind zusammen in einem Zwei-Generationen-Haushalt (Baykara-Krumme & Hoff 2006, Hubert et al. 2009). Unter Kontrolle zentraler demographischer und sozioökonomischer Merkmale zeigen die Analysen einen „Resteffekt“ zum Beispiel bei den EinwanderInnen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien, der als migrations- oder kulturspezifisch interpretiert werden kann (Baykara-Krumme 2007). Das große gegenseitige Unterstützungspotenzial, das mit dieser Wohnform einhergeht, liegt auf der Hand. Etwas geringer werden die Unterschiede, wenn man zusätzlich die Verfügbarkeit von Kindern außerhalb des Haushalts, aber im gleichen Ort berücksichtigt: Nach den Zahlen des Alterssurveys (2002) lebten zum Beispiel 71 Prozent der 55- bis 69-jährigen ausländischen Staatsangehörigen und 64 Prozent der 70- bis 85-jährigen ausländischen Staatsangehörigen, aber auch 65 beziehungsweise 70 Prozent der jeweiligen deutschen Altersgruppe im gleichen Ort wie mindestens ein (erwachsenes) Kind. Damit sind in beiden Gruppen letztlich ähnliche Voraussetzungen für intensive Unterstützungsleistungen vor Ort gegeben.
Erwartungen an Kinder und Austausch von Unterstützung
Verschiedene Analysen zeigen, dass ältere EinwanderInnen – am besten belegt ist dies wiederum für türkeistämmige Ältere – größere Erwartungen an ihre Kinder hinsichtlich intergenerationaler Hilfeleistungen haben. Die volle Zustimmung für die Aussage, dass sich vor allem die Familie für die älteren Familienangehörigen verantwortlich fühlen sollte, ist nach Informationen des Alterssurveys (2002) bei MigrantInnen aus der Türkei (35 Prozent) und der ehemaligen Sowjetunion (33 Prozent) am häufigsten zu finden. Bei Einheimischen mit 13 Prozent deutlich seltener. Darüber hinaus ist die Zustimmung zu Aussagen wie „Kinder sollten die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen, wenn diese Hilfe brauchen“, „Kinder sollten ihr Arbeitsleben umorganisieren, um den Bedürfnissen ihrer Eltern nachkommen zu können“, „Kinder sollten ihre Eltern unterstützen, wenn diese finanzielle Probleme haben“ oder „Kinder sollten ihre Eltern zu sich nehmen, wenn diese nicht mehr selbst für sich sorgen können“ im „Gender and Generation Survey“ im Schnitt bei Türkeistämmigen wie auch bei (Spät-)AussiedlerInnen deutlich höher als bei Deutschen.
Erwartungen und familiäre Realität im Pflegefall
Kann dies auch umgesetzt werden? Entziehen sich die Kinder den Erwartungen, so verletzen sie kulturelle Normen. Je nach Umfeld und Akkulturationsgrad des Migrantenmilieus kann dies nicht nur in persönlichen Schuldgefühle resultieren, sondern auch Schamgefühle vor der weiteren Familie oder der ethnischen Community und gegebenenfalls Sanktionen nach sich ziehen. Andererseits sind sich viele ältere EinwanderInnen der Problematik der Vereinbarkeit von Beruf, eigener Familie und Versorgung der Eltern durchaus bewusst und wollen ihren Kindern nicht zur Last fallen (vgl. Matthäi 2005, Altintop 2011).
Alternserfahrungen sind vor allem für ArbeitsmigrantInnen eine spezielle Situation: Sie haben das Altern ihrer eigenen Eltern oft nur aus der Ferne erlebt, und sie haben es primär finanziell unterstützt. Die eigenen Kinder, an die jetzt Erwartungen gerichtet werden, haben wegen der Berufstätigkeit ihrer Eltern in der Migration oft wenig Aufmerksamkeit erhalten, wurden zum Teil von anderen Verwandten aufgezogen. Wie kann Pflege im Alter in diesem Kontext angemessen arrangiert werden?
Alternative Pflegemöglichkeiten werden selten faktisch in Betracht gezogen, die Erwartungen bleiben. Folgen einer Überlastung von familialen Unterstützungsressourcen sind nicht nur schwierigere Versorgungslagen im Pflegefall, sondern möglicherweise auch familiale Konflikte und individuelle Belastungen. Die empirische Evidenz dafür ist bisher gering, denn weder der Pflegebedarf, das Pflegeverhalten noch mögliche Konflikte dieser Art wurden bisher (angemessen) erhoben (Ulusoy & Gräßel 2010). Es besteht bis heute kaum belastbares Wissen über die familialen Pflegearrangements in Einwandererfamilien. Lediglich eine regionale Auswertung von Pflegedaten zeigt, dass hier etwa 91 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause versorgt werden, häufig ohne Unterstützung durch professionell Pflegende. Eine stationäre Unterbringung erfolgt nur in Ausnahmefällen (Okken et al. 2008). Zu dem Thema der Pflege besteht enormer Forschungsbedarf.
Zufriedenheit mit den Kindern
Spezifische Daten des „Gender and Generation Survey“ zeigen bisher, dass die große Mehrheit (76,7 Prozent beziehungsweise 85,2 Prozent) der befragten über 50-jährigen TürkInnen mit ihrem ältesten, nicht mehr zu Hause lebenden Sohn oder ihrer ältesten außerhalb lebenden Tochter sehr zufrieden sind. Tendenziell sind die türkischen Mütter zufriedener als die Väter. Und höchst bemerkenswert: Die Unterschiede zu Einheimischen sind nicht signifikant (Hubert u.a. 2009, 70f.). Hintergründe für diese Bewertung werden nicht erhoben. Die Übereinstimmung zwischen EinwanderInnen und Einheimischen gilt auch für Konflikte mit Kindern, gemessen anhand der Aussagen von über 50-jährigen Eltern im Sozioökonomischen Panel (Baykara-Krumme 2010). Im Einklang mit anderen Studien zeigt sich auch aus der Perspektive der Kinder kaum spezifisches Konfliktpotenzial (Baykara-Krumme et al. 2011). Diese Daten zur Zufriedenheit und zu Konflikten mögen undifferenziert messen, dennoch geben sie erste Informationen über das Solidaritätspotenzial in einheimischen wie in Einwandererfamilien.
Für die vorhandenen intergenerationalen Unterstützungspotenziale sprechen zusätzlich die insgesamt stark ausgeprägte emotionale Verbundenheit sowie die Befunde zur Kontakthäufigkeit mit Eltern durch die Kinder, die außerhalb des Haushalts leben. Vor allem der tägliche Kontakt, der auch telefonisch sein kann, ist in Einwandererfamilien dabei häufiger als bei Einheimischen. Für türkeistämmige Ältere zeigen Hubert u.a. zum Beispiel, dass 17 Prozent der Eltern täglich Kontakt zu dem ältesten außerhalb des Haushalts lebenden Kind haben, aber nur 10 Prozent der Einheimischen (2009). Kinder sind als Rat- und Trostgeber wichtige Bezugspersonen sowohl für EinwanderInnen als auch für Einheimische; die Differenzen zwischen einzelnen Herkunftsgruppen sind sowohl in den Daten des Alterssurveys als auch im Sozioökonomischen Panel gering, während sich im „Gender and Generation Survey“ deutliche Unterschiede zwischen Türkeistämmigen und Deutschen zeigen: Demnach sind Kinder tendenziell wichtiger im sozialen Netzwerk der türkeistämmigen EinwanderInnen.
Unterstützung durch ältere MigrantInnen für die Familie
Dabei sind Ältere keineswegs nur Hilfeempfänger: Insgesamt leisten Ältere durchaus vielseitige Hilfe. Spätestens seit dem Fünften Altenbericht der Bundesregierung von 2005, der die Potenziale der Älteren in den Vordergrund stellte, werden auch die zum Teil umfassenden Hilfeleistungen der Älteren für die Kinder ins Zentrum gerückt. Dies können finanzielle Transfers sein, die in Migrantenfamilien nach Daten des Alterssurveys unter anderem aufgrund der geringeren eigenen Ressourcen seltener sind als bei Einheimischen, oder instrumentelle Leistungen wie die Betreuung der Enkelkinder. Nach Zahlen des „Gender and Generation Survey“ betreuen Ältere türkischer Staatsangehörigkeit ihre Enkelkinder signifikant häufiger als Deutsche: Mindestens mehrmals in der Woche leisten dies demnach 36,5 Prozent der türkischen Älteren mit mindestens einem Enkelkind, und nur 26,2 Prozent der Deutschen. Ähnliche Differenzen fanden sich auch im Alterssurvey, wobei die Mittelwertdifferenzen für alle EinwanderInnen zusammengefasst sich nur leicht von denen der Einheimischen unterschieden.
Schlussbemerkung
Die Beschäftigung mit dem Thema der familialen Generationenbeziehungen ist spannend und hochaktuell. Das Thema umfasst Lebensbereiche, die uns allen vertraut sind, die mit dem demographischen Wandel relevanter und in gewisser Weise wichtiger werden. Zugleich ist es geprägt von Klischees über „die Anderen“, die anhand empirischer Daten zu bewerten und gegebenenfalls zu verwerfen sind. Verfügen EinwanderInnen mit ihren Familien über spezifische Ressourcen? Zum Teil. Was ist dran am Bild der Großfamilie? Sehr wenig. Und kaum ein Elternteil möchte wirklich ins Heim: Die Kinder von Einheimischen wie von EinwanderInnen stehen vor der Aufgabe der Pflege ihrer Angehörigen. Die höheren Erwartungen der Einwanderereltern können dabei eine Belastung darstellen.
Viel relevanter werden die bisher oft noch fehlenden Strukturen sein, die bei der Versorgung der Eltern zuhause unterstützend wirken könnten: Hier sind Vorbehalte, Zugangsbarrieren und Kommunikationsprobleme weiter abzubauen. Zu einer kultursensiblen Altenpflege, die zuhause, in der Tagespflege, in Alten-WGs oder auch im Heim angeboten werden kann, gehören für die Betroffenen der ersten Generation vor allem muttersprachliche Pflegekräfte des gleichen Geschlechts und die Rücksichtnahme auf spezifische Essensgewohnheiten (Altintop 2011). In einigen Städten in Deutschland sind ältere MigrantInnen als KundInnen inzwischen entdeckt worden. Es sind vielfältige Angebote entstanden, auch unter Einbeziehung der angehörigen Kinder. Vor allem die größeren Migrantengruppen mit gut organisierten ethnisch-religiösen Strukturen können davon bereits profitieren. Dieser Prozess muss auch für kleinere Migrantengruppen in die Wege geleitet werden und in den Sozialräumen wirkungsvoll umgesetzt werden. Dabei ist das Verständnis von kultursensibler Altenpflege stets anzupassen und zu erweitern. Letztlich wird es darum gehen, Einheimische wie eingewanderte Ältere als Individuen mit je spezifischen Bedürfnissen anzuerkennen, denen ein Zugang zu vielfältigen und individuell abgestimmten Angeboten der Altenhilfe unabhängig von ihrer sozialen, ethnischen oder kulturellen Herkunft zu eröffnen ist.
Offene Fragen
Trotz vielfacher Diskussionen in den vergangenen Jahren, die in den verschiedenen europäischen Ländern zum Teil sehr ähnlich sind, bleiben viele Fragen weiterhin offen. Vor allem zu den Bedingungen und Konsequenzen verschiedener Pflegearrangements und der Rolle der Familie fehlt bis heute jegliche Datengrundlage. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie es eigentlich kinderlosen EinwanderInnen ergeht, und jenen, deren Kinder weit entfernt (im Ausland) leben? Wie sehen die Pflegearrangements bei jüngeren EinwanderInnen aus, wenn die zunehmend pflegebedürftigen Eltern im Herkunftsland leben? In den USA ist der Nachzug der alten Eltern zu ihren erwachsenen Kindern empirisch höchst bedeutsam. Welche Möglichkeiten existieren dazu in Deutschland, werden sie genutzt? Wie können kleinere Herkunftsgruppen in der kultursensiblen Altenhilfe tatsächlich berücksichtigt werden? Welche Erfahrungen des Umgangs mit der neuen (sprachlichen) Vielfalt im Alter gibt es bereits, wie lassen sie sich realistisch in den Regelinstitutionen umsetzen? Noch sprechen wir von älteren EinwanderInnen mit eigener Migrationserfahrung. In der Zukunft sind es neben neuen EinwanderInnen die Kinder der zweiten Generation, die im Einwanderungsland alt werden. Existieren dann noch spezielle sprachliche und kulturelle Bedarfe? Inwiefern ist Diversität im Alter in naher Zukunft normal und wird entsprechend gehandhabt? Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Familien angemessene Rahmenbedingungen benötigen, um intergenerationale Unterstützung im Alter und bei der Pflege leisten zu können. Gemeinsam mit allen Beteiligten sind diese so spezifisch und zugleich so universell wie nötig bereitzustellen, dass die Generationensolidarität in allen Familien erhalten und weiter gestärkt wird.
Literatur
- Altintop, N. (2011): Aufgaben für die Altenpflege von türkischsprachigen Migrant/inn/en. In: pflegenetz 05, 23-26.
- Baykara-Krumme, H. (2007): Gar nicht so anders: Eine vergleichende Analyse der Generationenbeziehungen bei Migranten und Einheimischen in der zweiten Lebenshälfte. Discussion Paper SPIV 2007-604. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
- Baykara-Krumme, H./A. Hoff (2006): Die Lebenssituation älterer Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland. In: Tesch-Römer, C. u.a. (Hrsg.): Altwerden in Deutschland. Sozialer Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte. Wiesbaden, S. 447-517.
- Baykara-Krumme, H. (2010): Soziale Einbindung älterer Migrant/innen in Familie und soziale Netzwerke – Muster, Erklärungsversuche und offene Fragen. Vortrag auf der Tagung des Deutschen Zentrums für Altersfragen und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Berlin.
- Baykara-Krumme, H., D. Klaus & A. Steinbach (2011): Generationenbeziehungen in Deutschland. Ein Vergleich der Beziehungsqualität in einheimischen deutschen Familien, Familien mit türkischem Migrationshintergrund und Aussiedlerfamilien. In: Brüderl, J., L. Castliglioni & N. Schumann (Hrsg.): Partnerschaft, Fertilität und intergenerationale Beziehungen. Würzburg: Ergon, 259-286.
- Baykara-Krumme, H., A. Motel-Klingebiel & P. Schimany (2012): Viele Welten des Alterns? Ältere Migranten im alternden Deutschland. Wiesbaden: VS Verlag.
- Hubert, S. u.a. (2009): Soziodemographische Merkmale und psychophysisches Befinden älterer türkischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Berlin
- Matthäi, I. (2005): Die "vergessenen" Frauen aus der Zuwanderergeneration. Zur Lebenssituation von alleinstehenden Migrantinnen im Alter. Wiesbaden: VS Verlag.
- Menning, S. & E. Hoffmann (2009): Report Altersdaten. Ältere Migrantinnen und Migranten. Berlin. Deutsches Zentrum für Altersfragen.
- Okken, P.K., Spallek, J. & O. Razum (2008): Pflege türkischer Migranten. In: Bauer, U. & A. Büscher (Hrsg.): Soziale Ungleichheit und Pflege. Wiesbaden: VS Verlag, 396-422.
- Statistisches Bundesamt (2011): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2010. Fachserie 1 Reihe 2.2. Wiesbaden.
- Ulusoy, N. & E. Gräßel (2010): Türkische Migranten in Deutschland. Wissens- und Versorgungsdefizite im Bereich häuslicher Pflege – ein Überblick. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 43, 330-338.
- Zeman, P. & Kalisch, D. (2008): Die Situation älterer Flüchtlinge – Belastungen und Potenziale. informationsdienst altersfragen 35(4), 2-6.
- Zeman, P. (2009): Alternde Menschen mit Migrationshintergrund. Soziale Arbeit, 11-12, 2009, 435-445.
Dr. Helen Baykara-Krumme ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Chemnitz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, Alter(n), Familie und Generationenbeziehungen.