Das von den Migrationsforscherinnen Jenny Jesuthasan und Ingar Abels kuratierte Dossier „Frauen und Flucht“ beleuchtet die Situation geflüchteter Frauen vor, während und nach ihrer Flucht. Das Dossier legt den Fokus sowohl auf Vulnerabilitäten, aber auch auf die Ressourcen und die Resilienz geflüchteter Frauen. Hieraus leiten die Autorinnen politische, rechtliche und zivilgesellschaftliche Rahmenbedingungen und Maßnahmen ab, durch die Frauen gestärkt und entlastet werden können.
Am 31. Oktober 2000 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat einstimmig die UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“. In ihr wurden erstmals Konfliktparteien dazu aufgerufen, die Rechte von Frauen zu schützen und Frauen gleichberechtigt in Friedensverhandlungen, Konfliktschlichtung und den Wiederaufbau mit einzubeziehen. Wir wissen, dass die Beteiligung von Frauen in Form von Mediatorinnen, Unterzeichnerinnen und Beraterinnen entscheidend ist für den Erfolg und die Nachhaltigkeit von Friedensprozessen.[1] Erik Melander und Margit Bussmann zeigten beispielsweise mittels statistischer Analysen von 110 Ländern im Zeitraum von 1985 bis 2000, dass der innere Frieden in einer Gesellschaft durch die politische Repräsentation von Frauen stabilisiert wird, ebenso durch ihre ökonomische Teilhabe am Arbeitsmarkt und ihren Zugang zu Gesundheit und Bildung. Stärkere Gleichstellung der Geschlechter befördert laut ihrer Studie außerdem eine gute Regierungsführung, Entwicklung und Demokratie. Auch Kate Pickett und Richard Wilkinson zeigen, dass Menschen (Frauen ebenso wie Männer) in Gesellschaften mit vergleichsweise viel Egalität – ökonomischer Gleichheit und Geschlechtergleichheit – gewaltärmer, länger und zufriedener leben und gesünder sind.[2]
Diese Perspektive der Förderung und Stärkung von Frauen als Querschnittsaufgabe der Innen- und Außenpolitik zieht sich durch alle Beiträge dieses Dossiers. Vor dem Hintergrund der äußerst unzureichenden Umsetzung der Resolution in Deutschland und anderen Ländern der Welt erscheint eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Frauen und Flucht äußerst wichtig.
Im Kontext von Flucht und erzwungener Migration ergibt sich eine Reihe geschlechtsspezifischer „Vulnerabilitäten“ (Verwundbarkeiten), beispielsweise aufgrund von Genitalbeschneidung, häuslicher und sexualisierter Gewalt und verschiedener Formen der Unterdrückung in patriarchalen Strukturen. Eine weitere Vulnerabilität, aber zugleich auch eine Ressource geflüchteter Frauen ist häufig ihre Verantwortung für die Familie. Insbesondere allein reisende Frauen und Mädchen sowie Schwangere werden Opfer von Übergriffen auf der Flucht, aber auch in Einrichtungen in Deutschland.[3] Solche Vulnerabilitäten, aber auch die psychischen Folgen der betroffenen Frauen und die Auswirkungen auf Kinder und Familie werden in den folgenden Beiträgen behandelt.
Die Autorinnen präsentieren präventive Maßnahmen, damit Resilienz – also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen – gefördert und die Entwicklung von Symptomen, die chronisch werden („Chronifizierung“), entgegengewirkt werden kann. Ein Ziel ist dabei auch Weitergabe von Belastungen über Generationen zu unterbrechen.
Welche Prämissen müssen dabei beachtet werden? Wie können Frauen und Mädchen in ihren Herkunftsländern, aber auch in Deutschland geschützt werden und in der Entwicklung dieser Maßnahmen wichtige Akteurinnen sein? Welche Strategien und gesellschaftlichen Allianzen sind notwendig, um geflüchteten Frauen ökonomische Selbstständigkeit und Teilhabe auf allen Ebenen zu ermöglichen?
Insgesamt sollen geflüchtete Frauen und ihre Anliegen sichtbar gemacht werden. Hierfür werden die aufgeworfenen Fragen von unseren Autorinnen und Autoren aus vielen Perspektiven eingekreist:
Der erste Teil des Dossiers beleuchtet die Bedingungen in den Herkunftsländern sowie die Erfahrungen auf der Flucht.
Die Aktivistin Selmin Çalışkan betrachtet in ihrem Beitrag „Warum Frauen fliehen“ zunächst vielfältige Fluchtursachen sowie Fluchtbedingungen. Sie arbeitet überdies Folgen von Gewalt gegen Frauen heraus und benennt politische Forderungen.
Die afghanische Journalistin Shakeela Ebrahimkhil wirft in ihrem Text „Die andere Hälfte“ anschließend einen Blick auf die Situation afghanischer Frauen in ihrem Herkunftsland, auf der Flucht und in Europa. Sie schildert die patriarchalen Strukturen in Afghanistan ebenso wie die Kämpfe afghanischer Frauen für mehr Teilhabe und Gleichberechtigung. Letztlich beschreibt sie, wie die Gewalt gegen afghanische Frauen auch in Deutschland anhält und formuliert einen Appell an die Bundesregierung, Frauen aus Afghanistan nicht im Stich zu lassen.
In dem Beitrag „Ikhlas Bajoos neues Leben“ erzählt die Journalistin Gesa Steeger anschließend die Geschichte einer Jesidin aus dem Norden Iraks. Die damals 14-Jährige befand sich monatelang in Gefangenschaft des Islamischen Staats, bis ihr aus eigener Kraft die Flucht gelang. Sie lebt zurzeit in Süddeutschland und versucht dort, ihre traumatischen Erfahrungen zu bewältigen.
Im zweiten Teil des Dossiers reflektieren die Autorinnen die Aufnahmesituation in Deutschland und Europa wie die juristischen Rahmenbedingungen.
Die Migrationsforscherinnen Yasemin Bekyol und Petra Bendel beleuchten in ihrem Text „Aufnahmepolitik und Aufnahmebedingungen geflüchteter Frauen“ zunächst das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sowie die EU-Aufnahmerichtlinien und die Situation für Frauen in den Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland.
Darauf aufbauend skizziert die Juristin Armaghan Naghipour in ihrem Artikel „Die rechtlichen Rahmenbedingungen für geflüchtete Frauen in Deutschland“ die juristische Praxis, etwa in Bezug auf die Schulung von Dolmetscherinnen oder die rechtliche Situation im Falle einer Scheidung. Sie zieht konkrete Schlüsse für die Rechtsberatung geflüchteter Frauen, damit diese ihre Rechte auch umfassend nutzen können.
Der dritte Teil des Dossiers beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Gesundheit. In ihrem einführenden Beitrag „Zusammenfassung der Study on Female Refugees“ stellen die Migrationsforscherinnen Meryam Schouler-Ocak[BR1] und Ingar Abels eine Studie der Charité vor, die mit Hilfe von über 600 standardisierten Befragungen und neun Fokusgruppen die psychosoziale Situation geflüchteter Frauen in Deutschland abgebildet hat, um die Ergebnisse in die Politik zu tragen.
Die Migrationsforscherin und Psychotherapeutin Meryam Schouler-Ocak skizziert in ihrem Beitrag „Interkulturelle Psychotherapie mit geflüchteten Frauen“ darauf aufbauend die psychotherapeutische Behandlung geflüchteter Frauen, die oft Traumatisierungen erlebt haben. Sie schildert die notwendige Kultursensibilität dieser Arbeit und welche Bedingungen für eine erfolgreiche Therapie geschaffen werden müssen.
Die zentrale Frauenbeauftragte der Charité, Christine Kurmeyer, und die Migrationsforscherin Ingar Abels stellen schließlich in ihrem Beitrag "Die Gesundheit geflüchteter Frauen stärken" [BR2] zwei Berliner Initiativen vor, die zum einen mit aufsuchenden Gesprächskreisen zum Thema Frauengesundheit Gemeinschaftsunterkünfte besuchen und zum anderen in Form eines Runden Tisches Akteur/innen in der Unterstützung geflüchteter Frauen vernetzen und sichtbar machen sollen.
Um die Schnittstelle zwischen Frauengesundheit und Strategien der Selbstermächtigung mit Hilfe von konkreten Erfahrungen aus der Praxis greifbar zu machen, fand gemeinsam mit vier Mitarbeiterinnen des Familienplanungszentrums Berlin – BALANCE eine Gesprächsrunde zu den Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft im Kontext von Flucht statt, über deren Ergebnisse Anna Anslinger und Katrin Stoffel im Beitrag „Liebe, Sexualität und Partnerschaft von Frauen mit Fluchterfahrung“ berichten.
Welche Strategien und gesellschaftliche Allianzen sind notwendig, um geflüchteten Frauen Selbstständigkeit und Teilhabe auf allen Ebenen zu ermöglichen? Aufbauend auf den versammelten Beiträgen begibt sich der abschließende Teil des Dossiers schließlich auf die Suche nach erprobten Strategien der Selbstermächtigung.
Die Sozialanthropolog/innen Hansjörg Dilger, Laura Scott und Camila von Hein schildern in ihrem Beitrag „Partizipation als Grundlage für Empowerment“ eine studentische Initiative, in der geflüchtete Frauen partizipativ in einem Forschungskollektiv ihre Anliegen thematisieren und gemeinsam Materialien entwickeln, die Frauen mit Fluchterfahrung helfen, ihren Alltag in Berlin besser zu bewältigen.
Weitere Angebote und Selbstorganisationen aus verschiedenen Bundesländern im Bereich Empowerment von Frauen mit Fluchterfahrung stellen Finja Henke und Anna Anslinger im abschließenden Beitrag „Erfahrungen aus der Praxis: Erprobte Strategien der Selbstermächtigung und des Empowerments“ vor.
Literatur
Bussmann, Margit (2010): Political and Socio-economic Aspects of Gender Equality and the Onset of Civil War. Sicherheit und Frieden 1/2010. S. 6 -12.
Melander, Erik (2005): Gender Equality and Intrastate Armed Conflict. International Studies Quarterly 49. S. 695- 714.
Pickett, Kate/Wilkinson, Richard (2010): Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Tolkemitt bei Zweitausendeins.
Rabe, Heike (2015): Effektiver Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften. Policy Paper Nr. 32. Deutsches Institut für Menschenrechte.
UNWOMEN (2015): Preventing Conflict, Transforming Justice, Securing the Peace: A Global Study on the Implementation of United Nations Security Council resolution 1325.
[1] UNWOMEN (2015).
[2] Vgl. etwa Melander (2005); Bussmann (2010) sowie Pickett & Wilkinson (2010).
[3] Rabe, Heike (2015)