2015 zeigte Deutschland, was möglich ist, wenn Empathie stärker ist als Angst. Zehn Jahre nach "Wir schaffen das" steht das Land an einem neuen Wendepunkt: Zwischen dem Anspruch auf Humanität und den Realitäten einer immer restriktiveren Migrationspolitik.

1. Der Sommer der Migration – und das Erwachen Europas
Es war ein Sommer, der Europa veränderte.
Ein Sommer, in dem Grenzen zu Menschenlinien wurden – und Bahnhöfe zu Orten der Hoffnung. 2015 war kein Zufall, sondern ein moralischer Moment, der sich gegen politische Berechnung stemmte. Hunderttausende Menschen kamen – nicht, weil sie wollten, sondern weil sie mussten. Sie flohen vor Krieg, Hunger, Zerstörung.
An deutschen Bahnhöfen standen Freiwillige mit Blumen und Schildern: Refugees Welcome. Diese zwei Worte wurden zur Überschrift einer Gesellschaft, die sich selbst überraschte. Deutschland zeigte, was möglich ist, wenn Empathie stärker ist als Angst.
Und zugleich, was geschieht, wenn politische Strukturen versagen.
Denn die Krise von 2015 war nicht das Resultat der Flucht, sondern das Resultat des politischen Zögerns. Europa hatte jahrelang zugesehen, wie die Lager im Libanon, in der Türkei, in Jordanien überquollen, wie Kinder in Zelten aufwuchsen, ohne Schule, ohne Zukunft. Als die Menschen sich schließlich auf den Weg machten, reagierten Regierungen überrascht – obwohl sie alles hätten wissen können.
Angela Merkel entschied, die Grenzen offen zu lassen. Ein Satz blieb:
„Wenn wir anfangen, uns entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Es war eine Entscheidung, die Geschichte schrieb – und Widerspruch gebar. Denn wo Humanität beginnt, endet oft der Konsens.
2. Föderaler Ausnahmezustand – und das Versagen der Strukturen
Deutschland zeigte Mitgefühl – aber keine Vorbereitung. Während in München, Köln, Hamburg bis nach Flensburg Menschen Geflüchtete mit offenen Armen empfingen, suchten Verwaltungen verzweifelt nach Betten, nach Dolmetschern, nach Ordnung im Chaos. Turnhallen wurden zu Heimen, Zelte zu Städten, Bürokratien zu Hindernissen.
Die Kommunen waren das Rückgrat dieser Krise. Sie organisierten, improvisierten, integrierten. Und sie taten es oft allein.
Wir haben unter schwierigsten Bedingungen viel erreicht. Umso bitterer ist es, dass diese Erfolge heute oft verschwiegen oder kleingeredet werden. Ein stiller Verrat an den Vielen, die vor Ort Verantwortung übernommen haben.
Es war die Stunde der Zivilgesellschaft: Nachbar*innen öffneten ihre Wohnungen, Initiativen gründeten Sprachcafés, Vereine sammelten Spenden. Diese spontane Humanität war kein Zufall – sie war der Beweis, dass Solidarität inmitten institutioneller Überforderung entstehen kann. 2015 und 2022 standen für Humanität und Solidarität. Humanity at its best!
Wir haben unter schwierigsten Bedingungen viel erreicht. Umso bitterer ist es, dass diese Erfolge heute oft verschwiegen oder kleingeredet werden. Ein stiller Verrat an den Vielen, die vor Ort Verantwortung übernommen haben.
3. Vom Willen zur Wende
Der Aufbruch von 2015 hatte kaum begonnen, da folgte der Gegenschlag. Was als humanitäres Versprechen begann, wurde zum politischen Spaltpilz. Debatten über Obergrenzen, Integrationspflichten, „Leitkultur“. Brandanschläge auf Unterkünfte. Ein Land zwischen Stolz und Erschöpfung, Solidarität und Zynismus.
Die Willkommenskultur wurde zur Projektionsfläche: Für manche Symbol einer offenen Gesellschaft, für andere Beweis eines angeblichen Kontrollverlusts.
Zehn Jahre danach steht Deutschland an einem neuen Wendepunkt: Zwischen dem Anspruch auf Humanität und den Realitäten restriktiverer Migrationspolitik zeigen sich Brüche – aber auch Lernprozesse. Während die Integration vieler Geflüchteter auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft erhebliche Fortschritte gemacht hat, verschärfen sich zugleich politische und gesellschaftliche Polarisierungen.
Angesichts des demografischen Wandels stellt sich die Frage, ob Deutschland aus den Erfahrungen der letzten Dekade eine zukunftsfähige Balance zwischen Schutz, Teilhabe und gesteuerter Arbeitsmigration entwickeln kann.
4. 2022 – Die zweite Zäsur: Die selektive Humanität
Als 2022 der Krieg in der Ukraine ausbrach, wiederholte sich Geschichte – nur unter anderen Vorzeichen. Über 1,6 Millionen Ukrainer:innen kamen nach Deutschland. Diesmal war der Staat vorbereitet, die Strukturen funktionierten, der gesellschaftliche Konsens war breit. Vieles verlief, wie es sein könnte: Unterbringung, Registrierung, Arbeitsmarktzugang – alles ging schneller, koordinierter, pragmatischer.
Und doch blieb eine leise Frage: Warum galt das Mitgefühl hier so selbstverständlich, während syrische oder afghanische Familien an Europas Außengrenzen weiter abgewiesen wurden? Die Humanität Europas – selektiv angewandt, politisch dosiert. Ein Lehrstück über Empathie und ihre Grenzen.
5. Zwischen Hoffnung und Härte
Zehn Jahre danach lässt sich Bilanz ziehen. Deutschland ist vielfältiger, widersprüchlicher, reifer geworden. Über 60 Prozent der seit 2015 gekommenen Schutzsuchenden sind heute erwerbstätig. Viele sprechen Deutsch, haben Jobs, Familien, Perspektiven – und sind Staatsbürger*innen. Die deutsche Wirtschaft hat profitiert – still, aber messbar.
Und doch wird diese Realität selten gewürdigt. Erfolge der Integration werden übersehen, während Probleme überbetont werden. Migration, so scheint es, darf in Deutschland nicht gelingen – sonst bricht das Narrativ der Überforderung zusammen.
6. Polarisierung und Rassismus – Die bedrohte Solidarität
Die letzten zehn Jahre haben gezeigt, wie kraftvoll gesellschaftliche Solidarität sein kann – in Deutschland, in Europa, in den USA. Menschen haben Grenzen überschritten, Schutzsuchende unterstützt, sich gegen Hass gestellt. Doch diese Solidarität steht zunehmend unter Druck – durch populistische Bewegungen, Desinformation, rassistische Mobilisierung.
Heute sitzen Rechtsextreme mit über zwanzig Prozent im Bundestag. Und selbst demokratische Parteien übernehmen ihre Sprache, ihre Logik, ihre Angstbilder. Die zentrale Herausforderung besteht darin, die demokratische Migrationsgesellschaft zu verteidigen – und Solidarität als politische, soziale und moralische Ressource dauerhaft zu verankern.
7. Migration als Machtinstrument
Die politische Auseinandersetzung um Migration ist zu einer Auseinandersetzung um die Seele der Demokratie geworden.
Flucht und Migration sind längst mehr als humanitäre oder arbeitsmarktpolitische Fragen – sie sind zu machtpolitischen Instrumenten geworden. Rechte und rechtsextreme Kräfte missbrauchen sie, um Angst, Hass und Spaltung zu säen, Wahlen zu beeinflussen und Demokratien zu destabilisieren. Migration wird emotionalisiert, entmenschlicht, zur Chiffre nationaler Identitätspolitik. Dabei trifft die Angstpolitik nicht nur die Geflüchteten, sondern auch Millionen Zugewanderte, für die Deutschland längst Heimat geworden ist – Menschen, die sich heute fragen, ob sie in einem Land bleiben wollen, das sie zunehmend in Frage stellt.
Diese Auswanderungsphantasie betrifft längst nicht nur Menschen mit Migrationsgeschichte, sondern auch jene, die sich nicht vorstellen können, in einem Land unter Faschismus zu leben. Es ist ein leises, aber wachsendes Signal: Die politische Auseinandersetzung um Migration ist zu einer Auseinandersetzung um die Seele der Demokratie geworden.
8. Europa der Grenzen und der Spaltungen
Während Deutschland seine Aufnahme lernte, schloss Europa seine Grenzen. Schon 2015 war die Europäische Union tief gespalten: Einige Mitgliedstaaten öffneten ihre Türen weit, improvisierten Aufnahmezentren, mobilisierten Zivilgesellschaft und Kommunen – andere hingegen verweigerten jede Aufnahme, zogen sich auf nationale Souveränität zurück und machten Flüchtlingspolitik zum Werkzeug ihrer rechtspopulistischen Mobilisierung. Stacheldrahtzäune wurden errichtet, man sprach von „Invasion“, nicht von Schutz.
Was sich damals abzeichnete, wurde zum Muster europäischer Migrationspolitik: Während einzelne Länder auf Humanität setzten, suchte die EU den kleinsten gemeinsamen Nenner – Abschottung. Das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), Deals mit Drittstaaten, Pushbacks – eine Politik der Externalisierung. Zwischen 2015 und 2025 starben über 28.000 Menschen an den Außengrenzen Europas.
Die Migrationsfrage wurde zur Gewissensfrage des Kontinents. Humanität wurde verhandelt wie eine Ressource – knapp, konditional, strategisch.
9. Zukunftsaufgabe Migration
Migration ist keine Krise. Sie ist eine Konstante der Geschichte, eine Chiffre für Bewegung, Wandel, Erneuerung. Deutschland hat gelernt, dass Humanität und Ordnung keine Gegensätze sind. Wer kommt, soll ankommen dürfen – mit Würde, mit Chancen, mit Perspektive.
Ein moderner Staat muss Migration gestalten, nicht nur verwalten. Dazu gehören:
- klare föderale Zuständigkeiten, die Kommunen stärken;
- flexible Übergänge zwischen Schutz, Aufenthalt und Arbeit;
- ein europäischer Verantwortungsausgleich statt Abschottung;
- gesellschaftliche Teilhabe als Grundprinzip – nicht als Integrationsnachweis.
10. Erinnerung als Haltung, Zukunft als Verpflichtung
Zehn Jahre „Wir schaffen das“ – was bleibt? Ein Satz, ein Sommer, ein Land im Spiegel seiner Möglichkeiten. 2015 war Hoffnung, 2016 Härte, 2022 Haltung.
Heute wissen wir: Humanität ist keine politische Geste, sondern eine tägliche Entscheidung. Wer sie preisgibt, verliert mehr als Kontrolle – er verliert sich selbst.
Migration ist keine Ausnahme, sondern Normalität. Sie fordert uns heraus – sozial, moralisch, politisch. Aber sie schenkt auch Zukunft.
Humanität ist kein Luxus, sondern die Währung der Demokratie. Und das Vermächtnis dieses Jahrzehnts lautet: Nur wer Grenzen überwindet, kann Gesellschaft und ihre Zukunft gestalten.