Ein Terroranschlag folgt dem anderen. Die Ereignisse legen sich im Denken und Nachdenken übereinander, die Erinnerung denkt sie zusammen. Alle Vorgänge gehören dokumentiert und bewahrt, unabhängig davon, ob sie zeitgleich oder nacheinander stattfanden oder schon lange zurückliegen. Anlässlich des zweiten Jahrestags des Anschlags in Halle vom 9. Oktober 2019 beschreibt Esther Dischereit die Bedeutung von einem solidarischen, kollektiven Gedächtnis der Vielen.
Vor kurzem schrieb ich einen Beitrag für das von Onur Nobrega, Matthias Quent, Jonas Zipf herausgegebene Buch Rassismus. Macht. Vergessen. Von München über den NSU bis Hanau. Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors. Erscheinungsdatum: zum 4. November, jenem Datum, zu dem zehn Jahre zuvor die Mordserie an neun Menschen aus Einwandererfamilien und einer Polizistin, Bombenanschläge und weitere Verbrechen, verübt durch das Terror-Netzwerk NSU, durch Selbstbekenntnis offenbar geworden war.
Ich konzentrierte mich auf das Attentat auf die Synagogenbesucher*innen von Halle und auf den Kiez-Döner unter dem Titel: Yom Kippur, Tekiez Halle und der Freundeskreis Mölln / Bündnisse und Verbundenheit. Zwei Mordopfer, Jana L. und Kevin S., sind zu beklagen, 66 Menschen hatten den Mordversuch überlebt. Wenige Stunden vor Drucklegung rief die Lektorin und Korrektorin an. Sie hatte die Druckvorbereitungen unterbrechen lassen. Denn in meinem Essay stand, dass das Attentat von Halle am 19. Oktober stattgefunden habe.
Auch über den Gedenktag hatte ich geschrieben: „Ein Mädchen und eine Frau sind angekommen. Es ist der 19. Oktober 2020, der erste Jahrestag nach dem Anschlag des Attentäters von Halle auf die Synagoge, den Kiez-Döner. ...“ Kurze Zeit später wiederholte ich die gleiche Fehlleistung in einem anderen Text. Die Tat hatte am 9. Oktober 2019 stattgefunden. Ich war bestürzt. Eine Korrektur war noch möglich.
Ist es das, was „eben passiert“ oder handelt es sich um etwas anderes? Unmittelbar nach dem Anschlag in Halle hatte ich meine Kinder angerufen, wollte wissen, wo sie genau seien und ob es ihnen gut ginge. Ich war wie viele jüdische Menschen in Deutschland außerordentlich beunruhigt. Danach nahm ich Kontakt auf zu Menschen, die überlebt hatten und die ich erreichen konnte, um mitzuhelfen, juristische und weitere Hilfestellungen zu organisieren.
Ich verfolgte also ihr Schicksal aus der Nähe, später wurde ich Prozeßbeobachterin des Verfahrens gegen den Attentäter, das in Magdeburg geführt wurde. Nur wenige Monate nach dem Attentat von Halle ereignete sich der rassistische und antiziganistische Anschlag in Hanau, bei dem neun Menschen starben und die Mutter des Täters:
Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu. Diese Morde fanden am 19.2.2020 statt. Tage danach stand ich zusammen mit einer Gruppe von verdi-Gewerkschaftsmitgliedern auf dem Marktplatz von Hanau, wir gingen herum, die meisten Leute aus der Gruppe stammten selbst aus Einwandererfamilien und arbeiteten in Berufszweigen, die gesellschaftlich nicht hoch angesehen sind, obwohl ohne sie – und das wissen alle – nichts laufen würde. Wir gingen erschüttert und bewegt auseinander.
Ich betone das, weil der Mord in Hanau wie auch die NSU-Morde nicht nur von eliminatorischem Rassismus zeugen, sondern auch davon, dass hier auf eine bestimme soziale Klasse, auf die als Ärmere oder als Arme der Gesellschaft Bezeichneten gezielt wurde.
Als ich später über diese beiden Ereignisse schrieb, schienen sie mir im Kopf wie amalgamiert; die Erinnerung an die einen überlagerte sich mit den Daten der anderen. Offenbar legten sich die Ereignisse im Denken und Nachdenken darüber übereinander, die Erinnerung dachte sie zusammen. Das Gedächtnis schien sich unabhängig von mir selbst einen Platz gesucht zu haben, wo diese beiden Ereignisse nicht voneinander zu trennen waren.
Sie wurden buchstäblich und im Wortsinn in eine Gewichtigkeit platziert, sodass die Unterschiedlichkeit des zeitlichen Geschehens nicht mehr das Wesentliche zu sein schien. Diese Überformungen finden auch in anderer Hinsicht statt: Eine Abordnung der Überlebenden und Angehörigen aus Hanau nahm an der Unteilbar-Demonstration am 4.9.2021 in Berlin teil. Sie trugen, während sie auf der Abschlußbühne standen und sprachen, T-Shirts, auf deren Rücken stand der Text: Say Their Names.
Im Jahr 2020 entwickelten Arolsen Archives, Internationales Zentrum über NS-Verfolgung, eine Kampagne: Every Name Counts, mit der das Zentrum die Digitalisierung voranbringen will, sodass die in den Akten niedergeschriebenen Namen der Opfer der Shoa – von Tätern angelegte Akten – erfasst werden und bewahrt werden können. Lass niemanden fort, vergesst niemanden, es müssen unbedingt alle Menschen genannt sein … das ist eine fortdauernde Arbeit am Gedächtnis. Eine Arbeit, die kein endliches Ergebnis haben kann.
Menschen starben wegen ihrer religiösen oder „rassischen“ Zuordnung, wegen ihrer sexuellen Orientierung, als politische Menschen, als sog. „Asoziale“. Das Morden von Hanau und der Genozid an den jüdischen Menschen Europas, den Sinti und Roma und anderen Gruppen als Bestandteil des Staatshandelns, als Wesensmerkmal der nationalsozialistischen Diktatur, die Umstände, die Strukturen, die Zeiten, das Ausmaß der Taten gleichen sich nicht. Und doch erinnerte mich Say Their Names an #everynamecounts.
Auch die Gruppe Journalist*innen, die beharrlich daran arbeiten, die Liste derer zu vervollständigen, die infolge rechtsextremer und rassistischer Gewalt ums Leben gekommen sind, Heike Kleffner, Frank Jansen, Paul Blickle, Johannes Radke, Julian Stahnke, Toralf Staud und Sasha Venohr, – sie beschrieben 187 Fälle bis 2020 – wohingegen die Bundesregierung knapp die Hälfte der Fälle bezeugen wollte – auch diese Journalist*innen arbeiten am Gedächtnis. Zahlreiche Initiativen schließen sich dieser Suche an, z.B. Initiative Duisburg 1984. An weiteren Orten bilden sich Gruppen, die nach Namen, Orten, der Wahrheit des Geschehenen suchen.
In diesen Bewegungen gegen Rassismus in der Gesellschaft, gegen das Schweigen und Verschweigen, sind es die Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft, die gegen das Verschütten und Zuschütten aktiv werden; die das Einebnen oder Unkenntlichmachen von ehemaligen Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern nicht dulden wollten, sodass Gedenkstätten an zahlreichen Orten entstanden und sie sind es, die sich weiter um diese Stätten kümmern; in diesen Bewegungen entsteht das kollektive Gedächtnis der Vielen.
Namen sind da, damit sie gesprochen und gewusst werden. Die Erinnerung ist da um ihrer selbst willen. In der jüdischen Geschichte kommt diesem Erinnern, Erinnern um des Erinnerns willen, eine wichtige Rolle zu. Zeugnis geben, das Memorbuch im Stetl führen – Botschaften an wen? An mankind? Bücher wurden geführt, Zeugnisse und Tagebücher wurden vergraben und wieder ausgegraben: Zeugnis ablegen über das, was ist und das, was war.
Schon merken wir, dass die Namen derer, die nach 1990 Opfer rechter, rassistischer, antisemitischer oder antiziganistischer Gewalt wurden, so viele werden, dass wir dieses Diktum des Aussprechens nicht mehr erfüllen können.
#SayHerName, Black Women and Girls Matter, wurde 2014 von dem African American Policy Forum (AAPF) gegründet und ist verbunden mit der Black Lives Matter-Bewegung. The National Memorial for Peace and Justice bewahrt seit 1989 die Geschichte von 4.400 African-American Menschen auf, die bis zum Jahr 1950 den Tod durch Weiße Mörderhand erlitten.
Diese Arbeit am Gedächtnis findet statt, gleichgültig, ob sie zu etwas führt oder zu etwas führen kann. Mit Jom ha-Shoa wurde ein Tag zum Mahnmal. Einmal beteiligte ich mich an einer Initiative einer jüdischen Jugendorganisation: Lesen aus dem Gedenkbuch Berlins. Wir lasen die Namen der hier verzeichneten jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, auf dem Wittenbergplatz im westlichen Zentrum Berlins: um uns herum fuhren Autos und Busse wie gewöhnlich, sodass die Namen im Lärm unterzugehen drohten.
Passanten, die Einkaufenden. Wahrscheinlich lasen wir zwei Tage und Nächte lang. Wir lasen unbeirrt, jeder und jede einige Namen, mit Adresse, Beruf, wenn bekannt. Wir sprachen die Namen und sprachen sie, weil Namen dazu da sind, gesprochen und gewusst zu werden. Es bedurfte keiner anderen Sinngebung.
Auch die Arbeit des Sammelns, Aufsammelns und Bewahrens von Zeugnissen, wie in dem Buch Hab keine Angst, erzähl alles, Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden (Hg., d. Verf.) geschah in diesem Sinne aus Prinzip: etwas Festhalten, Dokumentieren. Oder wie Peter Chametzky, Professor of Art History an der University of South Carolina, auf Facebook kommentierte: „Yes. Genau. Keep writing, keep remembering. Das ist unsere Pflicht.“
Die Individuen erinnern sich als Mitglieder der Gruppe. Es ist unübersehbar, dass es nicht dieselben Erinnerungen sind, die für jeden am deutlichsten erscheinen. Wenn wir diesen Erinnerungen zuhören, beginnen sie Teil eines kollektiven Gedächtnisses zu werden, es entsteht eine Masse gemeinsamer, sich aufeinander stützender Erinnerungen. Die Folge der Erinnerungen erkläre sich aus den Veränderungen, „die in unseren Beziehungen zu verschiedenen kollektiven Milieus entstehen, das heißt letztlich aus den Veränderungen jedes einzelnen dieser Milieus und ihrer Gesamtheit“, schreibt Maurice Halbwachs in: Kollektives und individuelles Gedächtnis. Das kollektive Gedächtnis, 1991. Halbwachs verweist auf die Erinnerung als Auswirkung mehrerer Folgen ineinander verflochtener Denkweisen.
Dieser Vorgang schlägt sich in der politischen Praxis nieder in der Entstehung von Allianzen, die diese Verflechtung miteinander demonstrativ und symbolisch zeigen wollen. Der „Kasseler Demokratie-Impuls, Rechtsextremismus erkennen und bekämpfen, für eine freiheitliche und streitbare Gesellschaft“ zeichnet 2021 die Podcast-Arbeit von Jana Simon aus, mit der sie die Polizisten Mario Melzer und Thomas Matczak aus Thüringen würdigt, die die Anfänge des terroristischen NSU miterlebten und die die Täter frühzeitig aus dem Verkehr ziehen wollten, deren Behörde dem entgegenstehende Anweisungen erteilte und die im Thüringer und Bundestags-Untersuchungsausschuss, ihrem Gewissen folgend, aussagten.
Dies geschieht, während Teile des Verfahrens wegen Mordes an dem Kasseler Politiker Walter Lübcke als rechtsextremistische Tat vom Generalbundesanwalt überprüft werden; ein Verfahren, das teils zeitgleich stattfand, während in Magdeburg das Gerichtsverfahren gegen den Attentäter von Halle geführt wurde. Bewohner*innen aus Jena Winzerla luden die Familie Şimşek ein, um in deren Anwesenheit einen Platz nach dem durch den NSU getöteten Enver Şimşek zu benennen, eine posthume Würdigung.
Alle diese Vorgänge gehören dokumentiert und bewahrt, unabhängig davon, ob sie zeitgleich oder nacheinander stattfanden oder schon lange zurückliegen wie der Fall des ermordeten Samuel Yeboah am 19. September 1991 in Saarlouis.
Ihr Tod war gemein, hinterhältig und sinnlos. So wie sie sind, gute und schlechte, ärmere und weniger arme, große und kleine, gläubige und ungläubige, in dieser Gewöhnlichkeit und in ihrer gleichzeitigen Einzigartigkeit als Individuum sind sie vollkommen und wir können ihrer gedenken.
Die antirassistische Bewegung der Diversität, der Vielen, möchte dem gerecht werden. Sie muss sich dabei mit den Überlebenden, Freunden, Angehörigen verbinden, den Raum achtend, den diese für sich benötigen. Manche wollen sprechen, andere nicht. Es ist ihre Trauer, es sind ihre Lieben, die ermordet wurden. Wir können nichts weiter tun, als da sein. Da sein. Uns daneben stellen. Das ist gut. Möglicherweise müssen wir beginnen ein Gedenkbuch der ermordeten Menschen seit 1990 zu führen, es kann auch sein, dass ein musealer Ort geschaffen werden muss, um ihre Geschichte zu erzählen und zu bewahren.
Wenn sich das Datum des 9. Oktober nähert, wenn wir an den Anschlag auf die Synagoge, den Kiez-Döner und weitere Orte von Halle denken, wenn wir an die Opfer denken, so ist es für die, die nicht unmittelbar betroffen waren, die davon hörten oder lasen, ein Geschehen, an das sie sich erinnern dürfen. Die, die dabei waren, müssen sich erinnern.