Der Verfassungsschutz: Abschaffen oder reformieren?

Interview

Der Verfassungsschutz steht immer wieder in der Kritik: Ist er Teil des Problems oder Teil der Lösung bei der Bekämpfung von rechtem Terror? Stephan J. Kramer, Präsident des Thüringer Amts für Verfassungsschutz, spricht über die Konsequenzen der NSU-Untersuchungsausschüsse, die Zusammenarbeit mit anderen Sicherheitsbehörden im Kontext rechter Netzwerke und die Rolle des Verfassungsschutzes im Dialog mit der Zivilgesellschaft.

Plakat mit Aufschrift "Aufklärung erfolgt im Jahr 2134" und kleingedrucktem Erklärungstext, dass ein NSU-Bericht in Hessen für 120 Jahre weggesperrt werden sollte
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Der Verfassungsschutzbericht zur Aufarbeitung des NSU-Mordes an Halit Yozgat sollte zunächst für 120 Jahre geheim gehalten werden. Inzwischen wurde die Frist auf 30 Jahre verringert.

Sarah Schwahn: Als Verfassungsschutzpräsident suchen Sie öffentlich das Gespräch mit der aktiven Zivilgesellschaft vor Ort. Wie zeigt sich “alltäglicher” rechter Terror in Thüringen?

Stephan J. Kramer: Wir beobachten eine zunehmende Enthemmung von Gewalt, das Aggressionspotential steigt kontinuierlich. Wo es an Strukturen mangelt und Menschen alleine stehen, nutzen Rechte diesen positiven Resonanzboden, um zu spalten und Sympathien zu wecken. Rechter Terror muss deshalb dort bekämpft werden, wo er täglich stattfindet, wo Rechtsextreme mit dem Schäferhund vor der Tür patrouillieren, um deutlich zu machen: ‚Dein Engagement passt uns nicht.‘ Ich habe großen Respekt vor allen, die ohne Polizeischutz Haltung zeigen, obwohl sie massiv in ihrer täglichen Lebenswelt eingeschüchtert werden. Das gab es alles früher schon, aber jetzt gibt es mit der Neuen Rechten mehr und mehr Brücken in die Mitte der Gesellschaft. 

Sie haben eine Behörde übernommen, die synonym steht für staatliche Unfähigkeit und Unwillen, rechten Terror zu verhindern. Welche Konsequenzen hatten die Forderungen der NSU-Untersuchungsausschüsse für den Thüringer Verfassungsschutz?

Man will in Thüringen einen anderen Weg gehen, sonst wäre ich auch nicht Amtschef geworden. Aber eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Flankierend gab es Kontrollmaßnahmen, Verordnungen, auch zum Einsatz von V-Leuten, eine neue Fehlerkultur. Wenn nun Fehler wiederholt werden, muss sich umso mehr gefragt werden, ob böse Absicht dahintersteckt. Grundsätzlich wichtig ist ein radikaler Personalwechsel. Als ich am Anfang gefragt habe, wie viele Personen noch da sind, die beim NSU aktiv involviert waren, waren es wohl noch knapp die Hälfte. Ich bin den Posten angetreten mit dem Ziel, das Amt in Thüringen neu aufzustellen. Wenn aber Personal mit problematischen Einstellungen an entscheidenden Stellen sitzt, dann stören sie unter Umständen empfindlich die Neuausrichtung der Behörde. Das macht es schwierig für alle, die einen anderen Weg beschreiten wollen. 

Das klingt, als blieben notwendige strukturelle Reformen auf Personalentscheidungen begrenzt und an Einzelpersonen hängen. Warum gibt es – wenn auch wenige – immer noch Personen mit problematischem Gedankengut? Wer kümmert sich beim Verfassungsschutz um Sicherheit und Schutz vor rechter Gewalt? 

Die Personalentwicklung und -gewinnung ist beim Verfassungsschutz ein delikates Thema. Die Untersuchungsausschüsse haben uns klar aufgeschrieben, welche Defizite wir haben und das zu Recht. Trotzdem wird häufig in erster Linie nach Personal gesucht, das Behördensprache spricht. Hier drehen wir uns im Kreis. Dass das Amt ins Innenministerium eingegliedert worden ist, also nicht mehr als Landesbehörde extern steht, ist grundsätzlich eine gute Reform und bedeutet, dass Personal schneller rotieren kann. In der Realität erweist sich das in Thüringen als schwierig, weil das Amt für Verfassungsschutz beim Innenministerium ist und nicht wirklich Teil des Ministeriums. Hinzu kommt die Personalauswahl. Hier bin ich zwar einerseits Amtsleiter, habe aber nur begrenzten Einfluss. Wir brauchen qualifiziertes Personal auch im Hinblick auf unsere Analysefähigkeit, das wird blockiert, wenn Auswahlgremien sich weigern, beispielsweise Religionswissenschaftler:innen oder Soziolog:innen einzustellen. Jurist:innen lassen sich doch viel besser überall einsetzen, heißt es dann. Und natürlich macht unsere Arbeit auch etwas mit dem Personal. Wir müssen über Spannungen und psychische Belastungen im Amt reden, wie sie in die Familie getragen werden, mit wem die Mitarbeiter:innen reden dürfen. Wertschätzung und Fürsorge tragen dazu bei, wie Menschen ihren Job am Ende des Tages machen. Hier müssen wir mehr in unser Personal investieren.

Während ursprünglich in Thüringen eine Abschaffung der V-Leute-Struktur beschlossen wurde, haben Sie diese 2016 wieder eingeführt – mit der Begründung, die Arbeit sei ohne nicht möglich. Was antworten Sie von rechter Gewalt betroffenen Personen, die im Verfassungsschutz selbst ein Sicherheitsrisiko sehen?

Das Instrumentarium der V-Leute ist gesetzlich legitimiert und wurde nie gestrichen, sondern es wurden alle V-Leute abgeschaltet, die während des NSU aktiv waren. Es wurde außerdem geregelt, dass sie nur bei terroristischen Sachverhalten genutzt werden dürfen, Innenminister und Ministerpräsident müssen informiert sein. V-Leute sind ein wichtiges Instrument in einem überschaubaren Werkzeugkasten, wenn wir an Informationen herankommen wollen, die nicht offen zugänglich sind. Aber sie bleiben ein hochriskantes Werkzeug, deswegen wäge ich sehr genau ab. Perversitäten wie beim NSU, wo Verfassungsschützer und Quellen ihre Rollen missbraucht haben, gibt es nicht mehr. Die Vergütungen sind begrenzt. Auch führt man sie nicht mehr zu lange, um kein Abhängigkeitsverhältnis entstehen zu lassen. Auch darf die Quellentätigkeit nicht allein den Lebensunterhalt finanzieren.

Es gibt, etwa hinsichtlich des Falls Walter Lübcke, Verbindungen, die unmittelbar im Bezug zum behördlichen Umgang mit dem „NSU“ stehen. Zum Beispiel die ungeklärten Verwicklungen Andreas Temmes, der als ehemaliger Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes dienstlich mit dem Mörder Walter Lübckes befasst war und dessen Rolle und Anwesenheit beim Mord an Halit Yozgat nie geklärt wurde. Die Netzwerke scheinen also noch zu existieren.

Der Umgang mit dem Mordfall Lübcke hat mich von Anfang an schockiert und frustriert und mich zweifeln lassen, ob wir – damit meine ich auch die Behörden – aus dem NSU gelernt haben. Obwohl wir so gut wie keine Informationen von den anderen Behörden bekommen haben, sind wir schnell auf die Spur gekommen, dass es klare Kontakte in Richtung Thüringen gegeben hat, die in den Bereich des NSU und der Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige (HNG) zurückreichen, die im Umfeld des NSU eine Rolle spielten. 

Das Problem ist, dass das im Grunde bis heute niemanden interessiert hat – erst jetzt, durch zivilgesellschaftliche und mediale Recherche-Netzwerke, die in Kleinstarbeit diese Puzzleteile zusammensetzen. Das lässt mich ein Stück weit ratlos zurück, weil ich davon ausgehen müsste, dass die Behörden mindestens das gleiche Ermittlungsziel haben. Da sind viele Namen, die uns allen sehr geläufig sind, damals wie heute. Ja, ich fühle mich sehr an manche Dinge aus dem NSU erinnert: Ein elitäres Gehabe zwischen manchen Bundes- und Landesbehörden, die untereinander eher im Wettbewerb als im gemeinsamen Tun vereint sind. Dabei meine ich nicht einmal die Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund, die funktioniert besser, als viele denken.

Warum hat sich hier nichts geändert?

Es hat sich zwar etwas verändert, aber es läuft nach wie vor suboptimal. Teilweise mag man das mit unterschiedlichen Zielrichtungen begründen: Staatsanwaltschaft und Polizei wollen Täter überführen, die Beweisführung gerichtsfest machen. Der Nachrichtendienst soll Netzwerke und Hintergründe aufdecken und daraus lernen: Was haben wir übersehen, wo ist das Frühwarnsystem gescheitert? Hier müssen Polizei und Verfassungsschutz besser zusammenarbeiten. Täter oder Täterinnen können gerichtsfest gemacht werden, aber das Umfeld muss trotzdem weiter aufgeklärt werden.

Sie sind bekannt geworden als Verfassungsschutzpräsident, der die Abschaffung des Dienstes als Option in den Raum stellte, sollten die Reformen nicht funktionieren. 

Stephan J. Kramer
Stephan J. Kramer - Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes

Das bezog sich auf den NSU. Es ging mir nicht darum, die Institution abzuschaffen – wobei ich da offen bin, aber dann muss klar sein, wer die Aufgaben übernimmt und wie die Sicherheitsarchitektur in Zukunft aussehen soll. Damals war ich der Auffassung, so wie dieser Verfassungsschutz aufgestellt ist und wie er personell ausgestattet ist, schadet er mehr, als dass er nützt. Ich bin angetreten, um nach der Katastrophe das Reformprojekt in Thüringen mitzugestalten. Mündige Bürgerinnen und Bürger bedeuten ja nicht, dass man nicht auch ergänzend von staatlicher Seite eine Behörde wie den Verfassungsschutz braucht. Ich finde es stellenweise fragwürdig, wenn selbsternannte zivilgesellschaftliche Verfassungsschützer nachrichtendienstliche Mittel anwenden, die man uns als Behörde am liebsten entziehen würde, um dann ihrerseits an wichtige Informationen zu gelangen. Ein gesundes Wechselspiel und der kritische Dialog zwischen beiden ist wichtig, ebenso wie das Grundverständnis: Sehen wir in Sicherheitsbehörden Feinde der freien Gesellschaft oder Verbündete für eine wehrhafte Demokratie? Dafür müssen sich natürlich die Behörden und ihr Personal ändern. Der noch lange nicht beendete Reformprozess im Verfassungsschutz kann nur im kritischen Dialog mit der Zivilgesellschaft umgesetzt werden. Beide Seiten müssen aus den Schützengräben raus und Vertrauen aufbauen.

Nach Ihren Aussagen spielt die Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle. Wie genau fügt sich die Rolle eines Verfassungsschutzes als „Frühwarnsystem“ hier ein?

Wir sammeln Informationen zu 80 Prozent aus öffentlichen und zu 20 Prozent aus nachrichtendienstlichen Quellen, um Gefahren für die freiheitlich demokratische Grundordnung frühzeitig zu erkennen und Politik und Öffentlichkeit zu alarmieren. Investigative Journalisten beispielsweise schleusen sich mit falschen Identitäten und unter höchster Gefahr in Gruppierungen ein. Das ist nichts anderes als das, was wir in solchen Situationen machen. Wir haben noch das ein oder andere zusätzliche Mittel, aber journalistische und antifaschistische Recherchebündnisse sind gut aufgestellt. Ich wünschte manchmal, ich hätte auch mehr solche Hacker und Spürnasen im Haus. Es kommt also auf Motivation und Ethos an, da sind andere begeisterungsfähiger als manche Angehörige eines öffentlichen Dienstes. Uns unterscheidet von gut gemeinten und manchmal sehr effektiven zivilgesellschaftlichen Institutionen allerdings auch die parlamentarische Kontrolle, die gesetzlichen Verpflichtungen und das Controlling im Haus. Wir müssen mit unseren Tätigkeiten und Bewertungen vor Gericht einer Prüfung standhalten.

Im Lagebericht „Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden“ heißt es zur Erkennung rechter Netzwerke: „Zentrale Herausforderung ist die frühzeitige Einbindung des Verfassungsschutzes durch Übermittlung einer Erkenntnismitteilung bzw. -anfrage.“ Der Verfassungsschutz müsste also Kenntnis über rechte Netzwerke und Strukturen in anderen Behörden haben. Wie sieht das in der Realität aus?

Es steht im Verfassungsschutzgesetz, dass zum Beispiel die Staatsanwaltschaften, aber auch andere Behörden, wenn sie aus Strafermittlungen Erkenntnisse zum möglichen Aufgabenbereich des Verfassungsschutzes haben, den Verfassungsschutz unaufgefordert darüber informieren müssen. Ich habe vor einem Jahr hier im Amt mal gefragt: Wie oft hat uns eine Thüringer Staatsanwaltschaft seit meinem Amtsantritt 2015 von sich aus über irgendeinen Fall informiert, der Anlass geboten hätte? Die Antwort war schnell gefunden: Kein einziges Mal. Hier sind wir aber heute zum Glück viel weiter, etwa in der Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft. In dem Zeitraum, der in dem Lagebericht bearbeitet wird, hat aber keine einzige Polizeibehörde oder Dienstherr von sich aus einen Fall an uns gemeldet. 

Im Fall rechtsextremer Chatgruppen ist der Landesverfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen ins Licht gerückt. Auch in Thüringen wurde erst kürzlich ein Polizeianwärter aufgrund rechtsextremer Äußerungen in einem Chat entlassen. Wie haben Sie auf das Bekanntwerden reagiert: Läuft der Verfassungsschutz Gefahr, unterlaufen zu werden?

Ja, die Gefahr besteht für alle Behörden, insbesondere die Sicherheitsbehörden und ist auch nicht neu. Es gab schon einmal eine Zeit, in den siebziger Jahren, in der man sich der Gefahr der Unterwanderung und Manipulation staatlicher Behörden durchaus bewusst war. Es ist doch interessant, dass wir heute wieder vor der gleichen Frage stehen und genau dieselben Fehler in der Diskussion machen. Die Lösung ist sicherlich nicht der Radikalenerlaß aus dem Jahr 1972. Die Lösung ist aber auch nicht, den Mantel des Schweigens und der Solidarität darum zu legen. Hat sich der Geist in den Behörden wirklich verändert? Ich rede dabei nicht von konspirativen Dingen, wie sie in Thüringen zu Zeiten des NSU stattgefunden haben. Aber: Haben wir die richtigen Reformen umgesetzt? Der Verfassungsschutz hat in Thüringen Schuld auf sich geladen zur damaligen Zeit. Aber er war auch nicht der einzige Akteur. Die Aufarbeitung der Polizeiarbeit steht noch an. Man wird sich auch mit der Rolle der Staatsanwaltschaften und der Justiz beschäftigen müssen, die nicht unwesentlich ist. Spätestens dann müssen wir uns auch die Frage nach politischen Verantwortlichkeiten stellen: Es hat zu Zeiten des NSU auch in Thüringen schon eine Parlamentarische Kontrollkommission gegeben, ebenso wie ein Aufsichtsreferat im Innenministerium – also alles Mechanismen, die nicht so neu sind. Hand aufs Herz: Was wurde damals eigentlich beaufsichtigt und kontrolliert? Wo haben diese Gremien nicht hingehört? Wo hat man sie hinters Licht geführt? Das Zusammenspiel dieser Akteure muss herausgearbeitet werden, sonst tut man dem Verfassungsschutz unrecht. Das wird unangenehm: Einige sind heute noch in politischer Verantwortung. Aber wer Aufarbeitung ernst nimmt und Konsequenzen ziehen will, damit sich Fehler nicht wiederholen, braucht Vertrauen seitens der Zivilgesellschaft in ihre staatlichen Institutionen.

Im Prozess zum Mord an Walter Lübcke hat einer der Angeklagten ausgesagt, der Entschluss zur Tat fiel nach der rassistischen Massenmobilisierung in Chemnitz 2018. Ist Ihre Behörde vorbereitet, um auf solche Bedrohungen zu reagieren?

Reagieren tun wir. Die Frage ist, ob wir unser Ziel damit erreichen können, einen solchen Mord zukünftig eher zu verhindern. Halte ich es für möglich, dass Ereignisse plötzlich dazu führen, dass Menschen kippen und zum Attentäter werden? Ja. Solche Leute haben eine Vorgeschichte, es gibt verschiedene psychologische und soziologische Gründe, weshalb ein Mensch gewalttätig wird. Wenn der Verfassungsschutz tätig werden muss, dann ist das Kind schon in den Brunnen gefallen. Wir müssen viel früher ansetzen, Soziologinnen und Soziologen fordern das schon lange. Das wird viel zu häufig abgetan, nicht zuletzt auch in der Politik, und das frustriert. Wir müssen mehr vor Ort sein, Menschen zuhören, die sonst nicht durchdringen. Das ist mein größter Vorwurf an die Politik: Viele der Probleme, mit denen wir es als Sicherheitsbehörden zu tun haben, bis hin zu Wutbürgern und Frustrierten, haben mal einen kleinen Anlass gehabt. Ich bin nach wie vor der Überzeugung: Der beste Verfassungsschutz sind mündige Bürger. Noch eine Prise Empathie dazu, könnte auch nicht schaden.

Im März 2020 wurde der gesamte Landesverband der AfD in Thüringen vom Prüf- zum Verdachtsfall hochgestuft. Was bedeutet die Beobachtung einer Partei, die gleichzeitig zweitstärkste Kraft im Landesparlament ist, für Ihre Arbeit?

Das hat einen dramatischen Einfluss. Die AfD ist im Moment in Teilen, in Bezug auf den Flügel als erwiesen verfassungsfeindlich eingestuft. Beim Landesverband Thüringen liegen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor, weswegen wir sie als Verdachtsfall bearbeiten. Teile der AfD haben also den Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung verlassen. Sie wollen diese überwinden. Sie ist nicht verboten, es gab auch noch keinen Antrag. Die Partei hat Rechte nach dem Grundgesetz und die sind sehr weitgehend, beispielsweise haben sie also auch einen Anspruch in der parlamentarischen Kontrollkommission zu sitzen. Über eine solch absurde Situation haben sich die Mütter und Väter der Verfassung seinerzeit keine Gedanken gemacht, das müssen wir aber jetzt, sonst kann der Verfassungsschutz, als Teil der wehrhaften Demokratie, seine Aufgabe nicht wahrnehmen. Mir bliebe dann nur übrig, dass ich das Parlament nicht informiere oder belüge. Und das wird mit mir nicht passieren. Das heißt, es muss eine strukturelle Veränderung geben, damit in diesem Kontrollgremium niemand sitzt, der vom Verfassungsschutz als verfassungsfeindlich beobachtet wird.

Zudem Björn Höcke zum offenen Widerstand gegen die Staatsorgane aufruft. 

Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes spielt eine große Rolle in der Neuen Rechten. Wir alle erinnern uns an den Spruch von Goebbels: ‚Wir gehen in die Waffenkammer der Demokratie, versorgen uns mit den Waffen der Demokratie, um die Demokratie zu überwinden. (…) Wir werden als Wölfe in die Schafherde eindringen.‘ Reiner Zufall natürlich, dass Herr Höcke diese Formulierung mehrfach verwendet. Dieses Widerstandsrecht der Verfassung soll benutzt werden, um die Verfassung abzuschaffen. Das ist nichts anderes als das, was Goebbels nationalsozialistische Diktion 1928 besagt hat, als es darum ging, die Weimarer Republik zu überwinden. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sie schon sehr weit eingedrungen sind in die Waffenkammer der Demokratie und das Ziel klar formuliert haben. Ein Verbotsverfahren sollte daher ernsthaft geprüft werden, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind.

Die Novelle des Verfassungsschutzgesetzes erweitert unter anderem die Befugnisse zur Quellenüberwachung zur verbesserten Bekämpfung von Rechtsextremismus. Was ist von dieser Reform zu erwarten?

Die Novelle regelt einige wichtige Punkte, etwa die Zusammenarbeit zwischen den Behörden auf Bundes- und Landesebene und den Informationsaustausch. Mit den Methoden der 70er, 80er Jahre kommen wir nicht weiter, etwa wenn es um soziale Netzwerke und digitale Kommunikation geht. Es bleibt die Problematik der Messengerdienste, die wir auch bei begründetem Verdacht nicht mitlesen dürfen. Ich halte die gesellschaftliche Kritik an solchen Überwachungsinstrumenten für legitim und nachvollziehbar. Dann muss aber klar sein, dass wir gewisse Dinge nicht verhindern können. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, darf es nicht sein. Die Internet-Provider schränken Freiheit an Stellen ein, wo es ihrem Geschäftszweck nützt. Sie wollen es aber nicht tun, wenn es um Sicherheit und um die Bekämpfung von Hass und Hetze geht. Ein weiterer Aspekt sind Algorithmen, die in den sozialen Netzwerken selbst zur Radikalisierung führen. Darüber müssen wir uns in der Gesellschaft unterhalten. Nicht durch Zensur, sondern Bildung und Aufklärung sind wirksame Gegenmittel.

Ist der Verfassungsschutz in der Lage, auf neue Bedrohungen hinsichtlich globaler Vernetzung zu reagieren?

Auch hier ist die Arbeit mit der Zivilgesellschaft zentral, nicht nur für Bewertungen und Analysen, sondern zur Sensibilisierung des Verfassungsschutzes für neue Phänomenbereiche. Hier gibt es auf beiden Seiten Berührungsängste, die müssen wir überwinden.

„Sicherheit“ wird politisch instrumentalisiert, um zu spalten und Ängste zu konstruieren. Sie haben in 2016 die Frage, ob geflüchtete Menschen in Deutschland sicher sind, mit “Ja” beantwortet. Würden Sie die Frage nach fünf Jahren im Amt genauso beantworten?

Ich würde das heute skeptischer sehen, unter dem Gesichtspunkt: Was bedeutet Sicherheit für Flüchtlinge in diesem Land? Das Klima ist sehr viel rauer geworden als noch 2015 oder 2016. Der Begriff wird missbraucht, als Kampfmittel eingesetzt, um die Gesellschaft auseinanderzudividieren. Mit Angst wird sehr viel Politik gemacht und das ist gefährlich. „Sicherheit“ heißt nicht nur Polizei auf der Straße. Sicherheit heißt auch, meine Meinung frei sagen zu können, respektiert zu werden. Wir müssen gemeinsam aushandeln, was Sicherheit in unserer Gesellschaft bedeutet und schauen, wer sie instrumentalisiert. Sicherheit und Freiheit müssen im gesellschaftlichen Diskurs austariert werden in einer offenen Gesellschaft.

Abgesehen davon glaube ich aber, dass die Rechtsextremisten es leider geschafft haben, die Institutionen zu durchsetzen und zu durchwandern. Dass unsere Fundamente in der Tat sehr existentiell bedroht sind. Deswegen halte ich auch nach wie vor meine Meinung aufrecht, dass der Rechtsextremismus in der Form, wie wir ihn gerade jetzt erleben, mit unterschiedlichen Facetten auf den unterschiedlichen Ebenen und in den sozialen Räumen, an die Wurzel geht. Und wenn wir nicht höllisch aufpassen, dann stehen wir am Ende ohne offene Gesellschaft und ohne Demokratie da.