Gleichzeitigkeit aushalten: Was der deutsche Diskurs von der demokratischen Zivilgesellschaft Israels lernen kann

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen in Israel, wie die jüdisch-arabische Grassroot-Initiative "Standing Together", setzen auf Solidarität und Empathie für beide Seiten. Ein Ansatz, der auch den deutschen Diskurs bereichern könnte.

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Protestierende halten Transparente mit der Aufschrift "Standing Together" auf Hebräisch hoch, bei einem Protest in Tel Aviv 2021.
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"Gemeinsam gegen die Gewalt" - Protestierende der Initiative "Standing Together" in Tel Aviv, 2021.

Am 9. Oktober 2023 postete die israelische Menschenrechtsaktivistin Sahar Vardi auf Facebook einen Beitrag unter der Überschrift „Doppelte Loyalität”. Vardi engagiert sich seit 2022 für die Rechte von Palästinenser:innen in den von Israel besetzten Gebieten in Ostjerusalem und dem Westjordanland. Der Begriff „doppelte Loyalität” wird von rechten Kräften in Israel verwendet, um Aktivist:innen wie Vardi des Verrats an ihrem Land zu bezichtigen. In dem Facebook-Beitrag schlug Vardi nun vor, den Begriff neu zu besetzen, um damit Empathie für das Leid sowohl von Israelis wie auch von Palästinenser:innen zum Ausdruck zu bringen. Zwei Tage nach den Terrorangriffen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen auf Israel, bei denen 1.200 Menschen brutal ermordet und 250 als Geiseln verschleppt wurden, und angesichts der zivilen Opfer bei den darauffolgenden israelischen Luftangriffen auf Gaza, schrieb sie: „‘Doppelte Loyalität‘ bedeutet, beides zu sehen und dabei Tränen in den Augen zu haben.” Vardi beschrieb den Schmerz von israelischen Freund:innen, deren Angehörige ermordet oder verschleppt wurden, sowie die Angst eines Freundes in Gaza, der jede Nacht um sein Leben und das seiner Kinder bange. Doppelte Loyalität bedeute, doppelten Schmerz zu fühlen und die Fähigkeit zu bewahren, Menschlichkeit gegenüber allen Menschen zu zeigen. „Und das ist schwer”, reflektierte Vardi. „Es ist so viel einfacher, ‚eine Seite zu wählen‘ - es ist fast egal, welche. Entscheide dich einfach für eine Seite und bleib dabei, um zumindest den Schmerz zu verringern, den du empfindest. Um sich wenigstens als Teil einer Gruppe zu fühlen und nicht so allein mit all dem.”

Der Imperativ, sich im israelisch-palästinensischen Konflikt „für eine Seite zu entscheiden” und die daraus resultierende Einsamkeit israelischer Menschenrechts- und Friedensaktivist:innen, die Vardi hier beschreibt, sind natürlich nicht neu. Angesichts der selbst für diesen Konflikt präzedenzlosen Eskalation der Gewalt und des Ausmaßes an Leid von Zivilist:innen, scheinen die Räume für Gleichzeitigkeit jetzt aber gänzlich verschwunden zu sein.

Einschränkung der Meinungsfreiheit in Israel

Innerhalb Israels werden Appelle für Empathie mit palästinensischen Opfern des Krieges, für die Universalität von Menschenrechten und die Achtung des Völkerrechts zur Belastungsprobe oder sogar zur Gefahr. Menschenrechtsorganisationen werden seit Jahren von rechten, oftmals der Siedlerbewegung nahestehenden NGOs und Medien als Feind:innen Israels diffamiert. Im aktuellen Krieg zwischen Israel und der Hamas werden Kritiker:innen des militärischen Vorgehens Israels vermehrt verbal, physisch oder durch das sogenannte Doxxing, d.h. das Veröffentlichen privater Telefonnummern oder Adressen, angegriffen. Auch schränken die israelischen Sicherheitsbehörden die Meinungsäußerung im öffentlichen Raum und in sozialen Medien zu dem Krieg in Gaza stark ein. Demonstrationen für einen Waffenstillstand wurden insbesondere in den ersten Monaten des Krieges immer wieder verboten und nur auf Anordnung von Gerichten wieder zugelassen. Die Einschränkungen der Meinungsfreiheit treffen palästinensische Staatsbürger:innen Israels in besonderem Maße. Die Bürgerrechtsorganisation Adalah - The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel berichtet von hunderten Fällen, in denen palästinensische Israelis für Postings in sozialen Medien ihre Anstellung verloren, von Universitäten suspendiert oder sogar von der Polizei oder dem Inlandsgeheimdienst verhört und verhaftet wurden. Dabei habe es sich in der absoluten Mehrzahl der Fälle um Bekundungen der Anteilnahme mit zivilen Opfern in Gaza oder Ausdrücke palästinensischer oder muslimischer Identität gehandelt, die fälschlicherweise als Unterstützung der Taten der Hamas oder Anstiftung zu Terrorismus gewertet worden seien, so der Bericht der Organisation. Adalah spricht daher von einem „drakonischen Vorgehen gegen die Rechte der palästinensischen Bürger:innen Israels auf freie Meinungsäußerung” und einer „noch nie dagewesenen Welle von Disziplinarmaßnahmen an Universitäten und Hochschulen”, die zur Unterdrückung kritischer Stimmen und Selbstzensur, insbesondere unter palästinensischen Israelis, führe.

Fehlende Solidarität und die Herausforderung, menschlich zu bleiben

Außerhalb Israels, in weiten Teilen progressiver Bewegungen und der internationalen Menschenrechts-Community, auf Protestmärschen gegen den Krieg in Gaza, in Diskursen in sozialen Medien und an Universitäten, war und ist zu oft kein Platz für die Opfer der Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 und die aus Israel verschleppten Geiseln. Wie israelische und jüdische Frauenrechtsaktivist:innen kritisieren, äußerte sich etwa die UN-Frauenrechtsorganisation UN Women erst nach zwei Monaten zu der brutalen sexualisierten Gewalt gegen israelische Frauen und Mädchen am 7. Oktober 2023. Zuvor hatte eine israelische Grassroot-Initiative unter dem Slogan „Me too, unless you‘re a Jew“ weltweit Proteste angestoßen, die die fehlende Solidarität mit israelischen Frauen beklagten. Im März 2024 veröffentlichte die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten schließlich einen Bericht, der sexuelle Gewalt während der Terrorattacken auf Israel bestätigte und feststellte, dass es „vernünftige Gründe für die Annahme gibt, dass solche Gewalt gegen die noch gefangenen Geiseln fortgesetzt wird“. 

Teils wurden und werden die Massaker im Süden Israels sowie der Beschuss Israels mit Raketen aus Gaza, dem Libanon und Jemen als Akte des legitimen Widerstandes verklärt. Dabei wird die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts auf den vermeintlichen Dualismus von (israelischem) Siedlerkolonialismus und (palästinensischem) antikolonialen Widerstand reduziert. Komplexitäten, Widersprüche und Aushandlungen innerhalb der israelischen Gesellschaft wie auch die Verfolgungs- und Migrationserfahrungen jüdischer Menschen nach Israel werden unterschlagen und letztendlich die Prinzipien der Universalität von Menschenrechten verraten. Ähnlich argumentiert auch der renommierte israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard in einem am 23. Oktober 2023 erschienenen Artikel, der sowohl die Dehumanisierung von Palästinenser:innen durch die israelische Regierung als auch die Rechtfertigung der Terrorangriffe vom 7. Oktober 2023 in der „progressiven Linken” anprangert: „Der Kampf für die Beendigung der Besatzung und die Unabhängigkeit des palästinensischen Volkes ist Teil des universellen Kampfes für die Verteidigung der Menschenrechte aller Menschen und nicht umgekehrt”, schreibt Sfard und appelliert nochmals an die israelische Seite: „Menschlich zu sein ist harte Arbeit. Angesichts unmenschlicher Grausamkeiten menschlich zu bleiben, ist noch viel schwieriger.”

Standing Together: „Ihr könnt das auch schaffen“

Eine der israelischen Stimmen, die weiterhin auf Menschlichkeit, Solidarität mit Zivilist:innen auf beiden Seiten und eine gemeinsame Zukunft für Israelis und Palästinenser:innen beharren, ist die jüdisch-arabische Grassroot-Initiative Standing Together. Unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 organisierte sie in Städten wie Haifa, Jerusalem, Lod und Ramle Versammlungen und Kundgebungen jüdischer und palästinensischer Nachbar:innen, um einen gemeinsamen Raum für Trauer, Schmerz und Angst zu schaffen und rassistischer Aufwiegelung und Hassrede entgegenzutreten. Unter dem Slogan „Gemeinsam werden wir das durchstehen” leisteten die Aktivist:innen von Standing Together auch praktische Hilfe, packten Lebensmittelpakete für bedürftige Familien, besuchten Angehörige von Geiseln und richteten Luftschutzbunker her. Im Mai machte die Initiative weltweit Schlagzeilen mit ihrer „Humanitären Garde”, die Lebensmittellieferungen für die Zivilbevölkerung in Gaza und palästinensische Anwohner:innen in der Altstadt Jerusalems vor den Übergriffen israelischer Siedler schützte. Entgegen vorherrschender Diskurslogiken, die eine einseitige und exklusive Parteinahme in dem Konflikt fordern, besteht Standing Together auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen israelisch-palästinensischen Perspektive auf den Konflikt und mögliche Auswege. In den Worten der Ko-Direktorin der Initiative Rula Daood: „Wie viel Blut wird noch vergossen werden, bevor wir verstehen, dass das Schicksal von Israelis und Palästinensern miteinander verbunden ist? Das heißt, dass wir entweder alle in Frieden und Freiheit leben oder keiner von uns.“ Auch an Aktivist:innen im Ausland richten Standing Together eine klare Botschaft. Wie Ko-Direktor Alon-Lee Green im Dezember letzten Jahres bei einer Veranstaltung in Berlin sagte: „Wenn Israelis und Palästinenser in Israel in der Lage sind, diese Komplexität aufrechtzuerhalten, und sowohl für Israelis als auch für Palästinenser zu trauern, dann könnt ihr das auch schaffen.“

Multiperspektivische Räume schaffen

Was also können wir von zivilgesellschaftlichen Initiativen in Israel darüber lernen, wie es uns auch in Deutschland gelingen kann, mit Empathie für beide Konfliktparteien über Israel und Palästina zu sprechen und Räume für die Gleichzeitigkeit von Trauer und Schmerz zu schaffen? Zunächst einmal braucht es die aktive Entscheidung, multiperspektivische Räume einrichten zu wollen, zu schaffen und offen zu halten und Regeln für den gemeinsamen Austausch auszuhandeln, auch wenn dies nicht immer einfach ist. Auch zehn Monate nach Ausbruch des Krieges höre ich von deutschen NGOs und Think Tanks, Vereinen und Ortsgruppen von Parteien, in denen es noch keinen internen Austausch zu dem Thema gab, weil das Thema „zu heiß” sei oder man sich der Diskussion nicht gewappnet fühle. Doch wenn Kontroversen nicht ausgetragen werden, treten Spannungen und Antagonismen innerhalb von Organisationen an anderen Stellen zutage, oft zulasten von direkt oder indirekt vom Konflikt betroffenen Menschen, die mit Trauer und Angst um Angehörige und Freund:innen alleingelassen werden. Und wenn selbst in halböffentlichen, zivilgesellschaftlichen Räumen kein Austausch möglich ist, wie soll es dann gelingen, der gesamtgesellschaftlichen Polarisierung wirkungsvoll entgegenzutreten? 

Professionelle Mediator:innen und Moderator:innen sowie Inputs von Expert:innen für die Geschichte und Politik der Region können helfen, den Rahmen und die Regeln für den Austausch abzustecken. Die Grenzen zwischen freier Meinungsäußerung und menschenfeindlichen oder antisemitischen Äußerungen müssen transparent gemacht werden und universell gelten. Dazu zählt, dass Statements, die die Existenz der einen oder anderen Seite in dem Konflikt negieren, inakzeptabel sind, egal ob es sich um Aufrufe zur Zerstörung des israelischen Staates oder Fantasien von einem Großisrael vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer und von einer Vertreibung aller Palästinenser:innen handelt. 

Auch ein besseres Verständnis der Komplexitäten der israelischen und palästinensischen Geschichte und Realität im Allgemeinen und des 7. Oktober 2023 im Speziellen kann dazu beitragen, vermeintlich unversöhnliche Positionen zu hinterfragen und Platz für Gleichzeitigkeit zu schaffen. Zu diesen Komplexitäten gehört, dass es unter Opfern des 7. Oktober 2023, wie auch unter den mehr als 240 nach Gaza verschleppten Geiseln, zahlreiche Israelis wie die Friedensaktivistin Vivian Silver gab und gibt, die sich ihr Leben lang für die Rechte und Selbstbestimmung der Palästinenserinnen und Palästinenser und ein Ende der Besatzung einsetzten. Dazu gehört auch, dass die Terroristen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen nicht zwischen jüdischen und palästinensischen Bürger:innen Israels unterschieden. So wurden am 7. Oktober 2023 24 palästinensische Bürgerinnen und Bürger Israels getötet und neun entführt. Die meisten von ihnen waren Beduinen, die zum Teil in von Israel nicht anerkannten Dörfern leben und daher nicht durch das Abwehrsystem Iron Dome vor Raketenbeschuss geschützt wurden.

Eine friedliche Perspektive ist nur zusammen möglich

Seitdem sind mehr als zehn Monate vergangen, in denen nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen 40.000 Palästinenser:innen getötet und 92.000 verletzt wurden. Noch immer werden 101 Geiseln aus Israel in Gaza festgehalten [Stand: 3.9.2024], 100.000 Menschen aus dem Norden und Süden Israels sind innerhalb des Landes evakuiert und die Angst vor einem Angriff des Irans und/oder der Hisbollah auf Israel ist allgegenwärtig. Im Schatten des Krieges ist die Siedlergewalt gegen Palästinenser:innen im besetzten Westjordanland eskaliert, zahlreiche Einwohner palästinensischer Dörfer wurden vertrieben und mehr als 600 Palästinenser:innen getötet. Umso dringender ist es, mit Blick auf den anstehenden Jahrestag der Terrorangriffe vom 7. Oktober 2023 Räume für Trauer um alle zivilen Opfern des Konflikts – etwa nach dem Vorbild der alljährlich in Tel Aviv stattfindenden „Joint Israeli-Palestinian Memorial Ceremony” von Combatants for Peace und dem Parents Circle – zu schaffen. Außerdem müssen auch in Deutschland diejenigen zivilgesellschaftlichen Stimmen hörbarer werden, die sich, wie Standing Together, für eine friedliche und gleichberechtigte Zukunft sowohl für Israelis als auch für Palästinenser:innen einsetzen. Denn, wie Sahar Vardi abschließend schreibt, der Impuls „sich für eine Seite zu entscheiden” ist trügerisch und der Suche nach Lösungen für den Konflikt nicht dienlich. „Als ob das wirklich eine Option wäre”, so Vardi. „Als ob wir nicht bereits verstehen würden, dass unser Schmerz miteinander verwoben ist; dass es keine Lösung nur für den Schmerz [der Menschen] von Ofakim [im Süden Israels] gibt, ohne eine Lösung für den Schmerz [der Menschen ] von Khan Yunis [im Gaza-Streifen].”