Der Rechtsstaat lässt die Angegriffenen im Stich

Hintergrund

Eylül K., Carsten Müller und unzählige andere haben eines gemeinsam: Sie sind Betroffene rechtsextremer Gewalt, deren Täter noch immer frei herumlaufen. Jede neue Enthüllung rassistischer Chats von Polizist:innen oder rechtsextremer Netzwerke nährt ihre Angst vor weiteren Angriffen. Eine Kultur der Straflosigkeit und -milde stärkt dabei die Täter. Welche Erfahrungen machen Betroffene mit dem deutschen Rechtsstaat?

Justitia

Der Angriff auf Familie K. 

Mehr als zwei Jahre lang warteten Eylül K. (Name geändert), ihr Ehemann und ihre Kinder darauf, dass die Justiz in Baden-Württemberg alle Täter zur Verantwortung zieht, die die türkeistämmige Familie und weitere Gäste eines Eiscafés in der Kleinstadt Wiesloch im August 2018 mit rassistischen Parolen beleidigten, tätlich angriffen und verletzten. Ihr Wunsch: eine rechtskräftige Verurteilung der sechs Neonazis, die noch in Tatortnähe festgenommen wurden. Und sie fragen sich: Warum befand sich unter den Angreifern auch ein Waffentechniker der baden-württembergischen Landespolizei? 

Die Männer, die am Abend des 8. Septembers 2018 durch die Innenstadt von Wiesloch liefen, waren nicht zu überhören: „Hier marschiert der nationale Widerstand“ und „9mm für Ausländer“ hallten ihre Parolen durch die Kleinstadt im Rhein-Neckar-Kreis. „Natürlich haben wir die Gruppe von weitem schon gehört. Mein Mann hat da schon gesagt, seid leise, die sind gefährlich“, erinnert sich Eylül K. (Name geändert), die mit ihrer Familie vor dem Eiscafé saß.

Dann sei alles so schnell gegangen, „dass gar nicht alle von uns die Chance hatten, ins Café zu flüchten“. Blitzartig trat einer der Männer einen der leerstehenden Tische um und warf einen Stuhl nach den völlig überraschten Familien. Die anderen Männer aus der Gruppe umringten die Café-Gäste und begannen „wie von Sinnen“ mit Stühlen auf die verängstigten Menschen einzuschlagen. 

Was folgt, sind Szenen „wie aus einem Horrorfilm“, sagt Eylül K. Diejenigen, die sich nicht ins Café flüchten, sondern versuchen, die Angreifer zu vertreiben, werden mit Stühlen geschlagen, mit einer Bierflasche am Hinterkopf getroffen. Der Schwager von Eylül K. wird von einem der Angreifer so massiv gegen seinen Oberkörper getreten, dass er zu Boden geht. Die Angreifer tragen die bei Neonazis beliebte Kleidungsmarke Thor Steinar.

Sie umringen den am Boden liegenden Familienvater, treten immer wieder auf ihn ein, schlagen mit Stühlen auf seinen Oberkörper. Auch der Ehemann von Eylül K. wird von den Neonazis zu Boden geschlagen und mehrfach in den Bauch getreten. Immer wieder fallen rassistische Beleidigungen: „Was machst du hier in Deutschland, das ist unser Land“, „geht zurück in euer Land“. 

Zwei weitere Cafégäste werden durch Faustschläge und Würfe mit Stühlen am Oberkörper und an den Armen verletzt. Verschwommene Handyaufnahmen, die später auf Youtube verbreitet werden, zeigen, wie die Angreifer auch nach dem Eintreffen von zwei Streifenwagen weiter rassistische Parolen rufen und den Hitlergruß zeigen, bevor sie schließlich versuchen, über die Hauptstraße zu flüchten. Fünf türkei- und portugiesischstämmige Gäste des Eiscafés müssen nach dem Angriff ärztlich behandelt werden.

Wiederholte Bewährungsstrafen für vorbestrafte Neonazis

Einige aus der Männergruppe sind seit Jahren als Neonazis im Rhein-Neckar-Gebiet aktiv. Zwei von ihnen sind Polizei und Justiz seit den 2000er Jahren durch einschlägige Straftaten bekannt: In ihren Vorstrafenregistern finden sich Körperverletzungsdelikte, die mit Bewährungsstrafen geahndet wurden und einschlägige Propagandadelikte wie die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung. 

Bei den Angreifern, auch das erfährt die geschockte Öffentlichkeit in Wiesloch recht schnell, handelt es sich überwiegend um verheiratete Familienväter und Eigenheimbesitzer mit bürgerlichen Biografien aus den umliegenden kleinen Ortschaften zwischen Heidelberg und Karlsruhe. Sie arbeiten als Angestellte oder Auszubildende bei regionalen Mittelstandsbetrieben: als Industriebuchbinder, bei einem Fenstersystemhersteller, als Metallarbeiter, als Diplom-Ingenieur für Elektro-Technik – und als Waffenmechaniker – beim Polizeipräsidium Karlsruhe. 

Auf ihren Mobiltelefonen finden die Ermittler einschlägige NS-Propaganda und verbotene NS-Symbole, Bilder von Adolf Hitler, sowie Werbung für Neonazikonzerte und Unterstützungsaufrufe für verurteilte Holocaustleugner. Beim zur Tatzeit 35-jährigen Manuel B., dem Anführer des Angriffs, finden die Ermittler eine Art NS-Altar – mitsamt Hakenkreuzfahne und davor drapierter Hitlerstatue. Sein ebenfalls am Angriff beteiligter jüngerer Bruder trägt ein 15x15cm großes Hakenkreuz-Tattoo auf dem Bauch und hatte seine Wohnung mit einer Hakenkreuzfahne dekoriert. Auf der Garagentür des zur Tatzeit 30-jährigen Polizei-Waffentechnikers klebt in altdeutscher Schrift das Wort „Bunker“.

Eylül K., ihr verletzter Ehemann und die überraschte Öffentlichkeit in Wiesloch erfuhren erst mehr als eine Woche nach dem Angriff, dass einer der Angreifer als Waffenmechaniker bei der Polizei im nahen Karlsruhe arbeitete. Er wird mit sofortiger Wirkung freigestellt und von sämtlichen Aufgaben entbunden. Sollten sich im Zuge des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens die Anschuldigungen gegen den 30-Jährigen erhärten, müsse dieser „mit der Entlassung aus seinem Angestelltenverhältnis rechnen“, erklärte der damalige Inspekteur der Polizei Baden-Württemberg.

Eine Frage von Sicherheit und Vertrauen

Knapp neun Monate nach der Gewalttat, im März 2019, erhebt die Staatsanwaltschaft Heidelberg gegen sechs der Männer Anklage beim Schöffengericht des Amtsgerichts Wiesloch. Die Tatvorwürfe: Gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, Volksverhetzung und Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Da die Staatsanwaltschaft auf eine Anklage wegen schweren Landfriedensbruchs nach § 125a StGB und auch den Tatvorwurf der Bildung einer bewaffneten Gruppe nach § 127 StGB verzichtete (1), stand von Anfang an fest, dass die Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Wiesloch stattfinden und der Strafrahmen somit auf maximal vier Jahre begrenzt sein würde.

Eylül K. und ihr Ehemann hoffen da noch auf eine zügige Verurteilung der Angreifer. Doch zwischen Anklageerhebung und dem Prozessbeginn vergeht ein weiteres Jahr. Als die Hauptverhandlung am 5. Mai 2020 endlich beginnt, tagt das Schöffengericht aus Hygienegründen in den Räumlichkeiten des Landgerichts Heidelberg. Es entscheidet, dass zur Einhaltung der Covid-19-bedingten Pandemiebestimmungen gegen die sechs Angeklagten in zwei getrennten Dreier-Gruppen und zuerst gegen den mittlerweile 37-jährigen Haupttäter Manuel B. und seine jüngeren Brüder Johannes (32) und Lukas (29) verhandelt werden soll, deren Aktivitäten in der Neonazikameradschaftsszene sich sowohl in ihren Vorstrafenregistern als auch in öffentlichen Auftritten widerspiegeln. 

Im Verlauf der dreimonatigen Hauptverhandlung gegen die drei Neonazis, Manuel B. und seine jüngeren Brüder Johannes (32) und Lukas (29), wurden die langfristigen Konsequenzen des Angriffs deutlich. Ein Zeuge sagte aus, er befinde sich wegen der psychischen Auswirkungen der Gewalttat und anhaltenden Schlafstörungen in therapeutischer Behandlung. Angesichts zahlreicher belastender Zeugenaussagen räumen die drei Angeklagten ihre Tatbeteiligung zwar ein und belasten dabei auch den Polizei-Waffentechniker. Einen rassistischen Hintergrund leugnen die Brüder jedoch bis zum Schluss. 

Zwei Jahre nach dem Angriff, Ende August 2020, folgt das Schöffengericht des Amtsgerichts Wiesloch der Anklage und verurteilt die drei Angreifer wegen gefährlicher Körperverletzung und Volksverhetzung. Das rassistische Tatmotiv wertete das Gericht zwar ausdrücklich strafschärfend und brachte damit eine auf Empfehlung des ersten NSU-Untersuchungsausschusses umgesetzte Reform bei der Strafzumessung zur Anwendung. (2) Dennoch werden sie lediglich zu Bewährungsstrafen von zehn, 18 und 24 Monaten verurteilt – die Staatsanwaltschaft hatte für den inzwischen 37-jährigen Anführer Manuel B. eine zweijährige Haftstrafe ohne Bewährung gefordert. Für das Gericht stehe außer Frage, dass zwei der Angeklagten eine gefestigte rechtsradikale Gesinnung haben, so der Vorsitzende Richter in der Urteilsverkündung. Der Angriff sei mit enormer Wucht erfolgt, aber nicht geplant gewesen. 

Erst im März 2021 erfolgt schließlich auch die erstinstanzliche Verurteilung der drei weiteren Angeklagten: Der Anführer des Angriffs Timo F. ist letztendlich der einzige der sechs Tatbeteiligten, der zu einer Haftstrafe verurteilt wird. Aufgrund einschlägiger Vorstrafen und weil ihm das Gericht auch die rassistischen Beleidigungen sowie das Zeigen des Hitlergrußes zurechnet, wird der 26-jährige Timo F. zu zwei Jahren und vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Zu seinen Gunsten wertete das Gericht die Beteuerung von Timo F., er sei mittlerweile aus der Neonazi-Szene ausgestiegen. Der mittlerweile 33-jährige Waffentechniker und ein weiterer Angeklagter erhielten jeweils neunmonatige Bewährungsstrafen.

In der Hauptverhandlung war auch bekannt geworden, dass das Arbeitsverhältnis des Angeklagten mit dem Polizeipräsidium Technik, Logistik und Service, wo er seit 2015 in der Waffen- und Gerätewerkstatt in Karlsruhe angestellt gewesen war, zwischenzeitlich beendet wurde. Letztendlich wertete das Gericht die lange Verfahrensdauer zu Gunsten der Angeklagten, die in der Zwischenzeit nicht erneut straffällig geworden waren. Ausdrücklich betonte der Richter in seiner mündlichen Urteilsbegründung vom 11. März 2021 die gravierenden Folgen des Angriffs für die betroffenen Familien und ihre Kinder.

Den erhofften strafrechtlichen Abschluss jedoch gibt es für Eylül K. und ihren Ehemann immer noch nicht. Denn sowohl die Angeklagten in beiden Prozessen als auch die Staatsanwaltschaft Heidelberg haben Berufung gegen die erstinstanzlichen Urteile eingelegt. Wann die Berufungsverhandlung stattfinden wird, weiß in der Justizpressestelle zum Redaktionsschluss dieses Textes niemand. (3)

Eylül K. hatte immer wieder betont, dass der Überfall ihr Sicherheitsgefühl ganz erheblich beeinträchtigt hat. „Ich kann nicht vergessen, dass ich von Neonazis an dem Ort angegriffen wurde, wo ich geboren bin, wo ich mich zuhause fühle und seit fast 40 Jahren lebe und arbeite.“ Die Familie befürchtet, dass ihre Kinder den Familien der Angreifer auf den Sport- und Fußballplätzen der Region begegnen. Und noch etwas hat sich für sie verändert: „Wie sollen meine Kinder, wie soll ich jetzt noch der Polizei vertrauen? Wir arbeiten und zahlen wie alle anderen hier Steuern, aber wir werden nicht gleichberechtigt behandelt.“

Zu selten gibt es strafrechtliche Konsequenzen

Die bisherige strafrechtliche Aufarbeitung der rassistischen Gewalt, die Eylül K. und ihre Familie erleben mussten, bündelt die Erfahrungen und Enttäuschungen zahlloser weiterer Betroffener rassistisch, antisemitisch oder politisch rechts motivierter Angriffe mit der Justiz in Ost- und Westdeutschland wie unter einem Brennglas.

Besonders deutlich wird das auch in der strafrechtlichen Aufarbeitung der rassistischen Hetzjagden und Gewalttaten im Sommer 2018 in Chemnitz, die nur wenige Tage vor dem Angriff auf Eylül K. die Öffentlichkeit erschütterten. Die tagelangen rassistischen Mobilisierungen nach dem Mord an Daniel H. beim Chemnitzer Stadtfest am 26. August 2018 mobilisierten Nachahmungstäter bundesweit sowie Rechtsterroristen wie etwa die Terrorgruppe „Revolution Chemnitz“.

Tausende organisierte Neonazis, Hooligans unter Führung der extrem rechten Kleinstpartei „Pro Chemnitz“ und AfD-Kader hatten die Straßen der drittgrößten Stadt in Sachsen in eine Gefahrenzone für all diejenigen verwandelt, die die extreme Rechte als „anders“ markiert. Auch der mutmaßliche Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sagte im Mordprozess am Oberlandesgericht Frankfurt: Nach der Chemnitz-Demo "stand fest, dass wir das machen."

Zu den ersten bekannt gewordenen Opfern dieser rechten Mobilisierung gehörten am 27. August 2018 ein 18-jähriger Syrer, ein gleichaltriger Afghane und dessen 15-jährige Freundin sowie ein 30-jähriger Mann aus Bulgarien. Handyaufnahmen, die zeigen, wie eine Gruppe von neonazistischen Hooligans auf zwei junge Männer und deren Begleiterin zustürmt, sie rassistisch und sexistisch beschimpfen und auf sie einprügeln, verursachten ein bundespolitisches Beben, das Wochen später mit dem Rücktritt des langjährigen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans Georg Maaßen, endete. 

„Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagd, es gab keinen Pogrom in Chemnitz“, sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in einer Regierungserklärung in Reaktion auf die Angriffe. Am 7. September 2018 behauptete Hans-Georg Maaßen als amtierender BfV-Chef im Gespräch mit der BILD-Zeitung, es lägen „keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden“ hätten, bei den Videoaufnahmen des Angriffs auf die beiden Afghanen handele es sich um „eine gezielte Falschinformation“.

Für die Strafverfolgung hatte dieses Leugnen organisierter rassistischer und neonazistischer Gewalt fatale Konsequenzen. Für den Zeitraum vom 26. August bis zum 14. September 2018 sind im Kontext der Ereignisse in Chemnitz insgesamt 192 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Mehr als die Hälfte davon allerdings lediglich aufgrund von Verstößen gegen das Sächsische Versammlungsgesetz und wegen rechtsextremer Propagandadelikte.

Mehr als zwei Jahre danach fällt die Bilanz der strafrechtlichen Bearbeitung mager aus: Gerade einmal 18 rechtskräftige Verurteilungen gab es im Zusammenhang mit den Ermittlungsverfahren, die die „Zentralstelle Extremismus Sachsen“ bei der Generalstaatsanwaltschaft Dresden geführt hat. Über die Hälfte der Ermittlungsverfahren sind mittlerweile eingestellt. Dazu gehören auch die Ermittlungsverfahren im Fall des Angriffs auf den 18-jährigen Afghanen und den gleichaltrigen Syrer – obwohl Polizeibeamte die Identität der Tatverdächtigen ermittelt hatten. (4)

Eine Kultur der Straflosigkeit stärkt die Täter

Lediglich in drei Dutzend Fällen, die sich im Kontext oder Nachgang der rassistischen Demonstrationen in Chemnitz 2018 ereigneten, ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft noch – seit nunmehr über zweieinhalb Jahren. (5) So teilte die Generalstaatsanwaltschaft Dresden im Januar 2021 mit, dass man nun mehr als zweieinhalb Jahre nach dem antisemitisch motivierten Angriff eines Dutzend vermummter Neonazis auf das koschere Restaurant „Schalom“ am 27. August 2018 in Chemnitz, bei dem dessen Besitzer durch einen Steinwurf verletzt und die Fensterscheibe zertrümmert wurde, Anklage gegen lediglich einen einzigen der beteiligten Neonazis erhoben habe. Die vermummten Angreifer hatten unter anderem "Hau ab aus Deutschland, du Judensau" gerufen, den Besitzer des Schalom verletzt und eine Fensterscheibe zertrümmert.

Warum zwischen der Hausdurchsuchung bei dem polizeibekannten 29-Jährigen aus dem niedersächsischen Stade im Dezember 2019 und der Anklage mehr als ein Jahr verging und wann der Prozess tatsächlich beginnen wird, darauf gibt es bei der Generalstaatsanwaltschaft Dresden keine Antworten. (6) Auch wann mit einem Abschluss der Ermittlungen gegen das Dutzend Mittäter zu rechnen sei, könne „derzeit nicht beantwortet werden“.

Auch im Zusammenhang mit einem Überfall auf eine Gruppe von Gewerkschafter:innen, SPD- und Juso-Mitgliedern und unabhängige Antifaschist:innen am Abend des 1. September 2018 durch ein Dutzend Neonazis in Chemnitz ermittelt die „Zentralstelle Extremismus“ der Generalstaatsanwaltschaft Dresden seit mehr als zweieinhalb Jahren. (7)

Carsten Müller (Name geändert) gehörte zu der heterogenen Gruppe aus jungen Erwachsenen, SPD-Lokalpolitiker:innen an der Grenze zum Rentenalter und Gewerkschafter:innen, die plötzlich mit 15 bis 20 mit Totschlägern, Latten und Knüppeln bewaffneten Neonazis konfrontiert waren. Unter Beschimpfungen schlugen und traten die Neonazis einzelne Frauen und Männer aus der Marburger Gruppe gezielt ins Gesicht und im Kopfbereich. Diejenigen, die nicht unmittelbar von Neonazis geschlagen wurden, seien „um ihr Leben gerannt“, sagt Müller.

Einige der Angegriffenen alarmierten die Polizei. Als die Beamten endlich kamen, hätten diese zunächst den Eindruck vermittelt, dass die Angegriffenen Mitschuld an dem Angriff trügen, sagt Müller. Einige Verletzte erstatteten an Ort und Stelle eine Anzeige. Zuvor hatten die Beamten ihnen zu verstehen gegeben, dass Anzeigen wenig Aussicht auf Erfolg hätten.

Nachdem der SPD-Bundestagsabgeordnete Sören Bartol den Angriff noch in der Nacht des 1. September 2019 über Twitter öffentlich gemacht hatte, versicherte die Pressestelle der Polizei Chemnitz am nächsten Tag, man werde „in allen Fällen im Rahmen der Ermittlungen rasch die einzelnen Geschehnisse erhellen“. Das gelte auch „und im Besonderen für den Angriff einiger Unbekannter auf die Gruppe des SPD-Abgeordneten Sören Bartol“. Doch Carsten Müller und die anderen Angegriffenen bewerten die Ermittlungen sehr skeptisch. 

Im Frühjahr 2019 – da lag der Angriff inzwischen ein halbes Jahr zurück – wurden Carsten Müller und anderen aus der Gruppe erstmals bei Zeugenvernehmungen auch Fotos mutmaßlich tatbeteiligter Neonazis vorgelegt. Besonders belastend: „Obwohl ganz klar ist, dass es sich hier um Wiederholungstäter handelt, die bundesweit vernetzt sind“, hätte die Polizei sie nicht einmal darüber informiert, dass ihre Meldeadressen in den Ermittlungsakten durch Schwärzung geschützt werden können.

Ungewiss ist, ob und wann es überhaupt zu einer Anklage kommen wird. Das Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung werde derzeit gegen insgesamt 28 Beschuldigte aus Sachsen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Thüringen geführt, teilt die Generalstaatsanwaltschaft im November 2020 mit.

Ein Dutzend der Beschuldigten sei wegen Körperverletzungsdelikten und/oder wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen bzw. Volksverhetzung vorbestraft, mindestens zwei von ihnen standen im September 2018 unter Bewährung. Die Anwält:innen der Geschädigten wurden im Januar 2021 erstmals über den Stand der Ermittlungen informiert. Auf mehrere Akteneinsichtsgesuche hatten Nebenklagevertreter:innen über mehr als 30 Monate keine Antwort erhalten. 

Carsten Müller sagt inzwischen resigniert: „Wenn die Polizei und Justiz damals konsequent gegen die Neonazis vorgegangen wären, dann hätte vielleicht der Mord an Walter Lübcke und das Attentat von Hanau verhindert werden können, dann hätten Neonazis gewusst, dass sie nicht straflos Menschen zusammenschlagen und verletzten können.“ Jetzt sei es dafür zu spät. Erst im November 2020 marschierten einige der mutmaßlichen Angreifer beim Aufmarsch der zehntausenden Corona-Leugner:innen in Leipzig mit: Selbstbewusst stellten sie ihre Militanz zur Schau – völlig unbeeindruckt vom laufenden Ermittlungsverfahren der Generalstaatsanwaltschaft Dresden.

Wenn die existierenden gesetzgeberischen Maßnahmen und Befugnisse von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten, die die Aufklärung rechter Straftaten durch die Justiz verbessern sollen, in der Rechtspraxis und Rechtsprechung nur unzureichend angewandt werden, bleiben die zahlreichen Aufklärungsversprechen und Rufe nach Gesetzesverschärfungen bloße Rhetorik und Symbolpolitik. Mit fatalen Konsequenzen für die Betroffenen von Rassismus, Antisemitismus, rechter Gewalt und Rechtsterrorismus ebenso wie für den Rechtsstaat. Die Täter:innen und ihre Sympathisant:innen fühlen sich ermutigt, die Angegriffenen werden vom Rechtsstaat im Stich gelassen.

 

Literaturnachweise:

(1) Vgl. zur Anwendung des § 127 StGB u.a. BGH Urteil vom 14.06.2018, 3 StR 585/17 nach einem rassistisch motivierten Angriff einer Gruppe von Neonazis in Ebersberg (Bayern) im September 2015. Details u.a.: https://datenbank.nwb.de/Dokument/Anzeigen/742916/

(2) In Umsetzung von Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag der 17. Wahlperiode hatte der Bundestag auf Initiative des Bundesjustizministeriums einem Zusatz in Abs. 2 Satz 2 von §46 StGB zugestimmt, der die Strafzumessung regelt. In dem Zusatz, der seit dem 1. August 2015 in Kraft ist, heißt es, „(...) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille (...).“ Die Bewertung der Tat als rechtsextrem motiviert hat u.a. auch Auswirkungen auf die Ansprüche der Betroffenen auf Billigkeitsentschädigungen für Opfer rechter Gewalt durch das Bundesamt für Justiz.

(3) Im Lagebericht „Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz hat das Land Baden-Württemberg für den Zeitraum Januar 2017 - März 2020 insgesamt 23 Fälle angegeben. Aufgrund der unscharfen Kategorien ist nicht erkennbar, ob die Beteiligung des Polizei-Waffentechnikers an dem Angriff in Wiesloch hierbei mitgezählt wurde (vgl. S. 52 des Lageberichts). Zum Download: https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/2020/lageb…

(4) Vgl. Antwort der Sächsischen Landesregierung vom 24. Juni 2020 auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Juliane Nagel (Die Linke), Drs.-Nr,:7/2467, Ermittlungsverfahren und juristische Aufarbeitung des rechts motivierten Versammlungsgeschehens in Chemnitz vom 26. August 2018 bis zum 14. Dezember 2018.

(5) Vgl. Heike Kleffner „Straflos in Chemnitz: Keine Ahndung von rechtsradikaler Gewalt“ in: Austermann, Nele et al (Hrsg.) „Recht gegen Rechts. Report 2020“ ( Frankfurt a.M./ Oktober 2020) und Staatsanwaltschaft Chemnitz, Aktenzeichen 253 Js 38232/18.

(6) Vgl. u.a. die Meldung von Exif Recherche zur Hausdurchsuchung bei dem ehemaligen JN-Aktivisten Kevin A. im Dezember 2019. (https://twitter.com/ExifRecherche/status/1205158047628308480).

(7) Vgl. Heike Kleffner „Straflos in Chemnitz: Keine Ahndung von rechtsradikaler Gewalt“ in: Austermann, Nele et al (Hrsg.) „Recht gegen Rechts. Report 2020“ (Frankfurt a.M./ Oktober 2020) und Staatsanwaltschaft Chemnitz, Aktenzeichen 253 Js 38232/18.