Kontinuitäten der Auslassungen

Mete-Eksi-Preisverleihung 2014 - 3. Preis - Rroma-Informations-Centrum e.V.
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Mete-Eksi-Preisverleihung 2014 - 3. Preis - Rroma-Informations-Centrum e.V.

„Vor lauter Ärger in meinem Bauch musste ich dauernd schlimme Bilder machen. Wo die Leichen angedeutet sind und wo die Panzer kommen“[1] Ceija Stojka



Zwischen September 2013 und April 2014 fand im Rroma Informations Centrum Berlin ein Projekt mit Jugendlichen und Erwachsenen zwischen 13 und 16 Jahren statt, in dem ich mitarbeitete. Das Projekt „Gestern mit den Augen von heute sehen“ thematisierte den Genozid, der 1933-1945 in Deutschland und ganz Europa an unseren Menschen begangen wurde.

Wie bei der immer noch zu wenig ernstgenommenen eigenen Bezeichnung „Shoah“ für die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Jüd_innen („Holocaust“ ist meistens eine Fremdbezeichnung) wird die Verfolgung und Vernichtung der Sinti, Rroma, Kalderash, Lovara, Kale und Manusch mit den Romani-Wörtern „Porajmos“ (übersetzt: das Verschlingen) oder „Samudaripen“ (übersetzt: komplette, ganze Ermordung) benannt. In Deutschland wird bisher die Bezeichnung „Porajmos“ am häufigsten benutzt, während zum Beispiel in Frankreich die Rroma-Selbstorganisationen von „Samudaripen“ reden.

Das Projekt „Gestern mit den Augen von Heute sehen“ brachte den Teilnehmer_innen bei, Stadtrundgänge über den Porajmos in Berlin zu organisieren und zu leiten, die dann ab April 2014 stattfinden. In zwei Arbeitsphasen setzten sich die Teilnehmer_innen mit der Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Rroma und Sinti zwischen 1933 und 1945 auseinander, um ihre Sicht auf diese Geschichte selbst weiterzutragen.

Durch die Analyse von Interviews Überlebender und der Autobiografien von Ceija Stojka und Otto Rosenberg, durch Besuche beim Landesarchiv in Berlin-Reinickendorf wendeten sich die Teilnehmer_innen ihrer indirekten oder unmittelbaren Geschichte zu. Sie erhielten die Möglichkeit, diese Geschichte in den Stadtrundgängen an Rroma und Sinti oder an Gadje (Nicht-Rroma/Sinti) aus ihren Perspektiven weiterzugeben.

Unser Projekt setzte sich mit Fragen auseinander, wie: In welchen Berliner Vierteln und wie haben die Menschen bis 1934 gelebt? Ab wann mussten viele Zwangssterilisation erleiden (1934), ab wann die Festsetzung an zugewiesenen Orten (1935) und die Einsperrung in Zwangslagern (Berlin-Marzahn ab 1936)? Was haben die Menschen in der von Robert Ritter geleiteten „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ erlebt? Ab wann und wie wurden die Menschen deportiert? Welche Zeugnisse haben wir von der Vielzahl des Verlustes, des Grauens, der Schmerzen während des Porajmos in ganz Europa (zum Beispiel eine zeitliche und örtliche Vielzahl)? Von wem, wie und was wird heute wahrgenommen, erzählt und gesagt?

Zugedecktes Wissen um den Porajmos in Deutschland und Westeuropa

Sich seine eigene Geschichte anzueignen, ist für rassifizierte und verleumdete Personen oder Communities eine komplizierte Arbeit und ein kontinuierlicher Prozess, da es – wenn sie nach außen kommuniziert werden soll/muss – auch darum geht, sich Geschichte und Erfahrungen oder sogar Worte wiederanzueignen, nachdem sie verdreht worden waren. Wertschätzung und Liebe des Von-und-über-sich-Wissens (als Kollektiv oder Einzelperson) ist von großer Bedeutung. Zu beachten ist, dass es bei der Geschichte und der Gegenwart der Erfahrungen der Rroma und Sinti auch um eine konstante ethnologisierende Tradition der Gadje geht, die angeblich mehr über uns wüssten als wir selbst. Diese Tradition findet sich wieder in der Geschichtsschreibung, in der Presse- und Fernsehberichterstattung, bei politischen Entscheidungen oder in künstlerischen Produktionen.

Eine konsequente wissenschaftliche und künstlerische Recherche- und Analysearbeit über den Porajmos hat bereits seit den 1970ern stattgefunden und wurde von den Rroma und Sinti initiiert. Die Arbeit des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma wurde lange nicht beachtet. Fakt ist auch, dass nur wenige Sinti und Rroma die Möglichkeit hatten und haben, Bücher zu publizieren oder Filme zu machen. Die Schriften der Überlebenden werden in kleinen Verlagen veröffentlicht und wenig zitiert oder rezensiert. Die öffentlichen Bibliotheken in Berlin haben erst seit der Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas im Oktober 2012 mehr Bücher zur Verfügung. Wenige Texte aus zum Beispiel Italien, Ungarn, Serbien oder Rumänien werden ins Englische, ins Deutsche oder ins Französische übersetzt. In vielen pädagogischen oder didaktischen Büchern und Ausstellungen werden tiefgehende Analysen und Betrachtungsweisen ausgelassen. Infolgedessen sind Karten (auch im metaphorischen Sinn) der Anwesenheit der Sinti und Rroma für den Zeitraum 1930-1945 und deren Verfolgung und Ermordungen in ganz Europa nur selten zugänglich. Es existieren wenige beziehungsweise fast keine Bücher oder Filme über spezifische Aspekte und Details des Porajmos in Westeuropa.

Weil es keine solche europäische gesellschaftliche Analyse des Porajmos gab, wird die Omnipräsenz der Verfolgung und Ermordung bis heute verdeckt. Tatsache ist jedoch, dass viele Instanzen, Berufsgruppen und große Teile der deutschen Gesellschaft generell sowohl in der Phase von 1933 und 1938[2] als auch in der Phase von 1938 bis 1945 in die Verfolgung und Vernichtung involviert waren, denn Sinti und Rroma wurden gesellschaftlich als „minderwertig“ und als „asozial“ konstruiert. Das Personal der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ bestand aus „Rassenkundler_innen“, „Volkspfleger_innen“, Ärzt_innen, „Genealog_innen“, Fotograf_innen, Stenotypist_innen und weiteren Hilfskräften. Sie haben die Menschen erfasst, sie kategorisiert und mit ihnen experimentiert, und sie haben die Vernichtung vorbereitet, legitimiert und haben über die Deportationen der Menschen entschieden. Die Wohlfahrtsorganisationen, die Kirche, die Wissenschaftler_innen bis hin zu Gestapo und SS, Himmler und Heydrich, waren bei der Rassifizierung und im Vernichtungsprozess aktiv.

Auslassungen der Geschichtsschreibungen

Der Umgang der dominierenden Geschichtsschreibung und Gedenkpolitik mit dem Porajmos einschließlich der entsprechenden dominanten Diskurse bringt mit sich, dass die Ermordungen nicht in ihrer Spezifität betrachtet werden, sondern dass in entpolitisierten und depolitisierenden Zahlen und Daten gedacht wird. Folgende Herangehensweisen oder Fragestellungen bleiben dabei weiterhin ungebräuchlich: Wie wurden die Verbrechen begangen? An wem? Warum zu diesem präzisen Zeitpunkt? Und an diesem speziellen Ort? Welche Geschichte hatten die Opfer davor und welche Geschichte hatten die Überlebenden danach?

Große Teile der Geschichte des Porajmos werden gar nicht oder nur oberflächlich analysiert bzw. die Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den räumlichen und zeitlichen Dimensionen und den verschiedenen europäischen Kontexten werden nicht hergestellt[3]2. So werden die Ermordungen von Rroma durch Massenerschießungen, begangen von den deutschen „Einsatzgruppen“ in Serbien, Kroatien, Polen und in der besetzten Sowjetunion zwischen 1941 und 1944 kaum beachtet[4], die Deportationen nach Transnistrien durch die rumänische Militärdiktatur von Antonescu sind in Westeuropa kaum bekannt.

Noch stärker ignoriert wird der Aufstand der Sinti und Rroma im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944[5]4. Der Widerstand der Opfer bekommt keine Gedanken und kein Gedenken.

Hugo Höllenreiner hat Zeugnis abgelegt vom Widerstand in Auschwitz:

„Es hat geheißen, das ganze Lager wird vergast. Wir waren hinten, von uns aus gab es noch drei Baracken. Das waren Zugangsblöcke für die Neuankömmlinge, wo ihnen die Nummern auf den Arm tätowiert wurden, bevor sie in andere Blöcke kamen. Die drei Blöcke waren voll mit ungarischen Roma. In der Nacht kamen die Lastwagen rein, haben umgedreht, die Menschen aufgeladen. Die wussten ja nicht... die haben sich ohne weiteres aufladen lassen. Dann sind die Lastwagen einer nach dem anderen rausgefahren, zum Krematorium, da sind die Leute vergast worden. Ein Block war leer, der nächste, der nächste, jetzt ist der Lastwagen bei uns vorgefahren, gebremst, stehengeblieben. Am Eingang ganz oben war unser Schlaflager. Mama hat uns alle festgehalten: ›Bleibt alle hier, bleibt alle hier.‹ Ich habe oben gebibbert, wir haben ja gewusst. Ich habe von der Buchse runtergeschaut und Papa stand unten, gerade, mit dem Pickel in den Händen, und einer seiner Brüder mit einem Schaufelstiel, einer links, einer rechts. Dann kam noch ein kleinerer Mann dazu. Draußen gingen sie auf das Tor zu, bestimmt sieben, acht Mann. Der Papa hat einen Schrei losgelassen. Die ganze Baracke hat gezittert, so hat er geschrien: ›Wir kommen nicht raus! Kommt ihr rein! Wir warten hier! Wenn ihr was wollt, müsst ihr reinkommen!‹ Die blieben stehen, es war still. Nach einer Weile kam ein Motorrad angefahren, die unterhielten sich draußen. Dann sind sie weggefahren, der Lastwagen ist weitergefahren. Wir haben alle aufgeatmet. Die anderen sechs Brüder von Papa waren in anderen Blöcken.        Jeder in seinem Block hat sich mit einem Werkzeug in der Hand vorn hingestellt und gewartet, bis einer kommt. Sie haben es sich später erzählt. Onkel Konrad muss auch so geschrien haben: ›So leicht machen wir es euch nicht! Kommt nur rein!‹ Wir haben Freudensprünge gemacht. Da bin ich heute noch stolz drauf, das hat es selten gegeben, dass sich die Leute gewehrt haben.“ (in Tuckermann, 2005.)

Eigenes Gedenken und öffentliche Gedenkpraxen

„Die Erfahrungen eines Überlebenden dürften das einzige historische Zeugnis sein, das weder durch Methoden der historischen Niederschrift noch durch den öffentlichen Diskurs vereinnahmt werden kann, mit diesen beiden Formen auch nicht zu erfassen ist, sondern nur durch den wirklichen Prozess des Bezeugens.“ (Dori Laub Huhnke, 2002, S. 205).

Es ist von großem Belang und keineswegs Zufall, dass Daseinsberechtigung, Finanzierung und Interesse für historische und politische Recherchen und Projekte über den Porajmos bis zum Näherrücken der Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas kaum oder unter schwierigen Bedingungen existierten. Dementsprechend wurden und werden die Zugangsmöglichkeiten zur Geschichte des Porajmos vermindert und verhindert.

Innerhalb der Communities von Sinti und von Rroma gibt es allerdings ein Geschichtsbewusstsein, da ein ausgesprochenes, leises oder auch schweigendes Gedenken in vielen zwischenmenschlichen Bindungen, Familien oder Freundschaften nach dem Porajmos stattfand und Trauer sowie ein breites Wissen da waren und sind. Diese kollektiven Archive bestehen aus Verflechtungen von mehrgenerationalem Geschichtsbewusstsein und familiär weitergetragenen Traumata. Die Anwesenheit, die Stimmen und die Kämpfe der Selbstorganisationen zur Sichtbarmachung des Porajmos und Aneignung der eigenen Geschichte nach 1945 müssen erinnert und geehrt werden. 

Keine Überlebenden des Porajmos sollten in den Nürnberger Prozessen Zeugnisse (1945-1949) ablegen. Sie blieben weiterhin in den Auschwitzprozessen (1963-1965, 1965-1966 und 1967-1968) in Frankfurt kaum sichtbar[6]. Es gab keine gerichtliche Anerkennung als rassifizierte Verfolgte bis zur Mitte der 1960er Jahre. Die Nazi-Erfassungen wurden in Polizeistellen in Bayern und bundesweit beibehalten und Teile davon wurden bis in die 1990er Jahre weiter in den polizeilichen Erfassungsdiensten bundesweit benutzt.

In Westeuropa gab es nie die politisch-sozialen und zwischenmenschlichen Bedingungen dafür, dass die Überlebenden des Porajmos öffentlich über die Auslöschung, die Traumata und das Überleben reden konnten/können. Reden impliziert eventuell nicht gehört und verstanden zu werden. Überlebende_r und öffentliche_r Zeug_in (in mündlicher, schriftlicher oder filmischer Form) zu sein, impliziert ein Lebensrisiko. Es kann eine Wiederholung des Traumas, der Schmerzen, des Verlustes und einer extremen Einsamkeit bedeuten. Denn damit eine solche Wiederholung nicht stattfindet, muss eine außenstehende Person mit Körper, Empathie und mit richtigem Abstand gegenüber stehen, die auch nicht absurderweise aufgrund der begangenen Ermordungen, Traumatisierungen und Rassismen von den Überlebenden selbst getröstet werden muss. Wenn eine Gesellschaft verneinend und sich drückend vor dem Sich-Stellen, wie die deutsche, handelt und sich auf die Abwesenheit, die Auslassungen der Überlebenden der Verbrechen aufbaut, wird die Wahrscheinlichkeit oder das Risiko des Wiedererlebens der Schmerzen durch die post-genozidale dominante Gesellschaft eine Tatsache, vor der man sich beschützen muss und sich beschützt. Der Schriftsteller und Theoretiker Jean Améry, der die Shoah überlebt hat, betont: „Wichtiger aber [...] ist als Element des Weltvertrauens die Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert“ (Améry 1977, S. 44).

Ich möchte nicht für die Einzelnen sprechen, aber systematisch betrachtet gab es westeuropaweit nie wirklich die sozialen und kulturellen Bedingungen der Rezeption einer persönlichen Geschichte des Porajmos.

Revisionistische Praxen

Eine häufige Zuschreibung ist, dass „Sinti und Roma“ ihre Erfahrungen oder ihre Geschichte angeblich „verschleiern“ würden und eine Einheit ohne Archive wären. Im unmittelbaren Rassismus, im romantisierenden Rassismus, im Diskurs über „die“ Sinti und Roma als hilflose, zeitlose „Opfer aller Opfer“, wie bei den „Rettungsaktionen“ durch mitleidige Gadje, werden Sinti und Rroma bis heute de/ahistorisiert. Alle diese Weltwahrnehmungen, Diskurse und Praxen könnten wir auch systemisch im Kontext der Porajmos-Geschichte als verschiedene revisionistische Praxen betrachten.

Seit 1990 feiert die deutsche Gedenkpolitik sich zunehmend selbst und wird von vielen europäischen Regierungen in strategischer Weise bewundert. Die angeblich „aufgearbeitete“ Geschichte wird zur kulturellen Attraktion, ein spezieller Tourismus des 21. Jahrhunderts. Diese Geschichte kann aber nicht aufgearbeitet, sprich erledigt und abgeheftet werden. Mit einer solchen Sprache und Gedenkweise werden die Verhältnisse negiert und Revisionismus praktiziert.

Die offizielle Verleugnung und Verneinung des Porajmos bis 1986 hat von allen Schichten der dominanten Gesellschaft getragene Auslassungen produziert, die im Kontext des Rassismus in der BRD revisionistisch waren. Die Filmemacherin Melanie Spitta sagt am Anfang ihres Filmes „Das falsche Wort“:

„Weil bei euch so viele Hakenkreuzler übrig geblieben sind, die wussten, wie man eine Entschädigung an uns verhindert, war unser Kampf vergeblich... Ihr habt uns den Kopf abgeschlagen und sprecht von „Wiedergutmachung“. „Wiedergutmachung“ ist das falsche Wort, denn ihr habt euer Gefühl für Reue und Sühne vergessen.“

Wenig wurde von den Zeug_innen der Shoah und des Porajmos gelernt, was nur logisch sein kann, wenn die Nazi-Sprache und die Karrieren der Täter_innen sich weiterhin „komfortabel“ entwickeln konnten: Robert Ritter leitete ab 1947 psychiatrisierende „Fürsorgestellen“ in Frankfurt am Main, Eva Justin war zwischen 1937-1943 Kollegin von Ritter in der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“, ab 1948 hat sie als Kinderpsychologin mit Ritter in Frankfurt am Main gearbeitet. Ins Bundesarchiv kamen die Akten der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ erst 1980, über 35 Jahre nach deren Auflösung. Ritter und Justin hatten ab 1943 in den Konzentrationslagern Ravensbrück, Moringen und Uckermark Jugendliche erfasst und über deren Leben gerichtet. Leo Karsten war 1936-1945 unmittelbar für die Razzien in Berlin und die Deportationen nach Polen schuldig verantwortlich und war nach 1945 für die Diskriminierung und die Verfolgung der Sinti und Rroma in Karlsruhe verantwortlich. Joseph Eichberger, der im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Deportationen organisierte, wurde nach 1945 Leiter in der rassistischen sogenannten „Landfahrerzentrale“ im Landeskriminalamt in München.

Der Konsens der dominanten Gesellschaft sorgt dafür, dass es für möglich und richtig gehalten wird, dass die Täternachfolgegeneration von den Nazis lernen konnte. Die Autobiografien der Nazis Albert Speer (verantwortlich für die Rüstungsindustrie, die Zwangsarbeit, den Stadtbau) und Rudolf Höß (er war sowohl in Dachau als auch an der Spitze der Machthierarchie in Auschwitz-Birkenau, wo er über das Leben der Menschen richtete) zum Beispiel waren Bestseller. Eine inszenierte Verlockung.

Eine weitere Form des Revisionismus besteht darin, dass - wie Ruth Klüger und Imre Kertész beschreiben – die postnationalsozialistische deutsche Gesellschaft zynischerweise erwartet und denkt, dass die Überlebenden in Auschwitz und in den Konzentrationslagern „etwas gelernt“ haben sollten. Solche Gedankengänge sollten benannt werden, zum Beispiel als indirekter Revisionismus. Revisionistische Gedankengänge, Diskurse und Praxen sind nicht nur Verneinungen und Verleugnungen, sie sind auch von Auslassungen, Missachtungen, Dekontextualisierungen und Zuschreibungen geformt.

Das öffentliche Gedenken an den Porajmos basiert auf den Auslassungen und Abwesenheiten der Gebliebenen, Zurückgekommenen und Gekommenen. Dieses Gedenken geschieht immer noch ohne die Überlebenden im Alltag und zwar fast nur mit plötzlich hervorgezerrten Opfern als Alibi für das gute Gewissen. Drei Generationen mussten direkt oder indirekt Revisionismen erleben. Die Überlebenden des Porajmos werden nicht als selbstverständliche Akteur_innen wahrgenommen und darüber hinaus mitsamt der zweiten und dritten Generation nach dem Porajmos nicht als selbstverständlich hier lebende Personen. Die krassen Konsequenzen der europäischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zwischen 1933 und 1945 für den erlebten Rassismus nach 1945 werden bis heute negiert.

In Deutschland, Serbien, Italien, Ungarn und Frankreich können wir seit 5 Jahren zunehmend einen Ausdruck hören und lesen: „die Roma-Frage“. Diese Wortkombination wird von sehr unterschiedlichen Kanälen verwendet: Akademiker_innen, Journalist_innen, Politiker_innen. Der Ausdruck wird dadurch für viele Menschen „normal“ und normalisiert, unhinterfragt. Diese Wortkombination hat aber eine nationale Geschichte und eine europäische Geschichte, die bewusst und unbewusst negiert wird. Es handelt sich um eine faschistische Tradition - die europäischen Faschist_innen und Nazis formten diese Sprache, um Jüd_innen, Sinti und Rroma zu ermorden. Die Tradierung des Ausdrucks zeigt, dass faschistische und nazistische Elemente weiterhin ihren Platz in den heutigen Gesellschaften Europas haben. Die Ignoranz gegenüber der strukturellen Diskriminierung von Rroma und Sinti in Deutschland und in Europa, die Leichtigkeit, mit der deutsche Politiker_innen und Medien erneut „Asozialen-Diskurse“ produzieren, die Gewalt, mit der hier aufgewachsene Kinder sowie hier hinein sozialisierte Menschen abgeschoben werden, die gewaltvolle Ablehnung, mit der hier ankommende Rroma empfangen werden, zeugen von dem tiefen Erbe, von dem Fortwirken und dem Fortleben leicht abgewandelter und daher umso mächtiger Diskurse von unterschiedlichem Wert des menschlichen Lebens.

Opre Rroma

Es müssen mehr interdisziplinäre und europäische Projekte stattfinden, in denen Selbstorganisationen, Zeugenschaften und transgenerationelle Geschichte der Überlebenden und der nachfolgenden Generationen sichtbar sind.

Die Zeugenschaft der Filmemacherin Melanie Spitta wurde von den dominanten Gesellschaften abgewiesen. Sie wurde nicht anerkannt und nicht respektiert.

Dennoch ist sie da. Melanie Spitta sagt 1987 am Anfang ihres Films:

„Um ihr Leben zu retten, ist meine Mutter mit ihrer Familie nach Belgien geflohen. Eine vergebliche Hoffnung, denn nur wenige haben Auschwitz überlebt. Mein Bruder und unsere ganzen Kinder sind elend gemordet worden. Dafür habt ihr Deutschen Mut aufgebracht. Aber dafür einzustehen, wie diese Morde zustande gekommen sind und zugelassen wurden, fehlte den meisten von euch der Mut.“

 

Bibliografie und Literaturverweise:

Améry, Jean: „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten “. Stuttgart, Ernst Klett, 1977

Laub, Dori: „Erinnerungsprozesse bei Überlebenden und Tätern“. In: Brigitta Huhnke u.a. (Hg.): „Das Vermächtnis annehmen“. Bochum, Psychosozial Verlag, 2002,

Randjelovic, Isidora: „Auf vielen Hochzeiten spielen. Strategien und Orte widerständiger Geschichte(n) und Gegenwart(en) in Roma Communities“. In: Kien Ngi Ha u. a. (Hg.): „Re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland“. Münster, Unrast Verlag, 2007. Und in: http://inirromnja.wordpress.com/literatur/

Rose, Romani (Hg.), Frank Reuter und Silvio Peritore (Bearb.): „Den Rauch hatten wir täglich vor Augen ... Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma“. Heidelberg, 1999, Wunderhorn Verlag

Rosenberg, Otto: „Das Brennglas“. Berlin, Wagenbach Verlag, Wiederauflage 2012

Spitta, Melanie „Wir sind Sintikinder und keine Zigeuner“ (21 min, 1981)

„Es ging Tag und Nacht, liebes Kind: Zigeuner (Sinti) in Auschwitz“ (75 min, 1982)

„Das falsche Wort: Wiedergutmachung an Zigeunern (Sinti) in Deutschland?“ (ZDF, 83 min, 1987) Regie: Katrin Seybold, Drehbuch: Melanie Spitta

Stojka, Ceija: „Wir leben im Verborgenen. Aufzeichnungen einer Romni zwischen den Welten“. Wien, Picus Verlag, Wiederauflage 2013

Strauß, Adam (Hg.): „Flucht, Internierung, Deportation, Vernichtung: hessische Sinti und Roma berichten über ihre Verfolgung während des Nationalsozialismus“. [Medienkombination: verschriftlichte Interviews + CD-ROM] 2005, Seeheim, I-Verb.de, 2005

Strauß, Daniel (Hg.): „… weggekommen. Berichte und Zeugnisse von Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben“. Berlin/Wien, Philo Verlag, 2000

Wajs, Bronisława | Papusza: „Papuscha“. Berlin, Unabhängige Verl.-Buchhandlung Ackerstraße, 1992

http://inirromnja.wordpress.com/literatur/

 

Das Rroma Informations Centrum befindet sich in der Fuldastraße 41 in Berlin. Seit der Gründung der Rrom_nja-Selbstorganisation in 2011 arbeiten die überwiegend ehrenamtlich engagierten Aktivist_innen vornehmlich Berlinweit mit einem Schwerpunkt auf Neukölln. Das Rroma Informations Centrum schafft soziale und kulturelle Gestaltungsräume, Empowerment und selbstverständlich geteilten Alltag für Sinti und Rroma. Ein wichtiger Bestandteil zur Reflexion und zum Verständnis unserer aktuellen Situation ist die Erinnerungsarbeit, also der Bezug auf die Vergangenheit. Das Rroma Informations Centrum ist sowohl ein Schutzraum als auch ein Ort des Austausches für Erwachsene, Kinder und Jugendliche, die von einem allgegenwärtigen Rassismus betroffen sind. Daher stellt es einen Raum dar, in dem wir die Möglichkeit haben, uns Kenntnisse, Sichtweisen und Erfahrungen anzueignen und dieses Wissen innerhalb und außerhalb der Community weiterzugeben. www.roma-info-centrum.de

 

[1] Siehe Zeugenschaft von Ceija Stojka im Film „L’autre génocide“ von Juliette Jourdan und Idit Bloch

[2] Himmler ordnete 1938 die Einrichtung einer zentralisierten Stelle beim Reichskriminalpolizeiamt in Berlin an, die die Erfassung und Verfolgung der Sinti und Rroma koordinierte und verschärfte. Im Zuge der Massenverhaftungen 1938-1939 in Deutschland wurden über 2000 Sinti und Rroma in die Konzentrationslager Ravensbrück, Sachsenhausen, Dachau, Buchenwald und Mauthausen deportiert.

[3] In Deutschland sagten 20 Prozent der Menschen 2014 in einer Umfrage der TU Berlin aus, noch nie etwas über den Genozid an Sinti und Rroma während des Nationalsozialismus gehört zu haben. In der Gruppe der 25 bis 34-jährigen sagten fast 35% der Menschen aus, kein Wissen über den Genozid zu verfügen. (Siehe Migazin: http://www.migazin.de/2014/04/11/sinti-und-roma-unbeliebt-trotz-integra…)

[4] Siehe das vom Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma 2009 veröffentlichte Buch „Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion“ von Martin Holler

[5] „Der Aufstand der Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau am 16. Mai 1944, als die KZ-Kommandantur versuchte, die zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Angehörigen unserer Minderheit in den Gaskammern zu ermorden, nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein. Im Gedächtnis der Überlebenden symbolisiert dieser Tag bis heute den Widerstand gegen eine übermächtige Vernichtungsmaschinerie. Zugleich steht dieses Datum stellvertretend für die vielfältigen anderen Formen des Widerstands von Sinti und Roma gegen die nationalsozialistische Barbarei.“ Romani Rose, in: Materialdienst, 2004  http://www.imdialog.org/md2004/03/0304_11.htm

[6] Eine der wenigen zugelassenen Zeugschaften über den Porajmos war die von Max Friedrich. Seine Vernehmung beim ersten Auschwitzprozess hat 1964 stattgefunden. 

Vgl. http://www.auschwitz-prozess-frankfurt.de/index.php?id=73 und http://www.auschwitz-prozess-frankfurt.de/index.php?id=56