Auf den Flügeln eines Kranichs

Erzählung

Die Schriftstellerin Saliha Scheinhardt kam 1967 aus der Türkei nach Deutschland. In ihrer autobiografischen Erzählung blickt sie zurück auf die Zeit des Ankommens, des Strauchelns, des Kämpfens und unermüdlichen Schreibens. Und auf eine ganz besondere Brieffreundschaft mit einem der populärsten Satiriker der Türkei.

Aziz Nesin und Saliha Scheinhardt
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Saliha Scheinhardt und Aziz Nesin, 1988 © Nesin Stiftung / Nesin Vakfı

Es ist mein dreißigster Geburtstag. Ich habe noch nie meinen Geburtstag gefeiert. Immer kommen andere auf solche reizenden Ideen und zwingen mich praktisch dazu, etwas zu feiern, was nicht zu feiern ist. Das Geburtstagsdatum, das mich ausweist, gehört zu meiner verstorbenen Schwester, so wie mein Name ihrer ist.  

Aber heute. Ein Gast kommt. Ein seltener Gast. Eine Berühmtheit. Jeder kennt ihn, die einen lieben ihn, die anderen sind seine unerbittlichen Feinde. Und sie sind die Mehrheit. Ich bin nicht besonders glücklich gelaunt, heute schon gar nicht, denn es ist Freitag, ich habe Mann und Kind vor einigen Monaten verlassen und sitze in einem entsetzlichen Kaff, in einer verschimmelten, vermoderten Sozialbauwohnung neben dem Bahnhof. Während der Woche arbeite ich, es sind Menschen um mich, bin abgelenkt von meinem Kummer. Ab Freitagmittag, wenn auf den Fluren unserer Fakultät die Schritte immer weniger werden, beginnt für mich die Hölle. Ich habe niemanden. Alle, aber alle, die ich gerne bei mir hätte, sind weit weg. Die Heimat rückt immer ferner und somit meine Wurzeln. In meiner Wahlheimat fasse ich keinen Fuß. Mir gelingt nichts. Familie, Liebe, Arbeit, nichts – alles, was ich mir mühsam erkämpfen und festhalten will, verfließt mir, will mich nicht. Aber auf den Gast bin ich schon neugierig. Wäre ich in der Heimat geblieben, wären mir solche Begegnungen verwehrt gewesen. Wir waren einfache Leute, in einer streng konservativen, von der Welt abgeschnittenen Stadt, zermürbt im Kampf um das tägliche Brot. Die Stadt, die einst die mit kostbarer Seide, Edelsteinen und Gewürzen beladenen Karawanen der Seidenstraße beherbergte und die Stadt Rumis, dem Philosophen und Mystiker, der bereits vor 700 Jahren in seiner Dichtung die hohen humanistischen Ideale und einen aufgeklärten Islam predigte und die Menschheit durch Tanz und Musik auf die Liebe und Toleranz verwies, die der Schlüssel aller Herzen sei. “Entweder erscheine so wie du bist, oder sei so wie du erscheinst“.

Für eine bessere Zukunft kämpfen

Eben diesem Leben kehrte ich mit noch kaum achtzehn Jahren den Rücken und floh mit einem Dauerstudenten, weil er anständig war und gepflegte Hände hatte, über den Iran, Afghanistan, der Sowjetunion und Polen und landete an einem kalten, regnerischen Oktobertag in einem norddeutschen Städtchen, in einer ungewissen Zukunft. Ich lernte schnell ihre Sprache, begann in einer Fabrikhalle Unterwäsche zu nähen. Das Nähen ist eine Routinearbeit, dabei kann man träumen von besseren Tagen. Wir, ausschließlich Frauen, arbeiteten für einen Hungerlohn hart in den dunklen Hallen, Tonnen von Textilstaub schluckend und würden nie auf einen grünen Zweig kommen, wenn wir unsere Wut nicht in die Tat umsetzten. Wie konnten wir „Nein“ sagen, wenn es uns an den Kragen ging? Ich trat in eine Gewerkschaft ein. Ich begann zu lesen, „Mme. Bovary“ und „Anna Karenina“ hatte ich noch auf der Schulbank verschlungen, sowie Gorkis „Mutter“ und Kafkas „Verwandlung“, hungrig nach Wissen seit eh und je. Unendlich viele Fragen schwirrten in meinem Kopf und die Kardinalfrage „Warum“. Die Unruhe in mir sagte, dass irgendetwas hier in dieser Fabrik, in meiner unmittelbaren Umgebung falsch lief. Alles lief falsch.

Ich konnte nie weggucken. Ich mischte mich ein, prangerte die Ungerechtigkeit an, heizte die Mitarbeiterinnen an, denn die Hälfte der Belegschaft waren Frauen aus meinem Land. Ich wurde zu einer Rädelsführerin, „Nein“ sagen, wenn es die Sache verlangte, die Stirn bieten, gemeinsam. Hürden überspringen, immer und immer wieder neue Anläufe wagen, nach jeder Bruchlandung wieder aufstehen, stärker als zuvor. Tag ein, Tag aus der unruhige Traum, so konnte es nicht bleiben. Also studierte ich über den zweiten Bildungsweg. Dort erst recht schärfte sich mein Ehrgeiz für den Kampf für Veränderungen, für eine bessere, gemeinsame Zukunft.

Türkische Kinder an deutschen Schulen

Nach dem Studium bekam ich eine Planstelle als Lehrerin in einem kleinen Dorf in der norddeutschen Pampa, unendliche Ödnis, die nur aus ein paar weit auseinanderliegenden Bauernhöfen, einem Postamt, einer Kirche und einem gigantisch großen Einkaufszentrum bestand. Wir bezogen eine Schulwohnung gleich neben der Schule, unser Junge wurde eingeschult, sein Vater schrieb an seiner Dissertation. Ich ließ mich bewusst in diese Schule abordnen, weil sie ein Sammelbecken von Kindern aus der Türkei war. Jeden Morgen wurden 150 Kinder und Jugendliche aus den umliegenden Kreisen mit Bussen in diese Dorfschule gebracht, weil in unserem Dorf der deutsche Nachwuchs fehlte.

Es war 1975. Die Ölkrise hatte unseren Globus durchgefegt und Deutschland hatte infolgedessen beschlossen, keine türkischen Arbeiter mehr kommen zu lassen. Stattdessen sollten die Frauen und Kinder der Männer nachgeholt werden, die bereits hier waren. Mütter kamen, Kinder und Jugendliche kamen, die Familienzusammenführung sollte nun folgen. Doch zum Zeitpunkt ihres Kommens gab es nicht einmal eine Idee, was aus diesen Kindern und Jugendlichen werden sollte. Es gab keine Lehrer:innen, es gab keine Bücher, es gab keine Lehrpläne. Genau deswegen brannte ich geradezu darauf, in dieser Schule mit diesen Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Doch unsere Ideale können manchmal zu einer verheerenden Falle in unserem Leben werden. Als ich in diese Schule kam, waren bereits 150 Kinder und Jugendliche in zwei Klassenräumen zusammengepfercht. Man hatte zwei türkische Männer, die nicht einmal besonders gut deutsch sprachen und irgendwann vor Jahrzehnten in Anatolien Lehrer waren, vom Straßenbau geholt, man drückte ihnen lange Stöcke in die Hände und ging. Hauptsache, die Kinder waren weg von der Straße, Hauptsache, sie waren keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Sie wollten mich nicht als Lehrerin für ihre Kinder

Das neue Schuljahr begann, ich bekam eine deutsche, äußerst unbeliebte Klasse zugeteilt, die offensichtlich keiner meiner Kolleg:innen haben wollte, weil es einige problematische Schüler:innen gab. Ich wusste nicht, was vor meiner Ankunft alles vorgefallen war, aber angeblich waren sie faul, lernunwillig, schwierig, grob, kurzum hoffnungslos und würden am Ende des Schuljahres scheitern, seien also der Mühe nicht wert. Aber ich sollte mit ihnen fertig werden.

Gleichzeitig verwahrlosten die türkischen Kinder und Jugendlichen vor meinen Augen und ich konnte mir ausrechnen, was mit ihnen passieren würde, wenn sie die Vollzeitschulpflicht hinter sich hätten. Tag ein, Tag aus unterhielt ich mich in den Pausen auf dem Schulhof mit unseren Kindern, halb satt, halb hungrig, ungewaschen, manche in Lumpen, andere ohne Pausenbrote, weil ihre Eltern morgens längst zur Arbeit gegangen waren. Sie klammerten sich an meine Beine und überschütteten mich mit Fragen, warum ich sie denn nicht unterrichtete, ich hatte keine Antwort. Natürlich konnte ich nicht schweigen, ich rebellierte, doch niemand nahm Notiz von meinen Klagen und Beschwerden. Ich machte mir nur noch mehr Feinde.

Die Schüler:innen trotteten jeden Morgen mürrisch nörgelnd in den Klassenraum. Kamen sie zu spät, war ihre Begründung: „Ich musste ausmisten“. Ich kannte das Wort „ausmisten“ nicht, es folgte schallendes Gelächter. Oft sprachen sie demonstrativ Plattdeutsch im Unterricht, um mich in Verzweiflung und Raserei zu treiben, ich blieb still, schluckte all diese Demütigungen, während sie sich gegenseitig mit Papierbällen bewarfen, Chaos entstand und ich Angst bekam, dass diese unberechenbaren Jungs jeden Moment auf mich losgehen könnten. Ich war der Sündenbock für ihre all die Jahre angestaute Frustration, ihre Wut und ihren Hass.

Zwar gab ich mir die größte Mühe gerade mit den älteren Schüler:innen Freundschaften zu schließen. Ich besuchte die Eltern auf ihren Höfen, um das Eis zu brechen und sie mit ihren schrecklichen Vorurteilen zu versöhnen. So erstaunt waren sie, als ich freundlich und deutsch sprechend vor ihnen stand, jung und modern, denn die meisten dachten, ich sei eine Kopftuchträgerin, den Bildern vom Fernsehen nach trugen alle Frauen aus der Türkei einen Schleier. Sie kamen nicht zu meinen Elternversammlungen, sie ignorierten mich und wollten mich nicht als Lehrerin für ihre Kinder haben. Sie wollten, dass die Jugendlichen von deutschen Lehrer:innen unterrichtet wurden, aber diese wollten ihre Kinder nicht, das hatte ihnen niemand erzählt.

Alle Mühen, Kontakt und Vertrauen zu ihnen herzustellen, sei es durch gemeinsame Konzertbesuche oder das Gründen einer Sport AG, blieben weitgehend erfolglos. Der Schulleiter, ein kleinwüchsiger, alter Mann, der keinen Hehl aus seinen politischen Ansichten machte, stand schon früh am Morgen mit einer stinkenden Zigarre auf dem Flur und kommandierte mit seinem dicken Zeigefinger, als herrsche er über die ganze Welt. Eines Morgens stellte er sich mir in den Weg und brüllte, ich solle mir nicht einbilden hier eine Revolution machen zu wollen! Ich solle wie alle unterrichten und sonst nichts!

Fallen und Aufstehen

Der Krieg eskalierte. Der Elternbeirat, vermutlich aufgestachelt vom Schulleiter und dem übrigen Kollegium, bombardierte das Regierungspräsidium mit Schreiben und Beschwerden, dass ich als Türkin für die deutschen Kinder ungeeignet sei. Sie wünschten sich eine deutsche Erziehung. Auch ich wollte weg. Nach all dem was passiert war, wollte auch ich nicht mehr in dieser Hölle bleiben, wären da nicht jene Kinder mit den großen, dunklen, fragenden Augen. Und ihr unschuldiges Lächeln, wie die Sonnenblumen aus meiner Steppe. Ich habe dem Bösen viele Male ins Gesicht gestarrt. Zu diesem Zeitpunkt schien in meinem Leben alles auseinander zu bröckeln, alles schien zusammenzubrechen, jeder Halt, den ich mühsam geflickt hatte, zerfiel, und eines Morgens, mitten im Unterricht, brach ich im Klassenraum zusammen. Die Schüler:innen sahen, was passierte, sie taten nichts. Ich schleppte mich blutend hinaus, mir war, als riss mir eine Hand meine Gedärme heraus, ich wimmerte vor Schmerz, schämte mich um Hilfe zu rufen, an der Hausmauer verlor ich das Bewusstsein. Erst nach der Operation erfuhr ich, dass ich mein Kind verloren hatte.

Vier Kraniche fliegen über karge Bäume in grauem Himmel
Kraniche im Uchter Moor

Als ich nach sechs Wochen wieder halbwegs gesund zur Schule zurückkehrte, mieden mich wie immer alle, die Lehrer:innen, die Schüler:innen, die Eltern. Wieder begann eine zermürbende Zeit. Ratlos, rastlos, alleingelassen von Gott und der Menschheit, grübelte ich in schlaflosen Nächten. Ich wünschte mir eine Menschenseele, die fragte, wie mir zumute war, eine warme Schulter, an der ich mich ausweinen konnte. Nicht lange nach diesen Ereignissen entdeckte mich ein Professor auf einer Wochenendtagung über die Schulprobleme der „Gastarbeiterkinder”. Ich legte einen ausführlichen Bericht über meine Erfahrungen in meiner Schule vor, er war begeistert und bot mir eine Assistentinstelle in einer Forschungsgruppe an. Wieder begann ein neuer Abschnitt in meinem jungen Leben, voll von Ungewissheit, aber auch von Hoffnung und Neugierde. Ziemlich bald und dieses mal alleine, packte ich meine Sachen und ging.

Die erste Begegnung

Der erwartete Gast war gerade deshalb wichtig. Ich hatte seine Werke in meinen einsamen, kalten, dunklen Nächten in jener verschimmelten Wohnung verschlungen. Er war meine Medizin. Und dabei hatte ich gelesen, dass die Ärzte seine Bücher in den Krankenhäusern verboten, weil den Patient:innen die Nähte platzten vom Lachen. Ein Satiriker, der wegen seiner scharfen Feder und Zunge viele Jahre Haft und Verbannung erlitt, immer ein Dorn im Auge für die da oben. Er wusste nichts davon, wie meine gemarterte Seele in meinem Kerker Nacht für Nacht nach seinen Geschichten verlangte. Und heute Abend würde er uns vorlesen, seine Werke signieren, mit uns sprechen, auf Augenhöhe. Wir würden lachen und uns an ihn klammern und wünschen, er möge für immer bei uns sein.

Der Teufel weiß warum, immer wenn ich von etwas Schönem träume, bricht es wie ein Kartenspiel zusammen. Unfassbar. Da saß ein kleiner Mann an einem Tisch, umgeben von gierigen Blicken, Ohren und Mündern, so klein, so mürrisch, so ungepflegt. Unmut befiel mich, ich war schrecklich verstimmt, war von einer Minute zur anderen dermaßen unglücklich, enttäuscht, dass ich keine Minute mehr dort bleiben wollte. Als ich mich zum Gehen bewegte, hielt die Inhaberin der Buchhandlung meinen Arm. „Warte!“ sagte sie, „hab etwas Geduld“, beinahe flehend. Ich nippte an dem Sekt.

Tatsächlich. Der Laden leerte sich. Nach der Veranstaltung schloss sich der Gast im Haus des Gastgebers ins Bad und als er nach geraumer Zeit heraus kam, hätte man gedacht, Jean Gabin steht bis zu beiden Ohren lächelnd vor einem, charmant, strahlend, witzig, bereit mit seinen Fünfundsechzig Jahren Berge zu versetzen. In jener Nacht haben wir nach einem vornehmen Dinner in der Düsseldorfer Altstadt in einer Hochstimmung fast alle Musik- und Tanzlokale auf den Kopf gestellt. Zwei Tage später brachten ihn die Freunde zu mir, da er mich wiedersehen wollte. Ich zeigte ihm unsere Räumlichkeiten, etwas verdutzt, war unvorbereitet und bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Ich war Überraschungen nicht gewohnt, dennoch, er war nicht irgendwer, Ehrerbietung war das höchste Gut meiner Erziehung. Ich stellte ihn den verschiedenen Professoren unserer Fakultät vor, berichtete von unserem empirischen Forschungsprojekt über die „Gastarbeiterfamilien“. Neugierig durchlöcherte er mich mit tausend Fragen, Details, auf die ich nie gekommen wäre, dabei nahm er fleißig Notizen in arabischer Schrift. Wir hörten uns das eine oder andere Interview aus unserem Archiv an, die ich von den Probanden aufgenommen hatte, er war begeistert, dann schlenderten wir in unserer Bibliothek, wo ich dabei war, Literatur aus der Türkei zu beschaffen. Auch seine Bücher waren darunter. Er lächelte.

Schwarz-Weiß-Fotografie von Saliha Scheinhardt
Aus dem Privatarchiv von Saliha Scheinhardt

In der Mittagspause spazierten wir am Rhein entlang. Es war ein wunderbar warmer Frühlingstag. Der Rhein floss friedlich, erhaben, mächtig, rauschend in grünen Wogen. Eine Schafsherde weidete am Ufer des Flusses, der Schäfer saß unter einem Baum und las. Junge Menschen, umschlungen unter den Bäumen, nahmen keine Notiz von uns, wir dehnten unseren Spaziergang aus, da ich keine eiligen Termine hatte, es schien, dass das Leben für ihn so wie jetzt am Rhein entlang spazierend ruhig weitergehen konnte. Natürlich war er gequält, so sehr gequält, als ob er den Globus auf seinen Schultern trug. „Erzähl mir“, sagte er, „welcher Wind hat dich nach Deutschland geweht?“

Die Last auf unseren Schultern

Leise, zögernd, stockend, mit wenigen Worten erzählte ich. Murmelnd fast so leise als ob ich mit mir selbst spräche; von meiner Kindheit in Anatolien, von unserem Lehmhaus am Rande der Stadt, von meinem kranken, die meiste Zeit arbeitslosen Vater, von meiner unwissenden, bigotten Mutter, von unserem verwahrlosten Leben, von meinen lebenden und auch toten Geschwistern, vom Hunger, von der elterlichen Gewalt und Willkür und von unserem hoffnungslos gescheiterten Dasein. Dass ich herzzerreißende Lieder singen konnte, dass ich in einer studentischen Theatergruppe heimlich Theater spielte, dass ich Gedichte schrieb, in den Sommerferien hier und da jobbte, um mein Schulgeld zusammenzukriegen, dass ich Fremdenführerin war, mit meinem Schulfranzösisch Franzosen in die Ausgrabungsstätten von Çatalhöyük und in die Museen unserer Stadt führte und alles, was ich ihnen erzählte, aus den Broschüren in Französisch auswendig gelernt hatte, alles über die zwölftausend Jahre alte Geschichte und über Kybele, die Fruchtbarkeitsgöttin mit tausend Brüsten. Er hörte zu, gebannt, ja er spazierte mit mir in jenen staubigen Gassen und war Zeuge einer unglücklichen Kindheit in Anatolien. Hin und wieder gab er ein „Cik cik cik!“ von sich, als ob er all das nicht glauben konnte, was ich soeben und die ganze Zeit aus mir sprudeln ließ, als sei es so Alltägliches, so Stinknormales, während er sein Haupt leicht nach links und rechts bewegte und gebannt weiter lauschte. Dann erzählte ich etwas geschwächt, unschlüssig, mit zitteriger Stimme, die mir zeitweise  in der Kehle zu stecken drohte, endlich von meiner Begegnung mit dem jungen deutschen Studenten in jener vergessenen Stadt in der anatolischen Steppe, dann über meinen Entschluss zu gehen, für immer zu gehen, meinem jungen Leben eine würdevolle, menschliche Zukunft zu erkämpfen.

Wir setzen uns auf die Bank unter einer Linde. Ich fragte ihn, ob ich rauchen dürfe, er nickte, ich reichte ihm mein Zigarettenetui, er schüttelte den Kopf, nahm aber das Etui, inhalierte den Tabakduft mit geschlossenen Augen, er genoss es. „Oh! Welch eine Verführung!“, sagte er stöhnend. „Und jetzt steht die Scheidung bevor, deinen Sohn hat man dir entrissen, weil er als deutscher Junge von einem deutschen Vater und einer ausländischen Mutter automatisch dem Vater zugestanden wird. Und sowas nennt sich eine gerechte Justiz, ein Rechtstaat, was für Gesetze sind das, die das Kind der Mutter entreißen?“

Wenige Tage später flog er nach Istanbul zurück. In eine Welt, von der ich keine Vorstellung hatte. Das Leben mit hundert Kindern in einer Stiftung, die er für obdachlose Kinder gegründet hatte, die so etwas wie ein SOS Kinderdorf werden sollte, der harte Alltag, besonders in den eisigkalten Wintermonaten im thrakischen Hochland ohne Heizung, ohne fließendem Wasser, mit vielen Tieren; bekämpft von der Regierung als eine kommunistische Zelle, die sofort eliminiert werden sollte, Gerichtsverhandlungen, Polizeirazzien, dazu ständige finanzielle Sorgen, und ich, was wusste ich von seinen Sorgen. Von seinen Büchern wusste ich, dass er die Verantwortung der gesamten Menschheit auf seine Schultern geladen hatte.

Der Beginn einer Brieffreundschaft

Tagsüber stand er in Gerichtssälen und verteidigte seine Bücher, verteidigte seine Weltanschauung, hielt politische, philosophische Vorträge über ein würdiges Leben und eine menschenwürdige Zukunft, über eine saubere, glückliche, gerechte Gesellschaft, für die zu kämpfen er als seine politische und moralische Pflicht erachtete. Er war ein leidenschaftlicher Patriot. Den Kindern in der Stiftung war er Mutter und Vater, er wickelte, fütterte, wusch und kleidete sie. Morgens zündete er selbst einzeln die Holzöfen in den Schlafsälen, damit die Kinder in Wärme aufwachten. Gemeinsam pflückten sie das Obst vom Garten und kochten Marmelade für einen langen Winter. Nachts schrieb er im Keller der Stiftung seine Kurzgeschichten, Romane, Theaterstücke, Gedichte, damit Geld reinkam, damit die Kinder ein besseres Leben hatten. Ein Königreich sollte es werden, ein Königreich, wo die Kinder von Kopf bis Fuß verwöhnt würden. Von seiner eigenen schmerzhaften Kindheit wusste ich.

Er schrieb mit wollenen Handschuhen, deren Fingerkuppeln abgeschnitten waren, auf einer winzig kleinen Schreibmaschine, deren Buchstaben auf der Tastatur längst weggewischt waren. Er scherzte, die Schreibmaschine würde die Bücher nun mehr selbstständig ohne seine Hilfe schreiben, so lange Jahre schon lebten und litten sie zusammen. Neben ihm stand eine kleine Propangasflasche, darüber die dampfende Teekanne, um wachzubleiben, nach sechzig Stück Zigaretten am Tag und dies seit vielen Jahren, hatte er aufgehört zu rauchen, ein summendes kleines Transistorradio lief. Er schrieb nachts. Auch seine Briefe schrieb er nachts.

Brief adressiert an Saliha Scheinhardt von Aziz Nesin
Brief an Saliha Scheinhardt, © Nesin Stiftung / Nesin Vakfi

Unermüdlich, lange, intensive, ausführliche Briefe. Nun war er derjenige, der mir sein Leben darbot. Das Meiste über sein Leben kannte ich ja von seinen Büchern, teils von seinen Geschichten über ein unglaublich beschwerliches Leben und seinen beharrlichen Kampf, allem trotzend, was sich ihm in den Weg stellte. Was seine Briefe mir brachten, ging nur mich, ihn und uns an. Wir schrieben, ununterbrochen schrieben wir. Außerordentlich persönlich, aber auch stets politisch, unser Meinungsaustausch, unser politischer Disput, unsere gegenseitige Kritik ging in unseren Briefen hin und her. In manchen Dingen waren wir entgegengesetzter Meinung. Er war ein Mann der alten Schule in seinem Wertverständnis, er war gleichwohl ein eiserner Sozialist, eisern und unbiegsam in seinen Prinzipien von Moral und Anstand und des Klassenkampfes. Ich aber kämpfte auch im Lager der Feminist:innen. Für mich galten keine Tabus. Wir diskutierten ausführlich, unter anderem auch über das Leben der Arbeitsmigrant:innen.

Falsche Ansichten aus der Türkei

In den achtziger Jahren kamen viele türkische Schriftsteller:innen nach Deutschland. Sie mischten sich unter uns, belagerten unser Innenleben wie die Heuschrecken. Manche gingen tausend Meter unter die Erde, zu den Kumpels, andere beschnüffelten in den Hochöfen, sie besuchten unsere Moscheen und Gräber, abends saßen sie in den türkischen Männerkaffees und durchlöcherten uns mit ihren Fragen. Wir vertrauten ihnen, fast zwanzig Jahre schon lebten und arbeiteten wir in diesem Land, fühlten uns wie die vergessenen Stiefkinder der Nation. Bisweilen hatte sich keine Seele um uns gekümmert, kein Staat, kein Klerus, nun kamen die Schriftsteller:innen, Journalist:innen und Filmleute, um unsere Anliegen und unseren Kummer öffentlich zu machen, um uns „eine Stimme“ zu geben. Konnte das funktionieren? Sie schrieben Bücher über uns, berichteten in den Zeitungen. Nicht genug damit, sie urteilten über uns als Expert:innen. Wir erkannten uns nicht wieder, denn wir lebten anders, dachten anders, kämpften oder schwiegen anders, kurzum ihre oberflächlichen, mit Vorurteilen beladenen Berichte verärgerten uns. Auch mein Meister beging diesen Fehler. Obwohl er ein scharfes Auge hatte, hochintelligent, sensibel und erfahren war, ging auch er blindlings in diese Falle; weil sie keinen Einblick hatten, es war ein Ding der Unmöglichkeit, ihnen das, was wir durchgemacht hatten, fühlsam nahezubringen. Wir, ein paar engagierte Intellektuelle mit unserer linksorientierten Weltanschauung bombardierten die Zeitungen mit Kritiken und Klagen, schließlich wurden diese Artikel gestoppt. Aber er, mein Meister, schimpfte mit mir. Er schimpfte, dass wir nicht begriffen hätten, wie der Hase lief.

„Ihr beklagt euch über die Deutschen, sie würden euch ausbeuten, unterdrücken, diskriminieren, man verlange von euch sogar ihre Scheiße weg zu machen. Was wundert ihr euch denn? Recht tun sie! Die Kunst ist, nicht in diese Lage kommen zu müssen. Wenn du einmal hier bist, dann musst du auch bereit sein, deren Mist wegzumachen, tust du es nicht, gibt es andere Millionen, die es tun würden, und glücklich wären, ja gar darum betteln, das wissen die Deutschen! Und Ihr auch, und noch was, Ihr werdet bleiben, alt werden, dort sterben, eure Kinder und Enkelkinder werden die Fahne übernehmen, die Fahne der Unterdrückung, der Ausbeutung.“

Ich hatte sehr wohl begriffen, wie der Hase lief. Ich selbst war, mit kaum siebzehn Jahren in diesem Moloch gelandet und strampelte seither um mein Leben. Hemmungslos schrieb ich ihm, was mich an den türkischen sogenannten Intellektuellen aus Istanbul störte: Sie taten uns keinen Gefallen, sie waren keine Hilfe für uns, keine Wegweiser, wir mochten sie nicht, wenn sie sich so selbstgefällig, besserwisserisch über unser leidgeprüftes Leben prügelten, als wären wir lauter Versager und Bauerntölpel, die es verdienten, ausgebeutet und unterdrückt zu werden. Als sei es unsere Schuld als Sklaven an ein anders Land verschachert worden zu sein. Das sagten wir ihnen auch.  Er selbst schrieb eine Reihe von Zeitungsartikeln, die wir, die Betroffenen, schrecklich empörend fanden. Dennoch wurden jene Auseinandersetzungen für mich persönlich mit der Zeit zu einem Kompass, einem Leuchtturm, der mir meinen Weg erhellte, um mir neue, verlässliche Werte anzueignen.

Schreib, Steppensturm!

Wir schrieben uns in den folgenden bald zwanzig Jahren unermüdlich. Der Fels, an den ich mich in den schwierigsten Zeiten meines Lebens angelehnt hatte, hielt an mir fest, er glaubte an mich als einziger, glaubte ernsthaft, ich sei ein Wunder. „In dir steckt ein Edelstein, Steppensturm, aber er muss erst geschliffen werden, den kann keiner schleifen, nur du kannst es. Und eines Tages wird dieser Edelstein erstrahlend Augen blenden. Also vergeude dein Leben nicht, mach etwas aus ihm, fang an zu schreiben, gleich, Steppensturm, setz dich hin und schreib!“. Als er im Jahre 1983 mein Erstlingsroman Frauen, die sterben, ohne dass sie gelebt hätten an ihn signiert in seinen Händen hielt, war er vor Freude außer sich. Vom Postamt in Çatalca rief er mich an, er lachte aus vollem Halse. „Bravo Steppensturm! Bravo! Ich wusste es! Der Edelstein glänzt nun augenblendend!“.

An Aziz Nesin adressierter Brief von Saliha Scheinhardt
Brief an Aziz Nesin © Nesin Stiftung / Nesin Vakfı

Ich schrieb weiter. Ich reiste durch die Welt, mischte mich unter die indigene Bevölkerung des Amazonas, Lateinamerikas, Australiens, Neuseelands, kletterte auf den Himalaya und in den Anden, lernte Sprachen, suchte und suchte in Wüste und Tal und schrieb, wurde mehrmals mit Preisen honoriert, promovierte und reiste wie ein Wirbelwind durch Europa für Lesungen, Vorträge und Workshops.

Schreiben als Widerstand  

Doch meine Arbeit ging über das Schreiben hinaus. Politische Umwälzungen und historische Veränderungen in Europa brachten nicht nur Gutes für uns. Die Mauer fiel. Unsere Ideale von einem gemeinsamen, multikulturellen, demokratischen Leben in Europa wurden über Nacht zum Gespött. Bald schon wurden Menschen nach dem Krieg das erste Mal wieder auf deutschem Boden verbrannt, weil sie nicht „Deutsch“ waren. Wir, ein kleiner Haufen von Aktivist:innen, gingen auf die Straße in Lichterketten, mobilisierten die Massen und prangerten die rassistische Ausländerpolitik der Bundesregierung an. Auf Kundgebungen und Ostermärschen sprach ich zu den Menschen und forderte sie auf, zu handeln. Ich wurde zur Zielscheibe rassistischer Gruppierungen. Ich bekam Morddrohungen, meine Lesungen wurden mit Tränengasbomben überfallen, in Emmendingen schlug man mich nach einer Lesung im Rahmen einer Antifa Woche mit Schlagstöcken zusammen. Sie waren organisiert, ich lag viele Stunden auf der Straße mit meinen Verletzungen, meine Leser:innen waren weg, meine Freund:innen hatten das Weite gesucht. Nach vielen Stunden fand man mich. Ich lag mehrere Wochen mit Rippenbrüchen reglos in Teningen bei meiner Freundin Ursula, sie pflegte mich und konnte doch nichts unternehmen, es dem Mob heimzuzahlen.

Ich war Stadtschreiberin zu dem Zeitpunkt, mir wurde nahegelegt, die Sache nicht öffentlich werden zu lassen. Aber ich konnte und wollte nicht mehr halten, der Damm war gebrochen, die Fluten überrollten alles, was sich mir in den Weg stellte, sogar mich selbst. Ich hatte die Wut entdeckt. Schreiben wurde damit für mich zum Widerstand. Schreiben wurde zu einem Schrei, einem Schrei aus einer Finsternis an die Menschen da draußen. Schreiben, um zu überleben. Schreiben, um nicht zu ersticken.

Auch er schrieb weiter, appellierte unermüdlich an unsere Vernunft, strahlte seine Strahlen aus dem Leuchtturm in die ganze Welt. Und darum zündeten sie 1993 das Hotel in Sivas an, um den Leuchtturm für immer zu Asche zu machen, seinen Stift zum Schweigen zu bringen. „Sivas wird zum Grab für Aziz Nesin!“ schrie der Mob. Fünfzehntausend von ihnen. Wildgeworden, fanatisiert, dämonisiert, gewaltbeladen, mordlüstern. Das Hotel brannte, Menschen brannten. Die Welt schaute zu. Ich habe Menschen in Deutschland brennen gesehen. Ich habe Menschen in der Türkei brennen gesehen. Vergessen kann ich nichts. Ich habe noch immer die Kraft zu schreiben. Das einzige, was mir blieb. Immer, wenn ich ein neues Buch zu schreiben beginne, höre ich ihn über meiner linken Schulter flüstern: „Recht so Steppensturm, vorwärts!“

Auch in den drauffolgenden Jahren nach dem Massaker in Sivas schrieben wir uns in Hunderten von Briefen unermüdlich. Ich kam innerlich nicht zur Ruhe. Ich schrieb ihm, dass meine Verzweiflung, meine Zweifel über die Menschheit nicht die Vorgeburtswehen seien, das sei viel tiefer. Er sprach mir ins Gewissen, ich müsse zur Vernunft kommen, anstatt mich in Depressionen und Trauer zu zermartern, aufstehen und kämpfen solle ich. Ich entgegnete, „Mein Marathon ist zu Ende, ich habe keine Kraft mehr in den Beinen“. Er antwortete, „du brauchst eine Tracht Prügel“. Ich war wütend auf ihn und brach den Kontakt ab. Kaum eine Woche verging ohne das ein Paket aus Istanbul in meiner erstickenden Zelle eintraf. Bücher, Bücher, Bücher. Seine Bücher, mit langen mich tröstenden Widmungen, aber auch mit Lob und Tadel. Und seiner Sehnsucht?

„Meine oliväugige Schöne, was suchst du in der fernen Fremde?“

„Das ist ein Lied,“ schrieb er, „es ist morgens halb fünf, tagsüber habe ich keine ruhige Minute, eingewickelt in Wolldecken, schreibe ich dir, mein Teekessel dampft, es ist kalt, das kleine Radio läuft, das Lied höre ich das erste mal.“

Schwarzweiß-Fotografie von Saliha Scheinhardt und Aziz Nesin
Saliha Scheinhardt und Aziz Nesin

Von Abschied und Flügeln

Wenige Wochen nach dem er von uns gegangen war, traf bei mir Post aus Istanbul ein. Es waren zwei schwere Kartons. Dass sie unterwegs waren, wusste ich. Man hatte sie vorher bei mir angekündigt. Die Kartons lagen zwanzig Jahre in einem Keller. So rochen sie auch. Ich versuche jetzt fast dreißig Jahre danach mich an den Augenblick zu erinnern, was ich gefühlt haben könnte, während ich die Kartons öffnete. Glück? Freude? Nein. Es gelingt mir nicht den Augenblick des Schocks zu beschreiben. Es waren unsere Briefe! In zwei dicken Aktenordnern nach Daten geordnet, Briefe, die Kopien seiner Briefe unter dem Kohlepapier, vergilbt, durchlöchert durch die Tasten der alten Schreibmaschine, ein dickes Heft in arabischer Handschrift, wohl seine Notizen über mich, eine vertrocknete Blume in einer Serviette eingewickelt, Eintrittskarten für Theatervorstellungen, die wir zusammen besucht hatten, Rechnungen von Restaurantbesuchen, diverse andere Andenken aus unseren gemeinsamen Zeiten in Istanbul und in Deutschland. Wie nur war es möglich?

Das, was vor mir lag, war unser beider Lebensgeschichten, ein unbezahlbarer Schatz. Wieder er, der Meister. Hatte er zwei Jahrzehnte lang unsere Briefe und all das geordnet in diesen vermoderten, vergilbten Kartons für mich mit einem Abschiedsbrief aufbewahrt? Der Abschiedsbrief stammte aus der Zeit seines ersten Herzinfarkts. Er erholte sich gut davon. Auch den Brandanschlag in Sivas überlebte er. Er schrieb, er reiste durch die Welt, sprach zu den Menschen, atemlos, er verliebte sich sogar, noch einmal.  Ich selbst hatte in meinem Chaos jener Jahre nichts außer meine Erinnerungen. Was machte ich nun mit dieser Lawine? Ich las sie, wieder und wieder. Ich erlebte erneut all die Jahre so nackt und lebendig mit all dem Schmerz. Alles kehrte zu mir zurück, überrollte und erstickte mich wie ein Fluch. Meine Scheidung, der Verlust meines geliebten Kindes, die Jahre der materiellen Not, der Einsamkeit, der inneren Zerrissenheit, Ausweglosigkeit, Versagen, Trauer, Trauer, Trauer. Schließlich die Psychiatrie, dort der großer Knall, wonach ich begann, zu schreiben. Die Erlösung? Vielleicht. Jedenfalls ging es danach in meinem Leben schwindelerregend aufwärts. Wollte er es so? Wollte er, dass ich nichts von dem vergaß, was war, meine eigene Vergangenheit als Damokles Schwert über mir wie für die Ewigkeit schwebte?

Mein Inneres weinte um mich, weinte um ihn, bedauerte die Dinge, die wir nicht haben verwirklichen können. Schließlich beschloss ich eine Auswahl aus unseren Briefen zu treffen und den kostbaren Schatz von unsagbarem Wert, von Worten, Ereignissen, Gefühlen, politischen, kulturellen, persönlichen Auseinandersetzungen in einem Buch anderen Menschen zugänglich zu machen. Ihn kannte die ganze Welt, achtete, liebte, verehrte ihn. Ganze Generationen wuchsen mit seinen Büchern auf. Beharrlich streng war er, und kompromisslos in seinem aufrechten Gang, für alle, am meisten für seine Feinde. Ich wusste, dass sich ein Polizist, der ihm bei einer seiner Verhaftungen die Ketten legte, schluchzend entschuldigte, er sei verflucht, dass er dem Mann die Ketten anlegen müsse, mit dessen Büchern er zum Mensch geworden war. Auch ein Staatsanwalt bat ihn um Vergebung, für seine Beschuldigungen im Namen des Staates, und wie viele Richter bereuten ihr Urteil, wenn sie ihn ins Gefängnis steckten, wohl wissend, dass sie im Unrecht waren.

Manche von uns haben materielle Reichtümer angehäuft in einem langen Leben in der „Fremde“. Andere haben Bildung und Ruhm geerntet, vielleicht auch ein kleines bisschen Glück. Ich aber habe einen Freund bekommen. Wäre er noch am Leben, flöge ich auf den Flügeln eines Kranichs zu ihm, gleich.

 

Bodrum/Türkei, 1.8.2021

Schwarz-Weiß-Fotografie von Saliha Scheinhardt

Dr. Saliha Scheinhardt wurde in der zentralanatolischen Provinzhauptstadt Konya als Tochter einer Arbeiterfamilie geboren. Sie emigrierte 1967 in die BRD. Nach ihrem Lehramtsstudium arbeitete sie einige Jahre als Hauptschullehrerin, bis sie 1979 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der PH Neuss wurde und schließlich 1985 mit einer Arbeit zum Thema Islam in der Diaspora promovierte. Sie lehrte an verschiedenen Universitäten, hat zahlreiche Bücher und Erzählungen in deutscher Sprache verfasst und dafür mehrere Auszeichnungen erhalten. Schon in jungen Jahren begann ihr engagierter Einsatz für ein selbstbestimmtes und autonomes Leben in Freiheit. Sie erhob stets ihre Stimme für ein würdevolles und gerechtes Leben und gegen jegliche Form von Ungerechtigkeit. 1985 bekam sie den hochdotierten Literaturpreis der Stadt Offenbach für ihre erste Trilogie über Frauen und wurde damit die erste ausländische Stadtschreiberin Deutschlands. 1993 erhielt sie den Alfred-Müller Felsenburg Preis "Für Aufrechte Literatur" sowie 1995 die Friedens-Silbermedaille der Stadt Seligenstadt. Ihr Buch Frauen, die sterben, ohne dass sie gelebt hätten bildete die Grundlage für den viel beachteten und prämierten Film Abschied vom falschen Paradies (Sahte Cennete Veda) von Tevfik Başer. Zuletzt wurde eine Auswahl von Briefen aus ihrer langjährige Brieffreundschaft mit dem türkischen Satiriker und Autoren Aziz Nesin in türkischer Ausgabe veröffentlicht.