Interreligiöser Dialog: Erfolgsentwicklung oder Übergangsphänomen?

Analyse

Der interreligiöse Dialog steckt in einem Dilemma. Als theologischer Diskurs bleibt sein Wirkungskreis begrenzt; als Austausch zwischen Religionen und Politik wird er zum Integrationsinstrument – zulasten der theologischen Tiefe. Drei Herausforderungen, um auch zukünftig gesellschaftliche Kraft zu entfalten, formuliert Dr. Anna Körs.

Graffiti religiöser Symbole

Die Beschäftigung mit dem interreligiösen Dialog (IRD) in einer multireligiösen, säkularen Gesellschaft wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis beide zueinander stehen: Inwieweit ist der IRD für das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft förderlich oder möglicherweise auch hinderlich und, umgekehrt, wie beeinflusst und verändert eine zunehmend plurale Gesellschaft den IRD? Und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die Entwicklung des IRD?

Interreligiöser Dialog als komplexes Handlungsfeld

Beginnen wir mit der Frage: Was ist interreligiöser Dialog? Die möglichen Antworten darauf beschränken sich nicht auf die Summe dessen, was unter „Dialog“ und „interreligiös“ zu verstehen ist. Darüber hinaus wird „interreligiöser Dialog“ häufig als ein normativer Begriff verwendet, als Metapher für die Intention, zu einem friedlichen Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft beizutragen. In diesem weiten Sinne hat sich der IRD gerade in den letzten Jahrzehnten über ein theologisches Anliegen hinaus zu einem gesellschaftlichen Phänomen entwickelt.

Mindestens drei parallele Entwicklungstendenzen sind dabei zu beobachten: Erstens finden neben bilateralen interreligiösen Dialogen zunehmend auch „Dialoge“ zwischen mehr als zwei Religionsgemeinschaften statt. So haben sich neben den seit Ende des Zweiten Weltkrieges gegründeten christlich-jüdischen Dialogen sowie den mit Beginn der Arbeitsmigration entstandenen christlich-islamischen Dialogen vielerorts gemeinsame Trialoge vor allem der drei abrahamitischen Religionen entwickelt sowie darüber hinaus Multiloge gemeinsam mit Buddhist*innen, Hindus, Sikhs, Bahais und weiteren Religionsgemeinschaften.

Zweitens finden wir eine zunehmende Beteiligung staatlicher Akteur*innen, die Dialoge zwischen Religionsgemeinschaften initiieren, finanzieren, begleiten und auch selbst als Dialogpartner*innen agieren. Dies ist in vielen Städten und Kommunen zu beobachten, aber auch im Bundesland Baden-Württemberg hat das Ministerium für Soziales und Integration im Jahr 2011 einen Runden Tisch Islam eingerichtet und diesen 2017 zum Runden Tisch der Religionen Baden-Württemberg erweitert.

Drittens hat sich der IRD räumlich ausgeweitet und findet über die lokale und regionale Ebene hinaus auch auf nationaler und internationaler Ebene statt. So etwa hat das Auswärtige Amt im Jahr 2016 die Arbeitseinheit Friedensverantwortung der Religionen gegründet und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in 2014 die Abteilung Werte, Religionen und Entwicklung, die jeweils den internationalen Austausch mit Religionsgemeinschaften fördern, um das Friedenspotenzial von Religionen stärker zu nutzen.

Insgesamt hat sich der IRD in Deutschland mit der Ausweitung der Akteursbeziehungen (interreligiös, multireligiös, staatlich-interreligiös) über die räumlichen Ebenen hinweg (lokal, regional, national, international) zu einem komplexen Interaktionsfeld entwickelt. Auffällig ist dabei eine starke Institutionalisierung des Dialogs insbesondere zwischen Religionsgemeinschaften und staatlichen Akteur*innen. Diese Entwicklung verläuft nicht linear und ist auch kein neues Phänomen, hat jedoch vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten an Dynamik gewonnen und den IRD zunehmend als eine gesellschaftliche Einrichtung etabliert.

Ambivalenzen der Institutionalisierung des IRD

Was aber bedeutet dieser Entwicklungserfolg des IRD mit dem Weg in und durch die Institutionen? Kann es sein, dass genau dieser Erfolg auch die Grenzen des IRD aufzeigt? Hierzu ist es hilfreich, die unterschiedlichen Zielsetzungen des IRD zu betrachten und dazu exemplarisch einen theologisch-religionsgemeinschaftlichen IRD von einem staatlich-interreligiösen Dialog zu unterscheiden.

Der theologische IRD kann allgemein verstanden werden als ein Austausch zwischen Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften, der durch einen Prozess der gegenseitigen Verständigung auf die Anerkennung des religiös „Anderen“ zielt und dabei auch die Transformation der eigenen religiösen Identität miteinbezieht. In diesem Sinne ist der IRD ein anspruchsvolles Kommunikationsformat, weil er unter Maßgabe bestimmter Normen wie Gleichberechtigung, Respekt und Wertschätzung bereits voraussetzt, was er schaffen will – was jedoch angesichts realer Machtstrukturen häufig nicht vorhanden ist. Ein solcher verständnisorientierter IRD ist daher höchst sinnvoll, in seiner gesellschaftlichen Reichweite jedoch begrenzt und eher ein „theologisches Randphänomen“.    

Beim staatlich-interreligiösen Dialog geht es hingegen um Aushandlungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften durch strategische Partnerschaften, indem Religionsgemeinschaften sich als Dialogpartner*innen positionieren und gesellschaftlich integrieren, während staatlicherseits das konstruktive Potenzial der Religionsgemeinschaften genutzt wird. Damit ist der IRD insbesondere für Minderheitenreligionen eine Möglichkeit, sich eine öffentliche Stimme zu verschaffen, stärkt aber auch die gesellschaftliche Position der christlichen Kirchen. Der institutionalisierte staatlich-interreligiöse Dialog zielt also stärker auf gesellschaftliche Integration und dient damit als Integrationsmedium in einer pluralen Gesellschaft. Dies macht ihn für die Gesellschaft wertvoll. Um jedoch nicht zum „religionspolitischen Elitenprojekt“ zu werden, bedarf er einer zivilgesellschaftlichen Verankerung auf der Ebene der Religionsangehörigen beziehungsweise der Bevölkerung.

Diese Gegenüberstellung eines „verständnisorientierten“ und eines „integrationsorientierten“ Dialogs ist sicher idealtypisch und deren unterschiedliche Zielsetzungen schließen sich nicht gegenseitig aus – wie auch die Vielfalt der Dialogpraxis weit darüber hinaus geht. Doch angesichts der starken Tendenz zur Institutionalisierung des IRD bleibt es eine Schlüsselfrage, wie sich der institutionalisierte staatlich-interreligiöse Dialog zu dem auf Verständigung und religiöse Erfahrung zielenden IRD verhält. So wird aus kritischer Perspektive auf eine Überlagerung des IRD durch die Integrationsdebatte hingewiesen, womit der IRD zunehmend als eine Strategie der Governance religiöser Pluralität diene, sich dabei jedoch von seiner Orientierung auf Verständigung und Anerkennung entferne.

Es ist daher eher von „Dialogen“ im Plural auszugehen, um die jeweiligen Zielsetzungen sprachlich zu differenzieren und zu konkretisieren, statt unter dem vermeintlich einen „Dialog“ zu subsumieren, der im Singular mitunter mehr verschleiert als besagt. Dies ist eine erste Herausforderung für die Praxis wie gleichermaßen für die Forschung, um mehr Aufschluss über die Institutionalisierung des IRD zu gewinnen und darüber, inwieweit diese zu einer vertieften Integration und/oder zu neuen Konfliktlinien führt.

Neben diesen internen Dynamiken und Ambivalenzen beeinflussen auch externe Entwicklungen den IRD und was er gesellschaftlich leisten kann. In dieser Perspektive wird die Zukunft des IRD als ein gesellschaftlicher Dialog (auch jenseits eines „Elitenprojektes“ und „Randphänomens“) entscheidend davon abhängen, inwieweit er auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und den Veränderungen der Bedingungen, unter denen er sich herausgebildet und etabliert hat, auch zukünftig gerecht werden kann.

Vom interreligiösen Dialog zum multireligiösen Diskurs

Schauen wir dazu auf die Entwicklungen im religiösen Feld und zunächst auf die religiöse Pluralisierung, mit der neben die beiden großen christlichen Kirchen zunehmend andere Religionen beziehungsweise Menschen mit anderen religiösen Orientierungen hinzutreten. Dies gilt vor allem für die muslimische Bevölkerung, deren Anteil auf rund 5 Prozent gestiegen ist, aber auch für Menschen anderer Religionen sowie christlicher Konfessionen. So sind beispielsweise in einem Stadtstaat wie Hamburg rund 110, in einem Flächenstaat wie Nordrhein-Westfalen rund 240 unterschiedliche Religionsgemeinschaften ansässig. Mit diesem Prozess der religiösen Pluralisierung befindet sich Deutschland wie viele andere westeuropäische Länder in einem Wandel zu einer multireligiösen Gesellschaft.

Der IRD bleibt hingegen weit hinter dieser faktischen (inner-)religiösen Pluralität zurück, indem er diese häufig auf die Weltreligionen reduziert und in der Regel Vertreter*innen der „Big Five“ – aus Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus und Buddhismus – sowie teilweise auch aus Bahaitum und Sikhismus beteiligt sind. Die vielen religiösen Strömungen innerhalb dieser Religionen sowie kleinere Religionsgemeinschaften außerhalb der Weltreligionen bleiben dabei häufig unberücksichtigt.

Dies ist kein Zufall, denn die Frage, welche Religionsgemeinschaften am IRD (nicht) beteiligt sind, beruht bereits auf Mechanismen, mit denen vor allem diejenigen inkludiert werden, die als „akzeptierte“ oder „legitime“ Religion angesehen werden (wollen). So werden häufig diejenigen Religionsgemeinschaften einbezogen, die als offen, nicht dogmatisch, nicht bekehrend, respektvoll gegenüber anderen Glaubensrichtungen, dem Gemeinwohl verpflichtet etc. gelten und damit als „geeignet“ für den Dialog betrachtet werden, deren Auswahl wiederum stark von der Kategorie der Weltreligionen geprägt ist. Damit bleibt das Spektrum religiöser Pluralität begrenzt und Spannungen innerhalb und zwischen Religionsgemeinschaften werden von vornherein selektiv vermieden.

Sicher braucht der IRD ein gemeinsames Interesse der Beteiligten, das jedoch, je enger gefasst, umso eher ausgrenzt und einen Dialog in einer stärker heterogenen Zusammensetzung verhindert. Gerade hierin könnte der Sinn eines funktionierenden IRD liegen – und gleichzeitig eine zweite Herausforderung seiner Entwicklung: in diesem labilen Gleichgewicht einen möglichst umfassend einbeziehenden und (dennoch) verbindenden multireligiösen Diskurs zu ermöglichen.

Vom interreligiösen Dialog zum religiös-säkularen Diskurs

Nun sind nicht alle Menschen religiös und die religiöse Pluralisierung ist nicht der einzige Prozess, der das religiöse Feld verändert. Vielmehr gehört etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft an. Dieser Prozess der Säkularisierung wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Laut der Prognose des Forschungszentrums Generationenverträge (FZG) der Universität Freiburg werden die beiden großen christlichen Kirchen bis 2060 fast die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren und der Anteil der Kirchenmitglieder an der Bevölkerung wird von derzeit 54 Prozent auf 29 Prozent sinken. Die Gruppe der Konfessionsungebundenen wird damit erheblich wachsen.

Es wäre jedoch ein Trugschluss anzunehmen, mit der Säkularisierung gehe auch der Bedarf nach dem IRD zurück. Denn der IRD wurde auch nicht durch eine zunehmende Religiosität befördert, sondern durch eine zunehmende Pluralisierung und damit verbundene öffentliche Bedeutung und Streitbarkeit religiöser Fragen. Damit hat die Pluralisierung eine Verständigung zwischen den Religionsgemeinschaften erforderlich gemacht, wie mit religiösen Unterschieden umgegangen wird und etwa gleichberechtigte Teilhabe möglich ist. Mit der Säkularisierung geht es hingegen grundsätzlicher um das Verhältnis von Religion und Gesellschaft und welchen Stellenwert Religion in der Gesellschaft hat.

Diese Diskussion ist bisher kaum Gegenstand des IRD, was auch daran liegt, dass das säkulare Feld genauso plural ist wie das religiöse und die wenigsten derjenigen ohne Religionszugehörigkeit sich als Säkulare verstehen und sich in entsprechenden Verbänden organisieren würden, die am IRD teilnehmen könnten. Doch auch wenn die Säkularisierung insofern politisch weniger bedeutsam erscheint, bedeutet dies nicht, dass Menschen ohne Religionszugehörigkeit sich nicht zu religiösen Fragen äußern würden oder keine Stimme hätten.

Nehmen wir den Fall Ostdeutschland: Ostdeutschland gilt als einer der am wenigsten religiösen Teile der Welt. Gleichzeitig ist die Ablehnung religiöser Vielfalt und insbesondere des Islams in Ostdeutschland besonders hoch (gleichwohl sie auch in Westdeutschland ausgeprägt ist). Eine geringe Religiosität heißt also nicht, dass religiöse Themen unwichtig wären. Im Gegenteil: In einem zunehmend säkularen Umfeld ist eine Verständigung zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen umso wichtiger. Genau hierin liegt eine dritte Herausforderung des IRD. Denn wenn es kein gegenseitiges Verständnis mehr für (nicht-)religiöse Lebensentwürfe gibt, öffnet dies Tür und Tor für populistische Strömungen und Parteien mit einer islam- beziehungsweise pluralitätsfeindlichen Politik.

Ostdeutschland mag angesichts der durch die historischen Entwicklungen beschleunigten Säkularisierung einen Sonderfall darstellen, ist aber mit Blick auf die allgemeine Tendenz einer fortschreitenden Säkularisierung eher Modellfall für eine Entwicklung, die immer notwendiger erscheinen lässt, den IRD sowohl praktisch als auch konzeptionell zu überdenken.

Ausblick

Der IRD hat in den letzten Jahrzehnten deutlich an Dynamik gewonnen und sich mit seiner Ausbreitung über verschiedene Akteursbeziehungen und räumliche Ebenen zu einem komplexen Feld entwickelt. Die zunehmend institutionalisierten Formen des Dialogs zwischen Religionsgemeinschaften und staatlichen Akteur*innen sind ein gesellschaftlicher Gewinn, können andererseits aber der Anerkennung der Vielfalt von Religionen und Weltanschauungen zuwiderlaufen.

Die Frage ist daher erstens, wie mit dieser Ambivalenz umgegangen wird und inwieweit die (defizitäre) Institutionalisierung zu neuartigen Abgrenzungen und Machtgefällen führt oder die Integrationsdynamik durch weitere Institutionalisierungsschritte vorantreibt. Zugleich steht der IRD vor der Herausforderung, auf gesellschaftliche Prozesse wie die zunehmende religiöse Pluralisierung und gleichzeitige Säkularisierung zu reagieren, will er einer multireligiösen säkularen Gesellschaft gerecht werden.

So sind zweitens Wege zu finden, um die Binnenpluralisierung der großen Religionsgemeinschaften sowie kleinere Religionen miteinzubeziehen. Und drittens erscheint es notwendig, Konfessionsungebundene als (perspektivisch) größte Bevölkerungsgruppe zu berücksichtigen und die Konzeptualisierung des IRD angesichts der Säkularisierung als dominante Tendenz in Deutschland wie in vielen anderen europäischen Ländern auch theoretisch zu überdenken.

Die Antworten auf diese drei Herausforderungen des IRD – ob Anpassung, Ausdifferenzierung, Transformation oder Auflösung des IRD – bedeuten perspektivisch in jedem Fall Veränderung. Damit mögen sich Akteurskonstellationen, Zielsetzungen, Inhalte und Formen des IRD zukünftig weiter verändern. Vielleicht geht es dann auch weniger um das gegenseitige Verständnis als um das gemeinsame Aushalten von Differenzen.

Und vielleicht schaut man irgendwann zurück auf den „interreligiösen Dialog“ als eine Übergangsphase auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der nicht auf religiöse Zugehörigkeiten begrenzte Identitäten miteinander sprechen, sondern Menschen mit multiplen Zugehörigkeiten und komplexen Identitäten miteinander leben und lernen, Diversitäten in unterschiedlichen Lebensbereichen zu tolerieren. Hierzu leistet der IRD durch seine Erfolge und Entwicklungspotenziale schon jetzt einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag.