Integration als Kernthema grüner Zukunftspolitik

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Von Claudia Roth

In der Wahrnehmung wichtiger grüner Themen gibt es immer wieder einen Umkehreffekt. Am Anfang steht oft ein Verniedlichungsdiskurs, die Rede von „weichen“ Themen, die nur etwas für grüne „Gutmenschen“ und „Weltverbesserer“ seien. Und plötzlich werden daraus „harte“ Themen der Zukunftspolitik - Themen, die auch in einer breiteren Wahrnehmung die Relevanz erhalten, die sie für die Grünen schon hatten.

Das wichtigste Beispiel hierfür ist die Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Lange wurden die Grünen ja als wirtschaftsfeindlich dargestellt, als donquijoteske Windmühlenpartei. Heute gilt die grüne Politik „Weg vom Öl“ als zentrale Aufgabe auch in wirtschaftlichen Kernbereichen. Ähnliches trifft für die scheinbar so weiche grüne Netzwerkökonomie zu, die sich zu einem der wichtigsten organisatorischen Muster im Wirtschaftsleben gemausert hat, weil hochstabil und flexibel - oder für das Thema Globalisierung: Was einmal mit „Nica-Dröhnung“ und 3.-Welt-Solidarität anfing, ist als Kampf um gerechte Globalisierung inzwischen eines der vordinglichsten Themen auf der weltpolitischen Agenda.

Die Grünen als Vorreiter in der Integrationspolitik

Auch beim urgrünen Thema Migration und Integration wird nun ein solcher Umkehreffekt sichtbar - und wieder vollzieht er sich in vertrauten Formen. Wieder gibt es den „Verniedlichungsdiskurs“ gegenüber grünen „Phantasten“, die angeblich in einer heilen „Multi-Kulti“-Welt leben und deren Integrationspolitik sich darin erschöpfen soll, daß sie mit Migrantinnen und Migranten um den Dönerspieß tanzen. Und wieder ist der Diskurs ein etwas klein geratenes Feigenblatt für jene, die die Probleme tatsächlich verleugnet und verharmlost haben - insbesondere für die, die dieses Land Jahren seit dem Beginn der Arbeitsmigration nach Deutschland im Jahr 1955 die meiste Zeit regierten und auch heute noch von „Gastarbeitern“ sprechen, so als seien die Menschen, die nach Deutschland geholt wurden, die hier Kinder und Enkel bekamen, Gäste, die sich eines Tages wieder verabschieden würden. Erst vor wenigen Jahren haben deutsche Konservative überhaupt wahrgenommen, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist – Rita Süssmuth sei Dank.

Fakt ist auch: Gerade die Grünen haben immer wieder nachdrücklich auf die Probleme hingewiesen, die in einer  Einwanderungsgesellschaft zu lösen sind: „Wer die Probleme und Konflikte leugnet, die Einwanderung notwendigerweise schafft, dementiert die Wirklichkeit. Gelöst werden können solche Probleme und Konflikte aber nur dann, wenn sie zuvor benannt werden. Und genau das werden wir tun.“ Dieser Satz stammt aus dem Vorwort von Daniel Cohn-Bendits Buch "Heimat Babylon" aus dem Jahr 1992. Wer behauptet, daß Probleme in der Migrantencommunity bei uns vollkommen übersehen worden sind, der hat entweder viele Jahre im Tiefschlaf gelegen oder sehr entschlossen weggesehen bei Filmen wie Tevfik Basers "40 Quadratmeter Deutschland", bei Hark Bohms "Yasemin" oder Fatih Akins "Gegen die Wand". Und er muß auch ziemlich konsequent gewesen sein in der Nichtwahrnehmung der Arbeiten von Werner Schiffauer ("Die Gewalt der Ehre", 1983), von Saliha Scheinhardt ("Frauen, die sterben, bevor sie gelebt haben", 1983), Kristina Kehl und Ingrid Pfluger ("Die Ehre in der türkischen Kultur", 1988), von Claus Leggewie ("Multi Kulti" 1990), Metin Gür ("Türkisch-islamische Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland", 1993) und  Wilhelm Heitmeyer ("Verlockender Fundamentalismus", 1997).

Es gibt in der Bundesrepublik inzwischen einen breiten wissenschaftlichen Diskurs zu den Problemen von Einwanderung und Integration – und er steht auf solideren Füßen als die „Forschungsergebnisse“, die Necla Kelek je nach feuilletonistischem Tagesbedarf uminterpretiert (vgl. die Petition von 60 Migrationsforschern in der „Zeit“ vom 1. 2. 2006). Es gibt viele Institute und Stiftungen, die bei der Erforschung von Problemen der Migration und Integration eine ganz vorbildliche Arbeit leisten. Und es gibt viele praktische Erfahrungen und immer weiter ausdifferenzierte Konzepte – nicht zuletzt bei uns Grünen. Viele haben heute erkannt, daß Einwanderung und Integration zentrale Zukunftsthemen in der Gesellschaftspolitik sind. Und ich freue mich sehr, daß die grüne Partei hier ein Vorreiter war und ist.

Das grüne Integrationskonzept

Die Grünen Konzepte zur Integrationspolitik setzen auf Dialog und Wechselseitigkeit, auf eine Kultur von Anerkennung und Vertrag - und nicht auf Befehl. Wenn Unionspolitiker fast täglich mit neuen Zwangsideen Sanktionen gegen Migranten vorbereiten, wenn sie Schulkinder mit schlechten Deutschkenntnissen abschieben wollen, wenn sie elektronische Fußfesseln für „verdächtige“ Muslime fordern, wenn sie mit einem verfassungswidrigen Gesinnungstest die Verfassungstreue von Muslimen überprüfen wollen, dann ist das genauso selbstwidersprüchlich wie Edmund Stoibers Forderung nach neuen AKWs, weil das gut für den Klima- und Umweltschutz sei! 

Die grünen Konzepte setzen nicht auf Befehl, sondern auf „gleiche Augenhöhe“ zwischen Einwanderern und aufnehmender Gesellschaft. Ein wichtiger Markstein ist hier der „Integrationsvertrag“, den Marieluise Beck 2001 als Integrationsbeauftrage der rot-grünen Bundesregierung vorgelegt hat. Er geht davon aus, daß Integration in einer pluralen Gesellschaft nicht einfach Anpassung oder Aufgabe von religiösen Überzeugungen oder von kulturellen Identitäten bedeuten kann, gleichwohl aber die Anerkennung der Werteordnung des Grundgesetzes und der deutschen Rechtsordnung beinhalten muß.

Ein wichtiger Teil des Integrationsvertrags war ein Integrationspaket mit Sprach- und Orientierungskursen für Neuankömmlinge, die mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 Wirklichkeit geworden sind - und nun weiter entwickelt und nicht zusammengestrichen werden müssen. Ein Papier der grünen Bundestagsfraktion aus dem Sommer 2006 leistet einen wichtigen Schritt, indem es den für die parlamentarische Arbeit fruchtbaren Vertragsgedanken aufgreift und weiterführt.

Ein aktueller Orientierungspunkt für die integrationspolitische Arbeit ist das Papier des Grünen Länderrats von Anfang diesen Jahres: „Integration statt Ausgrenzung - die Multikulturelle Demokratie durch eine Politik der Anerkennung verwirklichen“. Das Papier benennt sechs Schwerpunkte grüner Integrationspolitik und profiliert sie nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit dem ausgrenzenden Integrationsdiskurs, wie er von rechten Unionspolitikern geführt wird.

An erster Stelle steht eine Bildungsoffensive. Vor allem Sprachkompetenz ist ein Schlüssel für Integration. Ein besonders gravierendes Problem ist die fehlende soziale Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems, das auch die Möglichkeiten zur Integration von Migrantenkindern reduziert. Hier gibt es dringenden Reformbedarf.

Da Integration wesentlich auch über Chancen auf dem Arbeitsmarkt läuft, sind Benachteiligungen von Migrantinnen und Migranten in diesem Bereich gezielt abzubauen. Es geht zum Beispiel nicht an, dass noch immer viele langjährig hier lebende Migrantinnen und Migranten nur über einen nachrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt und zur selbstständigen Beschäftigung verfügen.

In unserem Land gibt es eine strukturelle Diskriminierung, die über die Bereiche von Arbeit und Bildung hinausgeht – etwas auf dem Wohnungsmarkt, beim Abschluß von Verträgen, im Bereich von Freizeit,  in der Gastronomie, in Diskotheken. Deshalb betreiben wir Grüne eine Politik für eine offene Gesellschaft – gegen Diskriminierung und für Gleichstellung.

Eine weitere dringliche Aufgabe ist die Einbürgerung des Islam - der größten zugewanderten Religionsgemeinschaft in Deutschland. Der Islam muß als gleichberechtigte Religion akzeptiert und Muslime rechtlich und politisch auf der Basis unseres Grundgesetzes integriert werden. Das beinhaltet unter anderem die Ausbildung von Imamen und muslimischen Religionslehrern an staatlichen deutschen Universitäten in deutscher Sprache und den islamischer Religionsunterricht in deutscher Sprache – analog zum Religionsunterricht bei anderen Konfessionen.

Ein zentrales integrationspolitisches Anliegen ist die politische Teilhabe und Partizipation. Dafür sind die gesellschaftlichen Teilnahmemöglichkeiten für EinwanderInnen und Flüchtlinge gezielt zu erweitern. Das meint z.B. die Einräumung des aktiven und passiven Wahlrechts auf kommunaler Ebene.

Schließlich muß Integration auch Flüchtlinge und Geduldete mit umfassen – was von der Asylpraxis in Deutschland systematisch verhindert wird. Deshalb fordern wir Grüne eine großzügige allgemeine Bleiberechtsregelung, die die Kettenduldungspraxis beendet und Integration ermöglicht.

Integration ist Zukunftsthema

Integrationspolitik hat sich in den letzten Jahren immer mehr als „hartes“ Zukunftsthema erwiesen. Das ist gut so, denn es geht um mehr als 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land  - in den großen Städten wird es bald die Hälfte der Menschen sein. Wir brauchen hier dringend eine breite Debatte, die allerdings konstruktiv und nicht ausgrenzend geführt werden muß.

Gut ist auch, daß es inzwischen in der Union Politiker gibt, die hier nicht an Stimmungsmache, sondern an tragfähigen Lösungen interessiert sind. Ich wünsche Herrn Laschet in Nordrhein-Westfalen und Frau Böhmer im Bund allen Erfolg – und sage ihnen alle Unterstützung zu, wo es um wirkliche integrationspolitische Fortschritte geht.

Skeptisch gestimmt hat mich allerdings der sogenannte „Integrationsgipfel“ der Bundeskanzlerin Anfang Juli, wo viele von denen, um die es gehen sollte, erst gar nicht kommen durften. Die Einladung der Muslimverbände fiel dem Kompetenzgerangel mit Innenminister Schäuble zum Opfer. Man sprach über die Köpfe der Muslime hinweg.

Skeptisch gestimmt hat mich auch die Aussage von Frau Merkel, daß dieses Gipfelgremium ohne weiteren Gestaltungsauftrag nun erst einmal ein Jahr weiterdiskutieren soll – so als müsste man die Integrationspolitik ganz neu erfinden. Das ist aber nicht der Fall. Es gibt inzwischen höchst brauchbare Konzepte - zum Beispiel auch den Bericht der Süssmuth-Kommission, der detaillierte Handlungsanleitungen liefert. Wenn Frau Merkel Integrationspolitik wirklich zur Chefinnensache machen will, dann darf sie nicht nur reden und reden lassen, sondern muß handeln – und vor allem dafür sorgen, daß die Muslimhatz der Herren Stoiber, Koch und Co. endlich ein Ende nimmt.

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Claudia Roth ist Vorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen